Pflichti III: Rückwirkende Bestellung beim Verletzten, oder: Zulässig, fiskalische Interessen ohne Belang

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Und im dritten Posting dann eine Entscheidung zu den Beiordnungsvoraussetzungen und zur rückwirkende Bestellung beim Verletztenbeistand. Nicht direkt Pflichtverteidiger, aber passt.

Dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.09.2024 – 12 Qs 34/24 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde:  Eine Zeugin hatte in einer polizeilichen Aussage angegeben, bei ihr sei wegen eines Streits, den sie am 10.12.2023 mit ihrem Verlobten gehabt habe, eine Polizeistreife erschienen. Als sie mit den zwei männlichen Polizeibeamten, den Beschuldigten, allein im Zimmer gewesen sei, hätten diese sie aufgefordert, sich zu entkleiden und sie körperlich abgetastet. Dabei hätten sie ihr an die Brust gegriffen und die Finger – angeblich zu Durchsuchungszwecken – in ihre Vagina eingeführt. Anschließend, am selben Tag, wurde die Zeugin im Hinblick auf ein mögliches Sexualdelikt ärztlich untersucht.

Am 19.12.2023 wurde den beiden Beschuldigten durch Beamte des LKA mitgeteilt, dass gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Nötigung zum Nachteil der Zeugin eröffnet worden sei. Die Beschuldigten machten keine förmliche Aussage zur Sache; einer von ihnen stritt – aktenkundig – den Vorwurf gegenüber einer LKA-Beamtin ab.

Am 08.01.2024 zeigte sich der Rechtsanwalt für die Zeugin an, beantragte Akteneinsicht und seine Beiordnung als Opferanwalt gem. § 406h Abs. 1, 3 mit § 397a Abs. 1 Nr. 1, 4 StPO. Am 17.01.2024 wies ein Sachbearbeiter des LKA vor einer weiteren angesetztem Vernehmung der Zeugin den Rechtsanwalt auf Widersprüche in deren bisheriger Aussage hin, woraufhin letzterer mitteilte, die Zeugin werde sich künftig vollumfänglich auf das Aussageverweigerungsrecht gem. § 55 StPO berufen und sich gegebenenfalls erst nach Akteneinsicht durch den Anwalt einlassen. Die Zeugin sagte daraufhin und seitdem nicht mehr aus. Unter dem 26.03.2024 stellte die Kriminalpolizei ihren Schlussbericht fertig und legte die Akte der Staatsanwaltschaft vor.

Am 15.6.2024 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen falscher Verdächtigung gegen die Zeugin. Das Ermittlungsverfahren gegen die beiden Polizeibeamten wurde mit Verfügung vom 19.07.2024 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft bestand der Rechtsanwalt auf der Verbescheidung seines Beiordnungsantrags. Am 08.08.2024 bestellte ihn die Ermittlungsrichterin des AG rückwirkend zum 09.01.2024 als Beistand der Zeugin. Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Das AG habe übersehen, dass die Zeugin bereits bei Antragstellung vom 08.01.2024 das Aussageverweigerungsrecht gehabt habe. Zudem habe die Zeugin bei ihrer Anzeigeerstattung gelogen und es sei zweifelhaft, ob sie überhaupt als Verletzte i.S.d. § 406h StPO gelten könne. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg:

„Rechtsanwalt Dr. pp. war als Beistand zu bestellen, wie das Amtsgericht zutreffend entschieden hat.

a) Nach § 406h Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 StPO ist dem Verletzten einer Katalogtat auf dessen Antrag hin schon im Ermittlungsverfahren ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. Streitig ist allerdings, unter welchen näheren Voraussetzungen die Beiordnung erfolgen kann – dies betrifft sowohl den erforderlichen Verdachtsgrad (aa), als auch den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (bb).

aa) Nach einer Auffassung hat die Bestellung bereits dann zu erfolgen, wenn auch nur die geringe Möglichkeit bzw. ein einfacher Anfangsverdacht besteht, dass der Beschuldigte ein Delikt im Sinne von § 397a Abs. 1 StPO begangen hat und seine Verurteilung deswegen in Betracht kommt bzw. die Verurteilung wegen einer Nebenklagestraftat rechtlich möglich erscheint. Die Beiordnung scheidet nur dann aus, wenn bereits nach der Darstellung des Nebenklägers seine unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung ausscheidet oder die Wahrnehmung des Rechts der Beistandsbestellung rechtsmissbräuchlich ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2021 – III-4 Ws 35/21, juris Rn. 13; OLG Celle, Beschluss vom 14.12.2016 – 2 Ws 267/16, juris Rn. 10; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 406h Rn. 2; BeckOK-StPO/Weiner, 52. Ed. 01.07.2024, § 406h Rn. 1).

Eine striktere Auffassung verlangt demgegenüber einen qualifizierten Anfangsverdacht hinsichtlich einer Katalogtat aus § 397a Abs. 1 StPO, der jedenfalls eine Weiterführung der Ermittlungen gestattet und aufgrund dessen jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass der für eine spätere Anklageerhebung notwendige hinreichende Tatverdacht noch begründet werden kann (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 41 ff.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 25.02.2009 – 1 Ws 120/09, juris Rn. 5; LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 29).

bb) Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der Voraussetzungen der Beiordnung wird einerseits auf den Zeitpunkt der Antragstellung (KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 29), andererseits auf den Zeitpunkt der Beiordnungsentscheidung abgestellt, sodass die dynamische Entwicklung des Ermittlungsstandes berücksichtigt werden könne (OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 43 ff.; Nachweise zum Streitstand bei OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739 unter II.2 der Gründe).

b) Die Besonderheit hier liegt darin, dass der Beiordnungsantrag bereits am 08.01.2024 zur Akte bei der Staatsanwaltschaft, aber – entgegen Nr. 174b Satz 1 RiStBV – erst am 07.08.2024 zur Ermittlungsrichterin (vgl. § 406h Abs. 3 Satz 2, § 162 StPO) gelangt ist. Für diese Konstellation entspricht es allgemeiner Auffassung, dass die Beiordnung ausnahmsweise dann rückwirkend bewilligt werden kann, wenn der Antrag während des Verfahrens gestellt, aber nicht beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Beiordnung Erforderliche getan hat (BGH, Beschluss vom 29.07.2022 – 5 StR 141/22, juris Rn. 6; OLG Köln, Beschluss vom 01.10.1999 – 2 Ws 528/99, juris Rn. 23; KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 379a Rn. 15 m.w.N.). Dies bedingt, dass es für die Beurteilung der Beiordnung auf den Zeitpunkt der Einreichung des Beiordnungsantrag ankommen muss. Andernfalls würde sich die Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung wegen zwischenzeitlich eingetretener tatsächlicher Änderungen ggf. zum Nachteil des Antragstellers auswirken können.

Einer Entscheidung darüber, welcher Verdachtsgrad gegen die Beschuldigten anzulegen war, bedurfte es dagegen nicht. Vorrangig ist nämlich zu beachten, dass die Nebenklagebefugnis wegen des Fehlens des Tatverdachts – wie immer man ihn näherhin festlegt – grundsätzlich nicht durch das Gericht verneint werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft zur selben Zeit das Verfahren gerade wegen des Verdachts eines Nebenklagedelikts zum Nachteil des Verletzten betreibt (LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 11; vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739 unter II.2 der Gründe), wie hier geschehen. Das folgt daraus, dass das im laufenden Ermittlungsverfahren angegangene Gericht lediglich eine Momentaufnahme der Ermittlungsergebnisse präsentiert bekommt und nicht überschauen kann, welche weiteren Ermittlungsschritte die Staatsanwaltschaft oder die Polizei zur weiteren Sachverhaltsaufklärung einleiten werden oder wollen. Zudem hat die die Ermittlungen verantwortende Staatsanwaltschaft einen Beurteilungsspielraum, der ihr bei der Subsumtion und Beurteilung des Sachverhalts einen gewissen Freiraum lässt, die Entscheidung eigenverantwortlich auf der Basis der persönlichen kriminalistisch-forensischen Erfahrungen und subjektiven Bewertungen des befassten Dezernenten zu treffen. Nimmt dieser nach alldem einen die (Fort)Führung des Ermittlungsverfahrens tragenden Verdacht an, so ist das vom Gericht hinzunehmen, solange es noch vertretbar ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 27.05.2022 – 12 Qs 24/22, juris Rn. 22 m.w.N.). Verneint werden kann der Tatverdacht in gegebener Konstellation dann, wenn die Staatsanwaltschaft bei Antragstellung ohnehin im Begriff war, das Verfahren durch eine Einstellung zu beenden. So lagen die Dinge hier aber nicht. Die Verfahrenseinstellung erfolgte am 19.07.2024, mithin ein halbes Jahr nach Antragstellung vom 08.01.2024. Die Fortführung des Ermittlungsverfahrens war zum letztgenannten Zeitpunkt nicht aussichtslos: Der polizeiliche Schlussbericht wurde erst am 26.03.2024 vorgelegt, die Stellungnahme des Verteidigers eines der beiden Beschuldigten datiert vom 21.05.2024. Damit war bei Antragstellung der durch die – nicht in allen Teilen konsistente – Aussage der Zeugin nach Auffassung der Staatsanwaltschaft vertretbar begründete Verdacht noch nicht ausgeräumt, sondern bestand fort; andernfalls hätte sie das Ermittlungsverfahren früher eingestellt oder jedenfalls einstellen müssen.

c) Die mittlerweile erfolgte Einstellung des Ermittlungserfahrens gegen die Beschuldigten hindert die rückwirkende Beiordnung nicht (vgl. KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739).

d) Fiskalische Erwägungen (in diese Richtung deutlich OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 42) rechtfertigen kein anderes Ergebnis, allein schon, weil mit § 469 StPO, Nr. 92 RiStBV ein hinreichendes Korrektiv an anderer Stelle bereitsteht. Aus diesem Grund ist keine Notwendigkeit gegeben, den vom Gesetzgeber weit gedachten Kreis der möglichen Verletzten enger zu ziehen (vgl. BT-Drs. 10/5305, S. 20: „Ob die Voraussetzungen eines Anschlusses nach § 395 vorliegen, bestimmt sich im Ermittlungsverfahren danach, ob der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2) eines zum Anschluss berechtigenden Delikts gegeben ist.“; a.A. OLG Hamburg, aaO., Rn. 31-33). Im Übrigen hat der Gesetzgeber gesehen, dass die Stärkung der Verletztenrechte eine Kostenmehrbelastung zeitigen wird. Diese muss nach seiner Wertung aber „wegen der dringenden rechtspolitischen Notwendigkeit, die Stellung des Opfers im Strafverfahren zu verbessern, in Kauf genommen werden“ (BT-Drs. 10/5305, S. 9).

Ebenso wenig trägt das Argument der Beschwerde, die Zeugin habe bereits bei Antragstellung ein Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO gehabt und es könne nicht darauf ankommen, wann sie es ausübe, weil sie es ansonsten in der Hand hätte, die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verletztenbeistands zu schaffen. Letzteres jedenfalls trifft zu, allerdings folgt daraus nichts, insbesondere begründet die Verletzteneigenschaft keinen Aussagezwang. Die Berufung auf den § 55 StPO erfolgte hier lediglich als Reaktion darauf, dass Polizeibeamte den Verteidiger auf Widersprüche in der bisherigen Aussage der Zeugin hinwiesen. Sie kann also auch nicht als Argument für einen Rechtsmissbrauch herangezogen werden.“

Ich stelle die Entscheidung nicht wegen der verfahrensrechtlichen Fragen betreffend den Verletztenbeistand/Opferanwalt vor; dazu verweise ich auf <<Werbemodus an>> Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl., 2025, Rn 4930 ff.<<Werbemodus aus. Vorgestellt wird sie wegen der Ausführungen des LG zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Verletztenbeistands, die – soweit ersichtlich – unbestritten ist und sich damit von Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger, die in der Rechtsprechung im Streit ist, erheblich und wohltuende unterscheidet. Der Rechtsanwalt, der als Verletztenbeistand tätig ist, muss diesen Unterschied im Auge behalten, denn die rückwirkende Bestellung führt dazu, dass seine Tätigkeit aus der Landeskasse zu vergüten ist (zum Vergütungsanspruch des Verletztenbeistandes Burhoff RVGreport 2016, 82). Besonders zu begrüßen ist der Hinweis des LG, dass fiskalische Erwägungen nach Ansicht des LG kein anderes Ergebnis rechtfertigen. Denn die spielen in der Diskussion um die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers bei denjenigen, die die Zulässigkeit verneinen, eine Rolle. Das gilt um so mehr, wenn die verspätete Entscheidung über den rechtzeitig gestellten Antrag eindeutig in der Sphäre der Justiz liegt. Denn es erschließt sich nicht, warum ein am 08.01.2024 bei der Staatsanwaltschaft gestellter – zeitnah zu bescheidender – Antrag erst am 07.08.2024 bei der Ermittlungsrichterin eingeht. Das ist sicherlich nicht, wie von Nr. 174b Satz 1 RiStBV gefordert, eine unverzügliche Weiterleitung an das zuständige Gericht. Die „Arbeitsverweigerung“ darf man nicht noch dadurch honorieren, dass dem von der Verzögerung betroffenen Rechtsanwalt Ansprüche gegen die Landeskasse verwehrt werden.

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