StPO III: Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen, oder: Unverwertbar ==> kein dringender Tatverdacht

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Und dann zum Tagesschluss noch eine Entscheidung zur Verwertbarkeit von ANOM-Chatverläufen als Beweismittel. Ergangen ist der LG Fulda, Beschl. v. 18.04.2024 – 1 Kls 131 Js 194/23 – in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten umfangreiche Verstöße gegen das BtMG zur Last gelegten werden. Als Beweismittel stehen neben Zeugenaussagen der polizeilichen Ermittlungsbeamten nur die ANOM-Chatverläufe mit potentiellen Lieferanten zur Verfügung.

Gegen den Angeklagten wurde im Oktober 2023 Haftbefehl erlassen. Das LG hat den jetzt aufgehoben. Es verneint einen dringenden Tatverdacht. Nach seiner Auffassung sind die Chat-Verläufe nicht verwertbar:

„Nach derzeitigem Ermittlungsstand erscheint eine Verwertbarkeit der Anom-Chats als Beweismittel aber zweifelhaft.

….

2. Die Verwertbarkeit der aus der Auswertung des „ANOM“-Chatverkehrs gewonnenen Erkenntnisse werden derzeit von der Rechtsprechung uneinheitlich beurteilt (vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 2211.2021 — 1 HEs 427/21; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14.02.2022 — 1 HEs 509/21, 1 HEs 510/21, 1 HEs 511/21, 1 HEs 512/21, 1 HEs 513/21, 1 HEs 514/21 sowie OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.01.2024 — 3 Ws 353/23; a. A. OLG München, vom 19.10.2023 —1 Ws 525/23). Eine Entscheidung des BGH zur Frage der Verwertbarkeit von „ANOM“-Chats existiert noch nicht. Nach Auffassung der Kammer bestehen Zweifel hinsichtlich der Verwertbarkeit der „ANOM“-Chats.

Zwar sieht das deutsche Recht keine ausdrückliche Verwendungsbeschränkung für im Wege der Rechtshilfe aus dem europäischen Ausland erlangte Daten vor.

Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. u.a. Beschluss des BGH vom 02.03.2022, 5 StR 457/21) lässt aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt und verpflichtet die deutschen Gerichte nicht dazu, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland geführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Beweisverwertungsverbote greifen nur in Ausnahmefällen ein, etwa, wenn die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des „ordre public“ gewonnen wurden oder aber wenn die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente. Es muss also ein so schwerwiegender Mangel vorliegen, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist. Nur das kann ein deutsches Gericht prüfen und feststellen.

a) Der Drittstaat ist weder der Bundesregierung noch dem Bundeskriminalamt bekannt. Ebenso wenig bekannt ist der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaates Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatten. Diese behaupteten Beschlüsse existieren zwar nach Auskunft des FBI, sind bislang aber auch nur vom Hörensagen bekannt und können nicht überprüft werden. Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Beschuldigten erheblich beschränkt. Für einen Beschuldigten besteht bei dieser Sachlage in Ermangelung eines gerichtlichen Beschlusses keine Möglichkeit, den Beschluss zu überprüfen und sich gegen den Beschluss im beweiserhebenden Drittland gerichtlich zur Wehr zu setzen. Dem Beschuldigten ist in diesem Falle jegliche Prüfungs- und Rechtsmittelmöglichkeit hinsichtlich des Eingriffsbeschlusses des Drittlandes versagt. Dies verstößt möglicherweise gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK sowie den ordre public und würde bereits deswegen zu einem Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der aus der Maßnahme gewonnenen Daten führen (vgl. BeckOK StPO/Graf, 50. Ed. 1.1.2024, StPO § 100a Rn. 99d). Auch die Kammer ist aufgrund des derzeitigen Ermittlungsstandes, wie er sich aus den vorgelegten Akten darstellt, nicht in der Lage, die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze zu überprüfen, insbesondere ob eine Ausnahme vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung besteht.

b) Abschließend ist anzuführen, dass die Kammer nicht verkennt, dass das Strafverfahrensrecht keinen allgemein geltenden Grundsatz kennt, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Beschuldigten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde.

Vorliegend wird dem Angeschuldigten jegliche Möglichkeit genommen, die Rechtmäßigkeit der Informationsgewinnung in dem unbekannten Drittstaat zu überprüfen und ihm somit jegliche Möglichkeit, zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des auf diesen Informationen beruhenden Verfahrens genommen wird.

Die Bejahung der Verwertbarkeit der Anom-Chats führt im Ergebnis dazu, dass sich deutsche Gerichte allein auf die Behauptung des FBI — einer nicht zur EU gehörenden Polizei- und Geheimdienstbehörde — verlassen und auf jegliche richterliche Überprüfung der Richtigkeit dieser Angaben und der Rechtmäßigkeit der Verfahrensweise verzichten müssen.

Da die Verwertbarkeit der Anorn-Chats nach derzeitigem Verfahrensstand somit fraglich ist, kann hierauf kein dringender Tatverdacht gestützt werden.“

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