Die zweite Entscheidung kommt auch vom BayObLG. In ihr nimmt das BayObLG noch einmal zum Erfordernis einer Abwägung bei der Prüfung einer Meinungsäußerung unter dem Gesichtspunkt der Beleidigung Stellung.
AG und LG haben die Angeklagte wegen Beleidigung verurteilt. Die hatte sich in einer Email an den Geschädigten wie folgt geäußert:
„Eine bodenlose Unverschämtheit was sie da vom Stapel lassen! Ich bin überzeugt sie hätten Hitler damals auch großgemacht! Ich hoffe Ihre Praxis geht pleite! Was sie da betreiben ist höchst asozial und gefährlich für eine demokratische Gesellschaft! Dass sie sich nicht schämen! Pfui Deiwel“.
Dieser Email der Angeklagten vorausgegangen war ein Bericht über den Geschädigten in der Zeitung „Bild am Sonntag“ vom 01.08.2021 voraus, in dem dieser mitteilte, dass er als praktischer Arzt keine Impfverweigerer mehr behandele. Wer sich nicht (gegen Corona) impfen lassen wolle und seine Praxis betrete, gefährde sein Personal und seine Patienten. Weiter wird er dort wie folgt zitiert: „Die Impfung ist eine Bürgerpflicht. (…) Verweigerer sind unsolidarisch und feige. Sie schädigen andere gesundheitlich und wirtschaftlich.“
AG und LG haben die Angeklagte wegen Beleidigung (§ 185 StGB) verurteilt und das Vorliegen der Voraussetzungen des § 193 stGB verneint. Die dagegen eingelegte Revision hatte mit der Sachrüge mit dem BayObLG, Beschl. v. 15.05.2023 – 207 StRR 128/23 – Erfolg:
„1. In Fällen ehrenrühriger Werturteile wie vorliegend wird § 193 StGB letztlich von dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG konsumiert, an diesem ist die Meinungsäußerung im Ergebnis zu messen (vgl. Hilgendorf in. Leipziger Kommentar zum StGB (LK-StGB), 13. Aufl., § 193 Rdn. 4). Allerdings gewährleistet Art. 5 Abs. 2 GG auch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung nur in den Schranken der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die Strafgesetze gehören. Die Strafvorschrift des § 185 StGB muss somit im Licht der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden, sog. „Wechselwirkung“ (vgl. LK-StGB-Hilgendorf aaO § 193 Rdn. 4f. m. w. N.; BayObLG, Beschlüsse vom 19.07.1994, 2St RR 89/94, zitiert nach juris). Nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz ist eine umfassende und einzelfallbezogene Güter- und Pflichtenabwägung vorzunehmen (LK-StGB-Hilgendorf aaO § 193 Rdn. 6; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 193 Rdn. 9, je m. w. N.). Diese Abwägung ist eine reine Rechtsfrage, so dass sie bei ausreichender Tatsachengrundlage auch vom Revisionsgericht vorzunehmen ist (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 07.02.2014, 1 Ss 599/13, zitiert nach juris, Rdn. 21; OLG Celle, Urteil vom 27.03.2015, 31 Ss 9/15, zitiert nach juris, Rdn. 35; OLG München, Beschluss vom 31.05.2017, 5 OLG 13 Ss 81/17, zitiert nach juris, Rdn. 11).
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Die strafrechtliche Sanktionierung knüpft an diese dementsprechend in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallenden und als Werturteil zu qualifizierende Äußerungen an und greift damit in die Meinungsfreiheit des Äußernden ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 2397/19, NJW 2020, 2622ff., Rdn. 12 m. w. N.). Im Normalfall erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung für eine strafrechtliche Sanktionierung einer Aussage nach der Ermittlung des Sinns dieser Aussage eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, welche der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (BVerfG aaO Rdn. 15 m. w. N.). Es bedarf einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte (BVerfG, Beschluss vom 19.05. 2020, 1 BvR 2459/19, NJW 2020, 2629ff. Rdn. 18). Eine Abwägung ist nur in den Fällen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und dann entbehrlich, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde darstellt (BVerfG aaO Rdn. 17 m. w. N.). Von einem die Abwägung entbehrlich machenden Ausnahmetatbestand (Schmähkritik, Formalbeleidigung, Angriff auf die Menschenwürde) kann nur ausgegangen werden, wenn eine in den Urteilsgründen darzulegende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles ergibt, dass ein mit der inkriminierten Äußerung verfolgtes sachliches Anliegen entweder nicht existiert oder so vollständig in den Hintergrund tritt, dass sich die Äußerung in einer persönlichen Kränkung erschöpft, bzw. die verwendete Beschimpfung das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlässt und unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit legitimierbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 2397/19 aaO Rdn. 23). Auch insoweit gilt daher, dass sich die Strafbarkeit einer Äußerung nicht allein aus deren Wortlaut erschließt, sondern die Feststellung deren Anlasses und der näheren Umstände erfordert.
3. Da der Schutzumfang des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG von der näheren Qualifizierung des Sinngehalts einer Aussage (s. bereits oben) abhängt, muss sich für das Revisionsgericht aus den Feststellungen des Tatrichters auch dieser ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG Vorgaben abgeleitet, die schon im erforderlichen Ermittlungsvorgang gelten und damit rechtliche Maßstäbe für die tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung enthalten. Ihre Einhaltung zu überprüfen ist Teil der revisionsgerichtlichen Kontrolle. So verstößt eine strafgerichtliche Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 26.06.1990, 1 BvR 1165/89, zitiert nach juris). Dabei haben die Gerichte insbesondere ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten (siehe z.B. BVerfG, NJW-RR 2017, 1001, Rdn. 17). Maßstab der Sinnermittlung ist der Horizont eines verständigen Dritten (vgl. z. B. BayObLG, NJW 2005, 1291, Rdn. 21, m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerfG; Fischer aaO § 185 StGB Rdn. 8 m. w. N.).
4. Auf dieser Grundlage hat das Landgericht die erforderliche Abwägung rechtsfehlerhaft vorgenommen und die Reichweite des Art. 5 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verkannt.
Die inkriminierte Äußerung der Angeklagten ist – anders als das Landgericht meint – keineswegs zwingend als Schmähkritik auszulegen, bei der die Diffamierung des Geschädigten, die ihn in „eine Reihe mit Massenmördern, Rassisten und Antisemiten“ stellen würde, im Vordergrund steht. Vielmehr ist die vom Landgericht ohne Begründung als „fernliegend“ bezeichnete Auslegung der Äußerung, wonach sich diese auf Personen bezieht, die in den Jahren vor 1933 „Hitler groß gemacht“ haben, ohne selbst Nationalsozialisten zu sein, schon deshalb mindestens nicht auszuschließen, weil die Angeklagte im übernächsten Satz derselben Nachricht an den Geschädigten schrieb, was der Zeuge da betreibe, sei „höchst gefährlich für eine demokratische Gesellschaft“. Es gibt eine Vielzahl von Ursachen, die Hitler und die NSDAP in den Jahren vor der „Machtergreifung“ „groß gemacht“ haben, ohne dass den seinerzeitigen politischen Akteuren damit durchgehend unterstellt werden kann, sie hätten willentlich die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten befördert. In dieser letztgenannten Deutung wäre die Äußerung der Angeklagten offensichtlich vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt, weil sie sich unmittelbar auf die (von der Angeklagten als ungerechtfertigt und gesellschaftsspaltend empfundenen) Aussagen des Geschädigten beziehen, Impfverweigerer seien „unsolidarisch und feige“ und würden andere gesundheitlich und wirtschaftlich schädigen (vgl. auch LK-StGB-Hilgendorf aaO § 193 Rdn. 7 „reaktive Verknüpfung“).“