Und dann noch zum Schluss hier noch der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 24.05.2023 – 12 Qs 38/23. In ihm hat das LG zur (weiteren) Wirksamkeit einer nach § 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO erteilte Zustellungsvollmacht Stellung genommen.
Der einer Körperverletzung verdächtige Beschuldigte wurde am 01.02.2022 von der Polizei zur Sache vernommen. Weil er keine feste Wohnadresse im Inland angeben konnte, ordnete der zuständige Staatsanwalt an, der Beschuldigte solle einen Zustellungsbevollmächtigten benennen. Daraufhin unterschrieb der Beschuldigte ein Formular, in dem er dem Polizeibeamten POM S von der Polizeiinspektion F „unwiderruflich … Vollmacht zum Empfang sämtlicher gerichtlicher Mitteilungen, Zustellungen und Ladungen“ erteilte. Auf dem Formular finden sich oberhalb der Unterschrift des Beschuldigten die von ihm handgeschriebenen, durchgestrichenen Worte „unter Vorbehalt“. Am 02.02.2022 ging ein Fax des Beschuldigten bei der Polizeiinspektion F ein. Dieses bestand aus seiner Kopie des Formulars, auf das er – mit seiner Unterschrift versehen – geschrieben hatte: „Hiermit widerrufe ich die Zustellvollmacht“.
Am 01.02.2022 erließ das AG einen Strafbefehl gegen den Beschuldigten. Dieser wurde vom Postboten am 06.09.2022 in der Polizeiinspektion F übergeben. Nach Anbringung des Rechtskraftvermerks leitete die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung ein.
Am 22.02.2023 wurde der Beschuldigte am Flughafen Berlin bei der Ausreise kontrolliert und aufgrund des zwischenzeitlich erlassenen Vollstreckungshaftbefehls angehalten. Nach Zahlung der Geldstrafe konnte er seinen Flug antreten. Am 01.03.2023 ging beim AG der Einspruch der Verteidigerin gegen den Strafbefehl samt Wiedereinsetzungsantrag ein. Der Beschuldigte habe, so die Begründung, von dem gegen ihn erlassenen Strafbefehl keine Kenntnis gehabt dieser sei nicht wirksam zugestellt worden. Das AG hat Einspruch und Wiedereinsetzungsantrag verworfen. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Beschuldigten. Ohne Erfolg:
„1. Der Strafbefehl wurde am 6. September 2022 wirksam an den Zustellungsbevollmächtigten zugestellt, sodass die Einspruchsfrist zwei Wochen später ablief. Demgemäß hat das Amtsgericht den Einspruch zutreffend als verfristet verworfen.
a) Der Beschuldigte hat – nach entsprechender Anordnung (§ 132 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 StPO) – POM S wirksam zur Entgegennahme von Zustellungen bevollmächtigt. Unschädlich ist, dass er dabei auf dem Vollmachtformular die Worte „unter Vorbehalt“ angebracht hat. Selbst wenn man der Verteidigung darin folgt, dass diese Bemerkung vom Beschuldigten nicht durchgestrichen, sondern unterstrichen worden sei, entfaltet sie keine Rechtswirkungen, weil Aussage und Gehalt des Vorbehalts unklar blieben und der Vorbehalt angesichts der Unterzeichnung der Vollmacht nach Lage der Dinge ohnehin eine unbeachtliche protestatio facto contraria darstellte.
b) Die Zustellungsvollmacht wurde nicht wirksam widerrufen. Vor Abschluss des Verfahrens kann diese vom Vollmachtgeber nämlich nicht einseitig zum Erlöschen gebracht werden (KG, Beschluss vom 19. September 2011 -1 Ss 361/11, juris Rn. 7; OLG Koblenz, Beschluss vom 1. Juni 2004 – 1 Ss 311/03, NStZ-RR 2004, 373, 375; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. Juli 1986 – 5 Ss [OWi] 237/86-197/86 I, VRS 71, 369, 370; Claus in SSW-StPO, 5. Aufl., § 37 Rn. 43; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 116a Rn. 6; Lind in LR-StPO, 27. Aufl., § 116a Rn. 29; Graf in KK-StPO, 9. Aufl., § 116a Rn. 9). Der abweichenden Auffassung, die Zustellungsvollmacht bleibe gegenüber dem Gericht (nur) so lange wirksam, bis ihm deren Erlöschen angezeigt worden ist (Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 6), folgt die Kammer nicht. Zwar hat diese Auffassung die Wertung des § 170 BGB für sich, allerdings wird diese dadurch überlagert, dass die Erteilung der Zustellungsvollmacht der Durchführung eines hoheitlichen Verfahrens dient, was leerliefe, wäre die Vollmacht widerruflich.
c) Die Zustellung konnte wirksam in der Dienststelle des Bevollmächtigten ausgeführt werden, denn bei dieser handelt es sich um dessen Geschäftsraum i.S.d. § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO (vgl. Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 71; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 37 Rn. 13). Daher konnte ein an ihn gerichtetes Schriftstück bei Nichtantreffen des Bevollmächtigten an eine dort beschäftigte Person übergeben werden. So war das hier, als der Postbote den Strafbefehl an D aushändigte. Zu Unrecht beruft sich die Verteidigung in dem Zusammenhang auf den Beschluss der Kammer vom 23. August 2021 (12 Qs 57/21, juris). Dort scheiterte die Zustellung daran, dass der benannte Bevollmächtigte bei Zugang des Schriftstücks bereits aus dem Polizeidienst ausgeschieden und sein Nachfolger nicht bevollmächtigt war. Hier geht es dagegen lediglich darum, dass der Bevollmächtigte bei Eintreffen des Postboten gerade nicht auf der Wache anwesend war und deshalb eine Ersatzzustellung vorgenommen wurde.
d) Nach allem wahrte der Einspruch vom 1. März 2023 die zweiwöchige Einlegungsfrist (§ 410 Abs. 1 Satz 1 StPO) nicht, sodass er zu verwerfen war (§ 411 Abs. 1 Satz 1 StPO).
2. Zu Recht hat das Amtsgericht dem Beschuldigten keine Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gewährt, denn er hat die Frist nicht ohne Verschulden versäumt.
a) Dem Angeklagten obliegt nach der Erteilung der Zustellungsvollmacht, selbst dafür zu sorgen, dass der Bevollmächtigte ihn zuverlässig unterrichten kann. Gegebenenfalls muss er sich beim Bevollmächtigten über den etwaigen Eingang von Schriftstücken informieren (Kammer, Beschluss vom 23. August 2021 – 12 Qs 57/21, juris Rn. 10 m.w.N.). Das hat der Beschuldigte unterlassen. Auf fehlendes Verschulden (§ 44 Satz 1 StPO) kann er sich dabei nicht berufen. Am 1. Februar 2022 hat nämlich eine körperliche Auseinandersetzung des Beschuldigten mit dem Zeugen K stattgefunden, die bei letzterem nicht unerhebliche Verletzungen zur Folge hatte. Der Beschuldigte wurde daraufhin von der Polizei als Beschuldigter belehrt und vernommen, wobei er behauptete, selbst angegriffen worden zu sein. Damit war ihm jedenfalls klar, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet worden ist. In dieser Situation oblag es ihm, sich nach dessen Fortgang zu erkundigen. Er konnte nicht darauf vertrauen, dass seine – auch von der Verteidigerin vorgetragene – Sichtweise, er habe in Notwehr gehandelt und sei deshalb unschuldig, sich im Verfahrensfortgang durchsetzt, weshalb er auch keinen amtlichen Schriftverkehr zu erwarten hätte. Im Gegenteil, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht haben den Akteninhalt gegen den Beschuldigten gewertet, weshalb der hier angegriffene Strafbefehl erging.
b) Schuldhaft, weil durch schutzwürdiges Vertrauen nicht gedeckt, meinte der Beschuldigte, es werde deshalb keine Post für ihn beim Bevollmächtigten eingehen, weil er die Zustellungsvollmacht widerrufen habe. Gegen das Vertrauen auf die Wirksamkeit seines Widerrufs spricht allerdings schon, dass er die Vollmacht ausdrücklich unwiderruflich erteilt hat und dies auch aus der ihm mitgegebenen Kopie des Formulars, die er für den Widerruf nutzte, ersichtlich war.
c) Schließlich durfte der Beschuldigte nicht darauf vertrauen, er müsse deshalb mit keiner Zustellung rechnen, weil er die Zustellungsvollmacht „unter Vorbehalt“ unterschrieben habe. Unbeschadet der rechtlichen Unbestimmtheit dessen wurde der Beschuldigte nach dem glaubhaften und unwidersprochen gebliebenen Vermerk der polizeilichen Sachbearbeiterin POM´in B ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein solcher Zusatz „nicht geht“, woraufhin der Beschuldigte ihn selbst durchgestrichen habe. Das ist in sich schlüssig. Demgegenüber ist die Behauptung des Beschuldigten, bei dem Strich handele es sich um eine (bekräftigende) Unterstreichung, schon deshalb unplausibel, weil der Strich die Buchstaben augenscheinlich nicht unter-, sondern durchstreicht.
d) Darauf, dass die Ausführungen der Verteidigerin keinerlei Glaubhaftmachung (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO) zur Stützung des Wiedereinsetzungsantrags enthielten, kam es nach alldem nicht mehr an.“