Als zweite Entscheidung dann das OLG Bremen, Urt. v. 20.10.2021 – 1 EK 2/19 – zur Entschädigung für unangemessene Verfahrensdauer. Die Verfahren zu der Problematik nehmen zu. Die §§ 198, 199 GVG sind also in der Praxis angekommen.
Auch hier hat die Klägerin das beklagte Land auf Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer nach § 198 GVG in Anspruch genommen. Gegen die Klägerin und ihren Lebensgefährten wurde mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vom 23.02.2015, der Klägerin zugestellt am 25.03.2015, Anklage wegen Anbaus von Betäubungsmitteln und wegen Waffenbesitzes erhoben. Der Bevollmächtigte der Klägerin erhob sodann mehrfach, zuerst am 08.04.2016 und zuletzt am 09.04.2019 Verzögerungsrügen. Am 04.02.2019 übersandte das LG die Akten an die Staatsanwaltschaft zurück mit dem Hinweis, dass sich eine Mitwirkung der Klägerin an der vorgeworfenen Tat aus der Akte nicht ergebe. Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.05.2019, gebilligt vom Abteilungsleiter am 22.05.2019, wurde das Verfahren gegen die Klägerin nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, die Nachricht von der Einstellung wurde ihrem Verfahrensbevollmächtigten mit Schreiben vom 27.05.2019 übersandt.
Mit Klagschrift vom 21.11.2019, bei Gericht eingegangen am 22.11.2019, hat die Klägerin Klage auf Entschädigung nach § 198 GVG erhoben. Die Klägerin meint, mit der Dauer von vier Jahren habe das Verfahren unangemessen lange gedauert. Sie macht geltend, sich aufgrund der Verzögerungen psychisch erheblich beeinträchtigt gefühlt zu haben. Die Klägerin hat eine Entschädigung von 4.800,- EUR verlangt. Das beklagte Land meint, bei einer Gesamtdauer des Verfahrens von vier Jahren und drei Monate sei schon deswegen keine vierjährige Dauer einer unangemessenen Verzögerung anzunehmen, da zum einen die verbleibende Dauer von drei Monaten unrealistisch kurz sei und zum anderen nicht jede Überschreitung dieser Dauer bereits zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führen könne. Zudem seien auch richterliche Gestaltungsspielräume in der weiteren Bearbeitung zu berücksichtigen ebenso wie Zeiten, in denen die Akte aus anderen Gründen nicht zur Verfügung gestanden habe. Der Zeitraum zwischen der ersten Verzögerungsrüge und der Bearbeitung der Akte ab Januar 2019 sei mit gut 30 Monaten noch nicht so lang, als dass von einer deutlichen Überschreitung der äußersten Grenzen des Angemessenen ausgegangen werden könne. Zudem hat sich die Beklagte darauf berufen, dass die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht eingehalten worden sei, da die Einstellung durch Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 20.5.2019 erfolgt sei und die Mitteilung an den Verteidiger der Klägerin lediglich deklaratorischen Charakter gehabt habe. Das OLG hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung von 3.000 EUR verurteilt.
Hier die Leitsätze des OLG:
- Die Sechsmonatsfrist für die Klageerhebung nach § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG wegen unangemessener Verfahrensdauer beginnt im Fall der Erledigung eines Strafverfahrens durch Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO mit dem Zeitpunkt der Verfügung der Staatsanwaltschaft nach § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO und es kommt nicht auf das Datum der späteren Bekanntgabe an den Beschuldigten nach § 170 Abs. 2 Satz 2 StPO an. Wird eine Einstellungsverfügung dem zuständigen Abteilungsleiter der Staatsanwaltschaft zur Billigung vorgelegt, erlangt sie Wirkung erst mit dem Datum der Billigung.
- Im Regelfall kann bei Einstellung eines Strafverfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO nach erfolgter Anklageerhebung ein Zeitraum von 1 Jahr und 9 Monaten vom Eingang der Anklage bei Gericht bis zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft aufgrund einer Anregung des Gerichts noch nicht als unangemessen angesehen werden.
M.E. zutreffend. Die Auffassung des beklagten Landes, dass die rund 30 Monate Untätigkeit noch hinnehmbar sei, ist nicht nach zu vollziehen. Es ist einem Beschuldigten eben nicht zuzumuten, dass Verfahrensakten 2 ½ Jahre auf der Fensterbank oder auf der Geschäftsstelle liegen, ohne dass irgendeine Verfahrensförderung erfolgt.Wenn man als Verteidiger Verfahren überhaupt beschleunigen kann, dann sicherlich mit einer Verzögerungsrüge, die nicht vergessen werden sollte. Führt auch sie nicht zu einem schnelleren Verfahrensabschluss ist damit aber zumindest der Grundstein für eine Entschädigung zugunsten des Mandanten gelegt.
Verstehe ich den ersten Leitsatz insofern richtig, dass im Worst Case die Verfügung zur Benachrichtigung sechs Monate auf der Fensterbank der Staatsanwaltschaft schlummern kann (oder vom Sachbearbeiter vergessen wurde), und danach die Frist zur Klageerhebung leider abgelaufen ist? Gut, ist natürlich völlig undenkbar, gerade bei dieser Staatsanwaltschaft ;-).
Klar, vermutlich gibt’s immer noch die Wiedereinsetzung (hoffentlich). Aber die Frage, die mir trotzdem bleibt ist: Warum beginnt die Frist nicht mit Zustellung (wie sonst ja eigentlich üblich bei solchen Sachen) bzw. was ist der Schutzzeck der Frist? Schlichter Fehler im Gesetzgebungsprozeß?