Heute dann der nächste StPO-Tag. Aber heute dann keine Entscheidungen vom BGH, sondern von den Instanzgerichten.
An der Spitze der Postings setze ich die Bericherstattung zu EncroChat fort. Nachdem ich gerade erst am Montag über den OLG Brandenburg, Beschl. v. 03.08.2021 – 2 Ws 102/21 –
und den OLG Celle, Beschl. v. 12.08.2021 – 2 Ws 250/21 – berichtet habe (vgl. Nachtrag II: EncroChat – OLG Brandenburg u. OLG Celle, oder: Wir machen es wie alle anderen OLG) hier dann jetzt der KG, Beschl. v. 30.08.2021 – 2 Ws 79/21 – zum LG Berlin, Beschl. v. 01.07.2021 – (525 KLs) 254 Js 592/20 (10/21).
Ja, das war die bisher einzige Entscheidung, die die gewonnenen Erkenntnisse als unverwertbar angesehen hat (vgl. dazu EncroChat: Ein rechtsstaatlicher Lichtblick aus Berlin, oder: Beweisverwertungsverbot endlich bejaht mit den Verweisen auf weitere OLG-Rechtsprechung). Das KG hat nun also endlich über die Nichteröffnung entschieden. Und wen wundert es – mich nicht: Es sieht die Erkenntnisse in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der anderen OLG als verwertbar an und hat das Verfahren vor dem LG eröffnet. In der Argumentation m.E. nichts wesentliche Neues. Der Satz:
„…. Die Nichtverwertung von legal durch Behörden der Republik Frankreich — nicht nur eines Gründungsmitgliedes der europäischen Union, sondern auch eines der Mutterländer des modernen Menschenrechtsverständnisses — beschaffter Informationen über derart schwerwiegende Straftaten, verstieße auch in erheblicher Weise gegen das allgemeine Gerechtigkeitsempfinden der rechtstreuen Bevölkerung….“
irritiert mich allerdings. Heißt das, das diejenigen, die die Erkenntnisse als unverwertbar ansehen, nicht „rechtstreu“ sind?
Im Verfahren hat das KG den Weg eingeschlagen, den ich ja auch schon als möglich angekündigt hatte. Es hat den Beschluss des LG Berlin aufgehoben und das Hauptverfahren vor eröffnet, aber vor einer anderen Strafkammer des LG Berlin:
„Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das Hauptverfahren vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Berlin zu eröffnen (§ 210 Abs. 3 Satz 1 StPO). Mit ihrer ausführlich begründeten Rechtsansicht in dem angefochtenen Beschluss, die nicht nur im Widerspruch zur Ansicht des Senats, sondern auch der Oberlandesgerichte Bremen, Hamburg, Rostock, Schleswig, Düsseldorf und Brandenburg steht, hat sich die 25. Strafkammer in einer Weise festgelegt, die besorgen lässt, dass sie sich die Auffassung des Senats nicht innerlich zu eigen machen kann (vgl. BGH NStZ 2017, 420). Mithin steht zu befürchten, dass sie im Hinblick auf ihre ursprünglich abweichende Bewertung außer Stande ist, das Verfahren mit der gebotenen Objektivität fortzuführen (vgl. KK-StPO/Schneider 8. Aufl., § 210 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt StPO, 64. Aufl., § 210 Rn. 10).“
Das ist vom Standpunkt des KG ausgesehen konsequent.
Im Übrigen: damit ist nun m.E. unterhalb der Zuständigkeit des BGH „die Messe gelesen“ bzw. die Musik spielt nicht mehr bei den OLG, sondern demnächst beim BGH und dann ggf. beim BVerfG/EGMR. Da werden die Fragen entschieden, nicht bei einem OLG.
Darf ich – als strafrechtsferner Richter eines anderen Gerichtszweigs – irritiert nachfragen, aus welchem Grund sich das Landgericht „die Auffassung des Senats“ zu eigen machen sollte? Bindet der Eröffnungsbeschluss des Obergerichts den gesetzlichen Richter im erst durchzuführenden Hauptsacheverfahren hinsichtlich der dort vertretenen Auffassung in irgendeiner Weise?
Zu meinem Verständnis von Rechtsmittelrecht und richterlicher Unabhängigkeit passt das nicht wirklich, zumal das KG hier ja noch nicht einmal in der Hauptsache Rechtsmittelgericht sein dürfte. Natürlich sollte das LG die Rechtsauffassung des Senats ergebnisoffen würdigen – aber gibt es einen zwingenden Grund, warum es diese nicht nach eigener Prüfung (erneut) verwerfen könnte? Ich bin wirklich neugierig – das strafprozessuale Rechtsmittelrecht ist doch ein paar Tage her… 😉
Eine gesetzliche Bindung gibt es nicht. Natürlich könnte die Kammer verwerfen, dann würde in der HV aber nur die Rechtsfrage entschieden und das Verfahren müsste dann ggf. – nach einer Aufhebung durch den BGH – zur Sache dann neu verhandelt werden. U.a. das vermeidet mit dem dem Prozedere-
Dann scheint mir die Eröffnung vor einer anderen Kammer allerdings ein recht evidenter Verstoß gegen den gesetzlichen Richter zu sein, wenn mit ihr auf das zu erwartende Ergebnis der Entscheidung Einfluss genommen werden soll.
Insofern liegt der Fall anders als der zitierte BGH-Fall – dass eine Voreingenommenheit hinsichtlich des konkreten Falles eine abweichende Eröffnung rechtfertigen kann, scheint mir naheliegend zu sein; eine vom Senat abweichende Rechtsauffassung ist hingegen – soweit die Kammer bereit ist, sich Gegenargumente anzuhören – das Urrecht des (nicht gebundenen) Instanzrichters…
Oder liege ich mit dieser Einschätzung so grundlegend falsch? So ganz unterschiedlich dürften die Grundsätze in den verschiedenen Prozessordnungen doch nicht sein…
Nein, § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO gibt die Möglichkeit. Das hat mit dem gesetzlichen Richter nichts zu tun.
Hat sich seit den Entscheidungen im Fall der rechtstaatswidrigen Tatprovokation des Namik A. denn etwas so grundlegendes geändert bei BGH Und BVerfG dass man davon ausgehen dürfte dass sie hier auf einmal die Lanze für den Rechtsstaat brechen?
Ich für meinen Teil hatte nachdem was BGH/BVerfG damals dazu von sich gaben jedenfalls den Glauben in die Deutsche Strafjustiz und ihre Aufseher gänzlich verloren, es hatte ja schließlich wieder Straßbourg gebraucht um das offensichtliche festzustellen, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/europaeischer-gerichtshofs-fuer-menschenrechte-vom-v-mann-zur-tat-verfuehrt-a-32cad438-14bc-4c73-9155-e2d3dd5ffe59#Inhalt . Und den Betroffenen hat es in den Tod getrieben, wiedermal.
Als ob das nicht peinlich genug wäre argumentiert hier nun Obergericht mit dem allgemeinen Rechtsempfinden der Bürger, das grenzt doch schon an Realsatire.
Irgendwie muss mein Kommentar untergegangen sein…
@DB:
Dass entsprechende Eröffnungsbeschlüsse und Zurückverweisungen an andere Gerichte am „gesetzlichen Richter“ zu messen sind, hat das BVerfG wiederholt – auch schon im Kontext des § 210 Abs. 3 – entschieden; die Maßstäbe sind nur recht großzügig. Da der Verdacht, ein Gericht werde sich die Auffassung eines Obergerichts „nicht zu eigen Machen“, das im Hauptsacheinstanzenzug noch nicht einmal Obergericht ist, aber ersichtlich kein sachlicher Grund ist, würde ich einer VB hier relativ gute Chancen einräumen. Das mag in Fällen anders sein, in denen die Besorgnis besteht, das Untergericht werde sich einer tatsächlich bestehenden Bindungswirkung (z.B. im Fall einer echten Zurückverweisung) widersetzen oder die Argumente des Obergerichts im Sinne einer Vorfestlegung nicht mehr würdigen; hiervon scheint das KG hier aber selbst nicht auszugehen.
„noch nicht einmal Obergericht“? – die StPo sieht die vom KG gewählte Möglichkeit ausdrücklich vor.
Im Übrigen weiß ich nicht, welcher Kommentar „untergegangen sein“ soll. Hier geht nichts unter. Hier wird wohl ggf. nicht frei geschaltet.
*seufz* Das bestreitet doch niemand. Aber ein „kann“ des Gesetzgebers entbindet doch nicht von der Bindung an Verfassungsrecht. Und da scheint mir eine abweichende Eröffnung mit dem Ziel, eine nicht für richtig gehaltene Rechtauffassung des LG zu vermeiden, obwohl dem OLG hier in doppelter Hinsicht keine Richtlinienkompetenz zukommt (der EB bindet nicht an die Rechtauffassung und das OLG wäre nicht Rechtsmittelgericht gegen ein Urteil des LG), recht eindeutig willkürlich zu sein.
Ja „seufz“. Der Ton gefällt mir nicht.
Im Übrigen müssen Sie sich nicht wiederholen. Ich bin zwar alt, kann aber noch lesen.
Vielleicht meint das KG mit der Formulierung von der rechtstreuen Bevölkerung ja nur, dass der große Aufschrei bislang wohl ausschließlich aus der Sphäre von mutmaßlich Schwerkriminellen kommt.
Von Journalisten, Unternehmern, regulärer Berufstätigkeit nachgehenden Personen u.a. die sich die Encrochat-Handies aufgrund der zu fördernden Verwendung von Kryptographie zugelegt haben und die auch Opfer der französischen Behörden geworden sind, liest man meines Wissens seltsamerweise überhaupt nichts….Und gerade Medienvertreter sind ja recht schnell recht laut, wenn sie Beeinträchtigungen der Pressefreiheit wittern, weil sie behördlich ausgespäht wurden
Meinen Sie das ernst?