Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BVerwG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 C 13.20. Die hatte ich über die PM schon länger „auf dem Schirm“. Das BVerwG hat aber jetzt erst den Volltext veröffentlicht. Also kann ich die Entscheidung auch jetzt erst vorstellen.
Es geht um folgenden Sachverhalt:
„Der Kläger beansprucht von seinem Dienstherrn die Kostenerstattung für eine Reise zum Gerichtshof der Europäischen Union nach Luxemburg. Darüber hinaus erstrebt er Feststellungen zu den Bedingungen seiner Dienstausübung als Richter.
Der Kläger ist Vorsitzender Richter an einem Oberlandesgericht. Im Jahr 2015 setzte der vom Kläger geleitete Strafsenat des Oberlandesgerichts zwei Überstellungsverfahren zum Zwecke der Strafverfolgung nach Ungarn und Rumänien aus und legte dem Gerichtshof der Europäischen Union mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Nachdem der Gerichtshof dem Vorlagesenat des Oberlandesgerichts mitgeteilt hatte, dass Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt worden sei, entschloss sich der Kläger, nach Luxemburg zu reisen, um die mündliche Verhandlung zu besuchen.
Dies zeigte er der Beklagten über ein elektronisches Mitarbeiterportal zur Abrechnung von Dienstreisen mit dem Hinweis an, dass es sich um eine Reise im Rahmen richterlicher Spruchtätigkeit handele, die keiner Anordnung oder Genehmigung bedürfe. Die Präsidentin des Oberlandesgerichts lehnte es ab, eine Dienstreise zu genehmigen. Zur Begründung führte sie aus, eine Anwesenheit des Klägers bei der mündlichen Verhandlung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei weder im Rahmen richterlicher Spruchtätigkeit noch aus sonstigen Gründen geboten. Es werde angeregt, Sonderurlaub zu beantragen. Der Kläger beantragte hilfsweise Sonderurlaub und reiste nach Luxemburg.
Sein anschließend gestellter Antrag auf Erstattung der Reisekosten in Höhe von rund 840 € wurde abgelehnt. Die nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage auf Erstattung der Reisekosten und auf Feststellung, dass es sich bei der Reise zum Gerichtshof der Europäischen Union um eine genehmigungsfreie Dienstreise gehandelt habe, sowie auf weitere Feststellungen ist in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat darauf abgestellt, dass es sich bei der Reise des Klägers nicht um ein dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit unterliegendes richterliches Amtsgeschäft gehandelt habe. Die Definitionshoheit darüber, ob es sich um eine richterliche Tätigkeit in diesem Sinne handele, liege nicht bei dem Richter selbst; dies sei vielmehr objektiv zu bestimmen. Bei der Beobachtung der mündlichen Verhandlung des Gerichtshofs der Europäischen Union durch den Kläger handele es sich nicht um eine richterliche Handlung, die mit der Aufgabe des Richters, in einem konkreten Verfahren Recht zu finden, unmittelbar im Zusammenhang stehe.“
Das BVerwG hat die Revision gegen das Urteil des OVG Bremen zurückgewiesen. Es hat seiner Entscheidung folgende Leitsätze gegeben:
1. Dienstreisen eines Richters bedürfen dann keiner Genehmigung, wenn sie im Rahmen richterlicher Amtstätigkeit erfolgen. Die Bestimmung darüber, ob eine genehmigungsfreie richterliche Dienstreise vorliegt, richtet sich nach objektiven Kriterien.
2. Die Prozessbeobachtung einer mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) durch einen Richter des vorlegenden Gerichts in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ist kein richterliches Amtsgeschäft.
3. Der Anspruch eines Richters auf unmittelbare und genehmigungsfreie Kommunikation zwischen ihm als Mitglied des vorlegenden nationalen Gerichts und dem Gerichtshof der Europäischen Union ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf schriftlichen, digitalen und fernmündlichen Dialog angelegt. Reisetätigkeiten erfasst dieser Dialog nicht.
Das Verfahren, oder besser: der Sachverhalt, lässt einen, jedenfalls mich, dann doch ein wenig – oder auch ein wenig mehr – verwundert zurück. Ich frage mich, warum man für diese Frage das BVerwG braucht. Dass das keine Dienstreise ist/war, lag m.E. auf der Hand. Hat der EuGH Rückfragen, wird das eben schriftlich oder telefonisch geregelt. Vor Ort möchte er im Grunde niemanden vom vorlegenden Gericht, muss wohl das OLG Bremen gewesen sein, sehen.
Das BVerwG hat die Sache selber entscheiden wollen, die Revision ist erst auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung vom BVerwG selbst zugelassen worden:
„Das Revisionsverfahren gibt dem Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit zur Klärung der Frage, wie der Begriff des richterlichen Dienst- oder Amtsgeschäfts in Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV für Mitglieder eines vorlegenden deutschen Gerichts auszulegen ist. Insbesondere ist zu prüfen, ob das richterliche Dienstgeschäft für Mitglieder des vorlegenden Gerichts die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union im betreffenden Vorlageverfahren und zur dortigen Freibeweiserhebung in der Form von Gesprächen mit Richtern des Gerichtshofs der Europäischen Union und anderen Verfahrensbeteiligten des konkreten Vorlageverfahrens umfasst.“
Wenn man sich das OVG-Urteil anschaut, merkt man, dass es nicht so ganz firm mit dem Maßstab des europäischen Prozessrechts war. Sie prüfen die Stellung des Richters im europäischen Verfahrens am schwerpunktmäßig deutschen Verfassungsrecht. Ich verstehe, warum das BVerwG die Begründung durch eine europarechtliche Begründung ersetzt hat, die eine Vorlagepflicht wegen Acte Clair und partiell Acte Eclaire ausschließt.
Das OVG-Urteil in Form der Zurückweisung der Revision halte ich für nicht vereinbar mit der Rechtsprechung zur Vorabverfahrenvorlagepflicht nach Art. 167 AEUV als Unterfall des gesetzlichen Richters nach Art. 19 IV GGG.