Heute dann ein OWi-Tag. Und da ich im Moment eine Menge Material habe, gibt es auch mehr Entscheidungen als sonst.
Hier dann zum Auftakt zunächst zwei Entscheidungen zur Umsetzung des BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18. und zwar einmal das OLG Brandenburg und einmal das KG.
Beide habe in ihren Beschlüssen zur Frage Stellung genommen, wann der Informationsanspruch vom Betroffenen geltend gemacht werden muss. Dazu führt der OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.02.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20 – aus:
„(3.) Selbst wenn sich die Verfahrensrüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren als zulässig erweisen würde, bliebe ihr der Erfolg versagt, da eine entsprechende Rechtsverletzung nicht zu besorgen ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. November 2020 (2 BvR 1616/18, abgedruckt in NZV 2021, 41 ff.) die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte zum so genannten standardisierten Messverfahren (grundlegend BGHSt 39, 291; BGHSt 43, 277; für PolyScanSpeed FM1 statt vieler: OLG Bremen, Beschluss vom 4. April 2020, 1 SsRS 50/19, zit. n. juris), die zu erheblichen Vereinfachungen im Beweisrecht und in den Urteilsgründen führen, bestätigt, dem Betroffenen dabei aber ein Zugangsrecht zu nicht in der Bußgeldakte befindlichen Informationen in gewissen Grenzen zuerkannt.
Bei Annahme eines standardisierten Messverfahrens bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, nach höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung gewahrt, wenn dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen (statt vieler vgl. BGHSt 39, 291, 300; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juli 2014, IV 1 RBs 50/14, zit. n. juris, dort Rn. 10). Durch das Stellen von Beweisanträgen, Beweisermittlungsanträgen und Beweisanregungen hat der Betroffene ausreichende prozessuale Möglichkeiten, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen. Für einen erfolgreichen Beweisantrag muss der Betroffene jedoch konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen, wohingegen die bloß allgemeine Behauptung, die Messung sei fehlerhaft gewesen, das Gericht – wie im vorliegenden Fall – nicht zur Aufklärung anhält (vgl. beispielsweise OLG Düsseldorf aaO.). Gleiches gilt für pauschale Behauptungen des Betroffenen „in‘s Blaue“ hinein, etwa, dass das Messgerät nicht richtig funktioniert habe, die Gebrauchsanweisung nicht eingehalten oder nachträglich Eingriffe an dem Gerät vorgenommen worden seien (vgl. König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 3 StVO Rn. 56b m.w.N.). Um den Betroffenen jedoch in die Lage zu versetzen, konkrete Einwendungen gegen ein standardisiertes Messverfahren vorzubringen, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren, dass der Betroffene auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht hat, Kenntnis von solchen Unterlagen zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung der konkreten Ordnungswidrigkeit entstanden, aber nicht zur Verfahrensakte genommen worden sind (BVerfG aaO. Rn. 51 ff.).
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet dies allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten, da andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs besteht. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen. Die Verteidigung kann dabei grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet (BVerfG aaO. Rn. 56, 56). Die Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren und die Ablehnungsmöglichkeiten nach § 77 Abs. 2 OWiG begrenzen die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf die erlangten und ausgewerteten Informationen in zeitlicher Hinsicht. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu (vgl. BVerfGE 63, 45, 67) er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen Zugang rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt, was von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist (BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020, 2 BvR 1616/18, abgedruckt in NZV 2021, 41 ff. Rn. 60 a.E.).
Im vorliegenden Fall hat der Betroffene erstmals in der Hauptverhandlung am 7. Oktober 2020 mit dem Beweisermittlungsantrag zugleich einen Antrag auf erweiterte Akteneinsicht gestellt, obwohl er hierzu nach Zustellung des Bußgeldbescheides vom 18. August 2019 weit über ein Jahr Zeit gehabt hatte; von einer „rechtzeitigen“ (BVerfG aaO.) Geltendmachung des Zugangsrechts von nicht bei den Verfahrensakten befindlichen Messdaten bzw. der Geltendmachung eines erweiterten Akteneinsichtsrechts kann daher keine Rede sein.“
Das KG macht es im KG, Beschl. v. 07.01.2021 – 3 Ws (B) 314/20 – ähnlich. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:
1. Es ist höchstrichterlich geklärt, dass der Betroffene als Ausfluss seines Rechts auf ein faires Verfahren zwar Einsicht auch in solche Messunterlagen verlangen kann, die nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind, sofern die hinreichend konkret benannten Informationen in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem Vorwurf stehen und der Betroffene sie verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.
2. Weiter ist anerkannt, dass dieses Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zusteht.
3. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens liegt allerdings nur dann vor, wenn sich der Betroffene im Bußgeldverfahren rechtzeitig, das heißt ohne schuldhaftes Zögern um die begehrten Unterlagen bemüht hat, seine Anstrengungen aber erfolglos geblieben sind.
4. Stellt der Betroffene einen Antrag auf Herbeischaffung von (Mess-) Unterlagen erstmalig in der Hauptverhandlung, ist dies regelmäßig verspätet. Denn er hätte einen entsprechenden Antrag in aller Regel schon nach Bekanntwerden des ihm zur Last gelegten Vorwurfs im behördlichen Verfahren, jedenfalls aber nach Bekanntgabe des Bußgeldbescheids stellen können.
Es handelt sich hier zwar um „Altfälle“, aber die Rechtsprechung wird sich an der Stelle nicht ändern. Also: Anträge rechtzeitig stellen