Im „Kessel Buntes“ stelle ich dann heute mal zunächst mal wieder eine Entscheidung zur Obliegenheitsverletzung in der Kaskoversicherung durch unerlaubtes Entfernen vom Unfallort vor. Das OLG Karlsruhe, Urt. v. 06.08.2020 – 12 U 53/20 – ist schon etwas älter, aber heute klappt es dann (endlich) mit dem Bericht.
Gestritten wird um Ansprüche aus einer Vollkaskoversicherung. Der Kläger befuhr am 28.01.2019 befuhr der Kläger mit seinem PKW VW Golf die Kreisstraße K. in Richtung G. An der Einmündung K./L. überfuhr er ein Verkehrsschild (Sachschaden: 200,00 EUR), das Fahrzeug überschlug sich und kam in dem neben der Straße verlaufenden Bach zum Endstand. Der Kläger begab sich nach der Kollision zu einem nicht genau feststellbaren Zeitpunkt zurück zu einem Vereinsheim in B. Um 7:00 Uhr verständigte er seine Ehefrau telefonisch über den Unfall. Die Ehefrau des Klägers holte diesen in der Folge im Vereinsheim in B ab und verbrachte ihn in das J-Krankenhaus in H. Durch den Unfall zog sich der Kläger eine 10 cm lange klaffende, 1 cm tiefe Risswunde oberhalb der Hutkrempe orthogonal zur Sagittalnaht auf der Verbindungslinie zwischen den Ohren sowie eine Hautablederung und eine Schürfwunde zu (vgl. den vorläufigen Arztbrief in Anl. K1). Gegen 8:30 Uhr verständigte die Ehefrau des Klägers die Polizei.
Ein gegen den Kläger geführtes Ermittlungsverfahren wegen des Vorwurfs des unerlaubten Entfernens vom Unfallort ist gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt worden. Der Kläger hat seinen Unfallschaden bei der Kaskoversicherung geltend gemacht. Die Beklagte lehnte eine Regulierung ab. Zur Begründung führte sie an, der Kläger habe Obliegenheiten aus dem Versicherungsvertrag verletzt. Er habe Alkohol zu sich genommen und sich unerlaubt von der Unfallstelle entfernt.
Das LG hat die Klage abgewiesen, die Berufung des Klägers hatte beim OLG dann aber Erfolg:
„d) Eine Obliegenheitsverletzung des Klägers ist nicht darin zu sehen, dass er nach der Kollision mit einem Verkehrsschild nicht am Unfallort verblieb, sondern wegging.
aa) Erste Voraussetzung einer Obliegenheitsverletzung nach E.1.1.3 ist, dass sich ein Unfall zugetragen hat. Ein Unfall im Straßenverkehr liegt bei einem plötzlichen Ereignis vor, in welchem sich ein verkehrstypisches Schadensrisiko realisiert und das unmittelbar zu einem nicht völlig belanglosen fremden Sach- oder Körperschaden führt (vgl. Maier a.a.O. Rn. 83).
Ein solcher Fremdschaden ist mit der unfallbedingten Beschädigung des Verkehrsschildes in Höhe von 200,00 EUR gegeben. Die in der versicherungsrechtlichen Rechtsprechung angenommene Bagatellgrenze von maximal 100,00 EUR (vgl. Klimke a.a.O. Rn. 25 m.w.N.) bzw. die in der strafrechtlichen Rechtsprechung angenommene Bagatellgrenze von maximal 50,00 EUR (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 24.01.2007 – 2 St OLG Ss 300/06 –, juris Rn. 19; s.a. Kudlich, in BeckOK StGB, Stand 01.05.2020, § 142, Rn. 4.2 m.w.N.) wurden vorliegend jedenfalls überschritten.
bb) Dahinstehen kann, ob sich der Kläger, wie von ihm vorgetragen, bei Verlassen des Unfallortes nicht bewusst war, das Verkehrsschild beschädigt zu haben.
cc) Jedenfalls ist eine Verletzung des Klägers gegen die Pflicht aus § 142 Abs. 1 Nr. oder Nr. 2 StGB nicht festzustellen.
(1) Einen Verstoß gegen die § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprechende Verpflichtung, gegenüber einer feststellungsbereiten Person wie dem Geschädigten, einem weiteren Unfallbeteiligten oder der Polizei die geforderten Angaben zu machen, behauptet die Beklagte nicht. Unstreitig hielt sich am Unfallort keine feststellungsbereite Person auf.
(2) Der Kläger hat auch nicht gegen die Wartepflicht im Sinne des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB verstoßen.
(a) Ist kein Feststellungsberechtigter anwesend, so verlangt § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB, dass „eine nach den Umständen angemessene Zeit gewartet“ wird, bevor der Unfallort verlassen wird. Der Umfang der Wartepflicht beurteilt sich nach den Maßstäben der Erforderlichkeit und der Zumutbarkeit (vgl. Maier a.a.O. Rn. 93). Ob überhaupt in solchen Fällen und wie lange der Beteiligte am Unfallort zu warten hat, richtet sich mithin nach den Umständen des Einzelfalles (vgl. Sternberg-Lieben, in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 142, Rn. 36 m.w.N.). Die Bestimmung der Angemessenheit der Wartezeit ist abhängig von dem voraussichtlichen Eintreffen feststellungsbereiter Personen (Zopfs, in MünchKomm StGB, 3. Aufl. 2017, StGB § 142 Rn. 81 f.). Dies ist regelmäßig unter anderem abhängig von dem Unfallort, der Verkehrsdichte sowie der Tageszeit (vgl. Kudlich a.a.O. Rn. 31). Weiter wird das Feststellungsinteresse des Berechtigten zu berücksichtigen sein (vgl. Zopfs a.a.O. Rn. 81 und 84.). Je größer das Ausmaß des Schadens ist, desto länger ist grundsätzlich die Wartefrist (vgl. BayObLG NJW 1960, S. 832 [833]; OLG Stuttgart NJW 1981, S.1107 [1108]; s.a. Zopfs a.a.O. Rn. 84 m.w.N.). Zu berücksichtigen sind außerdem die Interessen des Unfallbeteiligten an einem frühzeitigen Verlassen des Unfallortes (vgl. Zopfs a.a.O. Rn. 85). Dabei können gesundheitliche Risiken auf Seiten des Unfallbeteiligten für eine Verkürzung der Wartefrist sprechen ist (vgl. Zopfs a.a.O; in diese Richtung auch OLG Stuttgart a.a.O.).
In der strafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob bei Abwägung des Interesses des Unfallbeteiligten einerseits mit dem Aufklärungsinteresse andererseits eine Wartepflicht auch gänzlich entfallen kann (vgl. Sternberg-Lieben a.a.O. Rn. 40 m.w.N.) oder jedenfalls eine Mindestwartezeit von z.B. zehn Minuten einzuhalten ist (vgl. Zopfs a.a.O. Rn. 87).
Dass stets eine Mindestwartezeit einzuhalten ist, nimmt der Senat aufgrund der in E.1.1.3 AKB angelegten Grenzen der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit nicht an. Im Einzelfall kann eine Wartepflicht entfallen, wenn beispielsweise vorrangige dringende persönliche Gründe wie eine ärztliche Versorgung des Unfallbeteiligten bestehen (vgl. Klimke a.a.O. Rn. 31; in diese Richtung auch Heß/Höke, in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2015, 2. Teil. Einzelne Versicherungszweige 2. Abschnitt. Kraftfahrtversicherung § 29, Rn. 311; für eine Wartepflicht bei einem Unfall mit reinem Sachschaden vgl. Senatsurteil vom 07.02.2002 – 12 U 223/01 –, juris Rn. 7).
(b) Ausgehend von diesen Grundsätzen bestand keine Wartepflicht des Klägers mit der Folge, dass auch bei Wahrunterstellung des Beklagtenvortrags, dass der Kläger sich nach dem Unfall sofort von dem Unfallort entfernte, eine Obliegenheitsverletzung nicht vorliegt.
Die Einhaltung einer Wartezeit war dem Kläger nicht zumutbar.
Einerseits war in der Unfallsituation weder mit einem zufälligen Eintreffen feststellungsbereiter Personen zu rechnen, noch war aufgrund des entstandenen Schadens ein Verbleiben an der Unfallstelle erforderlich.
So ereignete sich der Unfall nach den Feststellungen der Polizei am 28.01.2019 gegen 00:30 Uhr (vgl. AS 29 der Ermittlungsakte). Dabei stützte die Polizei sich auf die Angaben des in der nahegelegenen L-Straße in L wohnhaften Zeugen S, der angab, zu dieser Uhrzeit einen „dumpfen Aufschlag“ gehört zu haben (vgl. AS 13 der Ermittlungsakte). Der Beklagtenvortrag in erster Instanz (vgl. AS I 53) legt nahe, dass aufgrund einer Meldung der Ehefrau des Klägers bei der Polizei (vgl. AS 19 der Ermittlungsakte) von einem Unfall gegen 23 Uhr noch am 27.01.2019 ausgegangen wird. Inzwischen wurde im unstreitigen Teil des Tatbestandes des landgerichtlichen Urteils der 28.01.2019 als Unfallzeitpunkt festgestellt. Einen Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach § 320 ZPO, durch den eine etwaige Unrichtigkeit des Tatbestandes einzig hätte behoben werden können (vgl. BGH, Urteil vom 18.09.2009 – V ZR 75/08 -, juris Rn. 35), hat die Beklagte nicht gestellt. Jedenfalls ereignete sich der Unfall nach Aktenlage zur Nachtzeit bzw. in den frühen Morgenstunden. Es ist nicht naheliegend, dass zu dieser Uhrzeit auf einer Landstraße in der Nähe eines badischen Dorfes Polizeibeamte oder Mitarbeiter des Trägers der Straßenbaulast als Geschädigtem in einem überschaubaren Zeitraum vorbeifahren würden. Zugleich lag der Fremdschaden an dem Unfallschild mit 200,00 EUR nicht substantiell über der Bagatellgrenze.
Andererseits bestand ein berechtigtes Interesse des Klägers, unmittelbar nach der Kollision den Unfallort zu verlassen. Dahinter tritt das Aufklärungsinteresse der Beklagten – etwa im Hinblick auf die Prüfung einer Leistungsfreiheit wegen einer Herbeiführung des Unfalls im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit – zurück.
So erlitt der Kläger einen schweren Verkehrsunfall, bei dem sich sein PKW unstreitig überschlug und 20 Meter von der Straße entfernt in einem Flussbett zum Stehen kam. Die Schwere des Unfalls wird durch die aus den Lichtbildern der Polizei (AS 51 ff. der Ermittlungsakte) erkennbaren Beschädigungen des PKW illustriert und durch die Höhe der von der Beklagten ermittelten Reparaturkosten untermauert. Zugleich zog sich der Kläger neben Schürfwunden und Schwellungen eine 10 cm lange und 1 cm tiefe Risswunde an der Hutkrempe zu (vgl. Anl. K 1). Die Verletzungen hinterließen am gesamten Unfallort (am Pfosten und Fuß eines Absperrgitters, am Gitter einer Brücke sowie am Lenkrad des PKW) Blutspuren. Auch wenn sich der Kläger nicht, wie von ihm behauptet, in einem schuldausschließenden Schockzustand befunden haben sollte, stand er doch unter dem Eindruck eines gravierenden Unfallereignisses, wobei der Unfallhergang und die Wunde am Kopf durchaus Anlass zu der Befürchtung weitergehender Kopfverletzungen geben konnte. In dieser Situation durfte er zur ärztlichen Abklärung seines Gesundheitszustandes den Unfallort sogleich verlassen. Dass (ex post) bei dem Kläger „nur“ eine Commotio cerebri und eine Prellung der Schulter links diagnostiziert wurden (vgl. Anl. K 1), ändert daran nichts.
Die Einlassung des Klägers im Rahmen seiner informatorischen Anhörung (vgl. AS I 81), dass er sich deshalb vom Unfallort zum Vereinsheim in B begeben habe, um von dort sogleich seine Ehefrau anzurufen, damit sie ihn in ein Krankenhaus bringt, ist unwiderlegt. Die Wegstrecke von der Unfallstelle zum DLRG-Vereinsheim beträgt knapp 2 km, zur Wohnung des Klägers dagegen ca. 10 km (gemäß Routenplaner). Er erscheint deshalb nicht von vornherein unplausibel oder unvernünftig, dass sich der verletzte, aber gehfähige Kläger nach dem nächtlichen Verkehrsunfall und angesichts der winterlichen Verhältnisse im Januar zum Herbeiholen von Hilfe zurück in das DLRG-Heim begab. Unwiderlegt ist weiter, dass er sogleich von dort versuchte, seine Ehefrau telefonisch herbeizurufen, dies aber erst gegen 6 Uhr oder 7 Uhr (ausweislich der in der Ermittlungsakte festgehaltenen Angaben des Klägers [AS 27] und seiner Ehefrau als Zeugin [AS 30] gegenüber der Polizei) gelang.
Die Beweislast für einen Verstoß gegen die Obliegenheit in E.1.1.3 durch Nichteinhaltung der Wartepflicht liegt beim Versicherer; die plausible Darstellung des Klägers müsste deshalb die Beklagte widerlegen (vgl. Maier a.a.O. AKB, E.1, Rn. 94), was ihr nicht gelungen ist.
Nach alldem wäre die Einhaltung einer – auch nur kurzen – Wartepflicht unter den besonderen Umständen dieses Falles ein reiner Selbstzweck, für den angesichts der Begrenzung der Obliegenheit durch den Maßstab der Erforderlichkeit keine Veranlassung besteht.
Eine Rückkehrpflicht des Klägers (vgl. BGH, Urteil vom 07.12.1967 – II ZR 24/65 –, juris Rn. 17) zu dem Unfallort schied schon wegen des zweitägigen stationären Krankenhausaufenthaltes aus (vgl. Anl. K 1), nach dessen Ende nicht mehr mit Feststellungen zum Unfallhergang vor Ort zu rechnen war.
(c) Das Entfernen von der Unfallstelle war zudem berechtigt……“