Mit einem besinnlichen „Moin“ geht es dann in die 49. KW des Jahres 2020. Heute stelle ich zwei StPO-Entscheidungen vor.
Die erste hat auch mit „besinnlich“ zu tun. Etwas sehr besinnlich war allerdings. Denn: Im ersten Haupverhandlungstag der Hauptverhandlung, die zu einer Verurteilung des Angeklagten wegen Steuerhinterziehung geführt hat, war einer der Schöffen bei der Verlesung der Anklage „entschlafen. Dagegen die Revision, die mit der Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 1 StPO beim BGH mit dem BGH, Beschl. v. 14.10.2020 – 1 StR 616/19 – Erfolg hatte:
„Die Revision macht zu Recht geltend, dass die Wirtschaftsstrafkammer, die in dieser Sache entschieden hat, nicht vorschriftsmäßig besetzt war, weil der Schöffe S. im ersten Termin zur Hauptverhandlung am 12. März 2019 über einen nicht unerheblichen Zeitraum fest geschlafen hat, so dass er der Verlesung der Anklageschrift nicht vollständig folgen konnte. Dass der Schöffe geschlafen hat, ist nach einer Gesamtwürdigung der Umstände, wie sie sich aus der Darstellung des Verteidigers in der Revisionsbegründung ergeben, die durch die dienstliche Äußerung des Staatsanwalts bestätigt wird, bewiesen.
Nach der Revisionsbegründung bemerkte der Verteidiger des Angeklagten am Nachmittag des ersten Verhandlungstages während der Verlesung des Anklagesatzes, dass der Schöffe S. die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und eine erschlaffte Sitzhaltung eingenommen hatte. Er beobachtete den Schöffen, der weiterhin in dem beschriebenen Zustand auf der Richterbank saß, mindestens eine Minute lang und wandte sich dann während der Verlesung der Tatvorwürfe Nr. 176 bis 177 der Anklageschrift mit der Bemerkung an den Vorsitzenden Richter, er möge sich versichern, ob der Schöffe noch wach sei. Der Vorsitzende erwiderte spontan, dass der Schöffe noch wach sei; der Schöffe selbst reagierte auf die vom Verteidiger veranlasste Unterbrechung der Verlesung der Anklageschrift und den Wortwechsel zwischen dem Verteidiger und dem Vorsitzenden nicht. Als sich die Berufsrichter zu dem Schöffen hinwandten, öffnete dieser die Augen und benötigte ersichtlich einen kurzen Augenblick, um zu realisieren, dass er eingeschlafen war. Die Verlesung der Anklageschrift wurde anschließend fortgesetzt, aber nicht – auch nicht teilweise – wiederholt.
Diese Darstellung des Verteidigers wird durch die Angaben des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft in der Revisionsgegenerklärung dahin bestätigt, dass der Verteidiger, als er selbst mit der Verlesung der Anklageschrift befasst gewesen sei, den Vorsitzenden um Prüfung gebeten habe, ob der Schöffe eingeschlafen sein könne. Der Schöffe habe seiner – des Staatsanwalts – Beobachtung nach weder die Intervention des Verteidigers noch die Äußerung des Vorsitzenden mitbekommen. Wie es dazu gekommen sei, dass der Schöffe kurze Zeit später „erwacht sei“, sei ihm nicht bekannt. Er könne auch über den „Zeitraum des Schlafs“ des Schöffen keine Angaben machen.
Die Angaben der beisitzenden Richter in ihren dienstlichen Stellungnahmen stehen der Darstellung von Verteidiger und Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nicht entgegen. Insbesondere ergeben sich aus diesen Stellungnahmen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Schöffe in der fraglichen Zeit entgegen dem nachvollziehbar auf das geschilderte Verhalten des Schöffen gestützten Eindruck von Verteidiger und Staatsanwalt wach gewesen sein könnte; beide beisitzenden Richter haben erklärt, dass sie nicht aus eigener Wahrnehmung heraus sagen könnten, ob der Schöffe geschlafen hat.
Danach liegt, weil es sich bei der Verlesung des Anklagesatzes um einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung handelt und der Schöffe dieser während einer erheblichen Zeitspanne schlafbedingt nicht gefolgt ist, der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO vor (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. April 2019 – 5 StR 87/19 Rn. 9; vom 19. Juni 2018 – 5 StR 643/17 Rn. 3 und vom 20. Oktober 1981 – 5 StR 564/81 Rn. 1).“
Man fragt sich allerdings: Was hat sich eigentlich die Strafkammer in Kassel gedacht. Vorsitzender und Beisitzer hatten den schlafenden Schöffen doch bemerkt, sie waren also wach 🙂 . Aber offenbar nicht so wach, dass man die Verlesung der Anklage nicht wiederholt. Da lässt man lieber die Hauptverhandlung über drei Monate weiter laufen und hat den Revisionsgrund im Gepäck. Ist für mich unverständlich.
Wieso vermengt der 1. Senat des BGHs die Begriffe AnklageSATZ und AnklageSCHRIFT bei dessen/deren Verlesung?
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