In die 41. KW. starte ich mit zwei Entscheidungen, in denen es um die Anwendung des JGG bzw. des Jugendrechts geht.
Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 13.02.2020 – 1 StR 613/19 – zur Frage der Anwendung von Erwachsenen- bzw. Jugendstrafrecht. Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen versuchter schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit versuchtem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, gefährlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen und Beihilfe zum Betrug zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Der BGH hebt auf die Revision hin den Rechtsfolgenausspruch auf, da die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts nicht ausreichend begründet worden ist:
„1. Die Begründung, mit der die Jugendkammer zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf den Angeklagten M. gelangt ist, der zur Tatzeit 18 Jahre und sieben Monate alt und damit Heranwachsender war, hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Nach den Urteilsfeststellungen durchlief der im April 2000 in Ma. geborene Angeklagte, der im Haushalt seiner Eltern mit einer jüngeren Schwester aufwuchs, neun Jahre die Schule und besuchte anschließend eine „medizinische Schule“, die er aufgrund fehlenden Interesses ohne Schulabschluss abbrach. Eine reguläre Ausbildung hat er nicht begonnen. „Zuletzt“ arbeitete der Angeklagte als Automechaniker in einer Werkstatt in Ma. und verdiente umgerechnet 350 Euro monatlich. Seit 2017 ist er mit einer minderjährigen Cousine verlobt, die mit ihrer Familie in Deutschland lebt. Der Angeklagte reiste im Sommer 2018 und sodann ab Oktober 2018 im Rahmen eines geplanten dreimonatigen Aufenthalts nach Deutschland und wohnte im Haushalt der Familie seiner Verlobten. Die Hochzeit war für Sommer 2019 geplant. „Zuletzt“ arbeitete der Angeklagte aushilfsweise und ohne Entlohnung für einen Monat in einem vom Angeklagten F. betriebenen Imbiss. Den Ange- klagten F. sieht der Angeklagte M. innerhalb der „Großfamilie“ als „Quasi-Onkel“ und Respektsperson an. Schulden hat der Angeklagte M. nicht; er besitzt aber auch kein nennenswertes Vermögen.
b) Das Landgericht verneinte – entgegen den nicht mitgeteilten Ausführungen der Jugendgerichtshilfe – die Voraussetzungen für die Anwendung von Jugendstrafrecht (§ 105 Abs. 1 JGG). Die zusammen mit dem Angeklagten F. begangene Brandlegung in dessen Imbissräumen, um eine Auszahlung von Versicherungsleistungen zu erlangen, stelle zum einen keine jugendtypische Tat dar. Zum anderen lägen beim Angeklagten M. keine Reife- und Entwicklungsdefizite vor, weil er vor seinem mehrwöchigen Aufenthalt in Deutschland, den er alleine und ohne seine Eltern bestritten habe, in Ma. einer geregelten Arbeit mit einem dort durchschnittlichen Arbeitsverdienst nachgegangen sei. Er verfüge mit seiner beabsichtigten Heirat auch über gefestigte Zukunftspläne, die für ein „überlegtes Handeln ohne Reifeverzögerungen“ sprechen würden.
2. Die Begründung, mit der das Landgericht Reife- und Entwicklungsdefizite beim Angeklagten verneint, ist nicht ohne Rechtsfehler.
a) Für die Frage, ob der heranwachsende Täter zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, kommt es maßgebend darauf an, ob er sich noch in einer für Jugendliche typischen Entwicklungsphase befand und in ihm noch Entwicklungskräfte in größerem Umfang wirksam waren (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 20. Mai 2014 – 1 StR 610/13 Rn. 12 mwN). Dies ist aufgrund einer Gesamtwürdigung seiner Persönlichkeit unter Berücksichtigung der sozialen Lebensbedingungen zu beurteilen. Dem Tatrichter steht insoweit ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu. Seine Bewertungen müssen allerdings mit Tatsachen unterlegt und nachvollziehbar sein; sie dürfen keine wesentlichen Gesichtspunkte außer Betracht lassen. Daran fehlt es hier.
b) Die Jugendkammer stellt bei ihrer Bewertung der Persönlichkeit und der sozialen Lebensbedingungen des Angeklagten wesentliche Gesichtspunkte nicht in die erforderliche Gesamtwürdigung ein. Unberücksichtigt bleibt, dass er weder eine abgeschlossene Schulausbildung erlangt noch einen Beruf erlernt hat. Auch wenn er „zuletzt“ als Automechaniker in seiner Heimat ein auskömmliches Einkommen erzielt haben mag, so stellt sich diese Tätigkeit mit Blick darauf, dass er sich im Sommer 2018 und ab Oktober 2018 in Deutschland aufgehalten hat, nicht mehr als „geregelte“ Arbeit dar. Vor der Tatbegehung lebte er ohne eigenen Haushalt im Familienverband seiner Verlobten. Er ging in Deutschland einer nicht entlohnten Aushilfstätigkeit nach. Allein die beabsichtigte Hochzeit mit seiner noch minderjährigen Cousine vermag „gefestigte Zukunftspläne“ nicht zu belegen. Aus diesen Gründen ist es eher naheliegend, dass die Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten noch nicht abgeschlossen war und Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind.“