Pflichti II: Kipo-Verfahren, oder: Das gibt es wegen der Akteneinsicht auf jeden Fall einen Pflichtverteidiger

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Das zweite Posting betrifft die Beiordnungsvoraussetzungen (§ 140 StPO). Es geht erneut um einen LG Halle, Beschluss, und zwar den LG Halle, Beschl. v. 12.08.2020 – 10a Qs 77/20, den mir der Kollege Siebers aus Braunschweig geschickt hat.

In dem Beschluss ist für die sog. KiPo-Verfahren Musik. Das LG bejaht nämlich die Notwendigkeit der Beiordnung allein wegen der Frage der Akteneinsicht, die in den Verfahren ja von besonderer Bedeutung ist.

Folgender Sachverhalt:

„Die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) ermittelt seit dem 02.01.2020 gegen den Beschuldigten wegen des Besitzes kinderpornographischer Schriften gem. § 184b Abs. 3 Alt. 2 StGB. Ein dem Bundeskriminalamt vom „National Center For Missing and Exploited Children“ (NCMEC) aus den USA übermittelter .,CyberTipline Report“ hatte auf der Grundlage einer Providerauskunft die Information enthalten. dass am 21.08.2019 um 15:52:50 Uhr mitteleuropäischer Zeit über die IP-Adresse des Beschuldigten unter Nutzung des Internetdiensts „Imgur“ eine Datei mit kinderpornographischem Inhalt im Internet hochgeladen wurde. Die Bilddatei zeigt ein au-genscheinlich unter 14 Jahre altes Mädchen, welches mit heruntergelassener Hose und ent-blößtem Gesäß, an Seilen gefesselt vor einem Sofa kniet.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Halle ordnete das Amtsgericht Halle mit Beschluss vorn 30.01.2020 die Durchsuchung des Beschuldigten, seiner Wohnräume und anderer Räume so-wie Sachen an. Im Zuge der Durchsuchung am 28.02.2020 wurden bei dem Beschwerdeführer Speichermedien. darunter Computer. Mobiltelefone und andere Datenträger beschlagnahmt und deren Auswertung angeordnet.

Unter dem 29.02.2020 meldete sich Rechtsanwalt pp. als Verteidiger des Beschuldigten.
Der Verteidiger legte am 12.05.2020 nachträglich Beschwerde gegen die richterliche Durch-suchungsanordnung ein und beantragte am selben Tag seine Beiordnung als Pflichtverteidi-ger. Eine Verteidigung sei aufgrund der Schwierigkeit der Rechtslage notwendig_ Eine Ausei-nandersetzung mit der Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung angesichts des nicht schweren Tatvorwurfs und mit daraus resultierenden Problemen unzulässiger Beschlagnahmen. Be-weiserhebungs- und Beweisverwertungsverboten sei geboten. für juristische Laien aber nicht möglich.

Mit Beschluss vom 16.05.2020 lehnte das Amtsgericht Halle den Antrag des Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ab. Die Sach- und Rechtslage sei nicht als so schwie¬rig zu qualifizieren. dass die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sei. Der Sachverhalt sei einfach gelagert und die betroffene Strafvorschrift weise keine besonderen Schwierigkeiten auf. Auch die Sanktionserwartung mache eine Pflichtverteidigung nicht erforderlich…..“

Und das LG ordnet dann bei. Begründung:

„Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Halle vom 26.05.2020 ist gemäß §§ 142 Abs. 7 S. 1, 311 StPO zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
Die Entscheidung des Amtsgerichts Halle ist zwar insoweit nicht zu beanstanden. dass kein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 StPO oder nach § 140 Abs. 2 Alt. 1 und 2 StPO aufgrund der Schwere der Schuld oder der zu erwartenden Rechtslage vorliegt.

Eine notwendige Verteidigung aufgrund der Schwierigkeit der Rechtslage nach § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO ist ebenfalls nicht gegeben, da weder umstrittene Rechtsfragen entschieden werden müssen noch die Subsumtion unter die anzuwendenden Vorschriften des materiellen Rechts Schwierigkeiten bereitet oder ernsthafte Ansatzpunkte für eine Entscheidung über ein Bewertungsverbot ersichtlich sind (M/G. 63. A., § 140 StPO Rn. 28). Wie die Kammer in ihrem Beschluss vom 24.06.2020 zur Beschwerde des Beschuldigten gegen die Durchsuchungsan-ordnung ausführte, waren die Voraussetzungen für eine Durchsuchung bei dem Beschuldigten nach § 102 StPO aufgrund der mit der Providerauskunft vorhandenen konkreten Verdachts-gründe gegeben. Die Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme bereitete ebenfalls keine Schwierigkeiten. da der Besitz kinderpornographischer Schriften auch aus Laiensicht keine Bagatellstraftat ist.

Eine Notwendigkeit der Verteidigung ergibt sich vorliegend aber aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage nach § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO. Dem Beschuldigten ist ein Verteidiger zur Wahr-nehmung des Akteneinsichtsrechts beizuordnen. Mit der Änderung des § 147 Abs. 4 StPO zum 01.01.2018 (Gesetz vom 05.07.2017. BGBl. I S. 2208) wurde das Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten zwar erweitert, wonach er anders als nach früherer Rechtslage einen eigenen Anspruch auf Akteneinsicht hat und damit grundsätzlich auch das Recht hat. unter Aufsicht amtlich verwahrte Beweisstücke zu besichtigen (M/G, 63. A.. § 147 StPO Rn. 31). Dem Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten stehen aber nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegen. Eine Einsicht des Beschuldigten in Beweismittelbände zu kinderpornographischen Abbildungen betrifft den Intimbereich der ab-gebildeten Person, welcher vor der Hauptverhandlung gewahrt werden soll. Ohne eine An-schauung der Abbildung als wesentliches Beweismittel ist eine ausreichende Verteidigung für den Beschuldigten aber nicht möglich. Insoweit hat der Verteidiger die Abbildung zu sichten und den Beschuldigten über seine Erkenntnisse zu unterrichten (M/G, 63. Auflage. § 147 Rn. 32 m. w. N.).“

Wie gesagt: Musik drin. Denn das LG lässt allein eine Datei, in die Einsicht zu nehmen ist, ausreichen. Besten Dank an den Kollegen für diese Entscheidung.

2 Gedanken zu „Pflichti II: Kipo-Verfahren, oder: Das gibt es wegen der Akteneinsicht auf jeden Fall einen Pflichtverteidiger

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