Die zweite Entscheidung kommt vom 1. Strafsenat. Der hat im BGH, Beschl. v. 29.01.2020 – 1 StR 637/19 – die Verurteilung zweier Angeklagter wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchter besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung aufgehoben.
Grundlage der Verurteilung waren folgende Feststellungen:
„Der Angeklagte und der Mitangeklagte kamen im Februar 2019 überein, eine noch auszuwählende Mitschülerin durch einen Würgegriff bewusstlos zu machen, mit Klebeband an einen Baum zu fesseln, das Mädchen zu vergewaltigen und schließlich zu töten.
Am Morgen des 28. Februar 2019 legten sich beide auf die 15-jährige Klassenkameradin L. als Opfer fest. Der Angeklagte und der Mitangeklagte brachten jeweils eine Rolle Klebeband und ein Messer mit zur Schule und lockten die Geschädigte gegen 9.00 Uhr in ein Waldstück. Der Mitangeklagte legte entsprechend dem Tatplan – für die Geschädigte völlig unerwartet – von hinten seinen Arm um den Hals der Geschädigten und würgte sie bis zur Bewusstlosigkeit, wobei ihn der Angeklagte unterstützte. Die Geschädigte sank bewusstlos zu Boden. Beide Angeklagte schleppten die Geschädigte zu zwei Bäumen, fesselten sie mit den Händen an die Bäume und klebten ihr Klebeband über den Mund. Sie zogen ihr anschließend Schuhe, Socken, Hose und die darunter getragenen Leggings aus. In dieser Situation gelang es der Geschädigten, eine Hand aus dem Klebeband zu reißen; sie rutschte auf den Boden und strampelte wild. Zudem löste sich das Klebeband, das auf ihren Mund geklebt war, woraufhin das Mädchen laut schrie. Um dies zu unterbinden und weitere Schreie zu verhindern, traten beide Angeklagten der Geschädigten mehrfach gegen den Kopf. Die Angeklagten, die nicht die von ihnen erwartete sexuelle Erregung verspürten, erkannten, dass sie ihren gemeinsamen Plan, das Mädchen zu vergewaltigen, nicht in die Tat umsetzen konnten und hielten den Plan für gescheitert. An ihrem weiteren Plan, das Mädchen zu töten, um eine strafrechtliche Verfolgung zu verhindern, hielten sie jedoch fest.
Der Mitangeklagte forderte den Angeklagten daher auf, der Geschädigten nunmehr die Kehle durchzuschneiden. Der Angeklagte holte sein Messer aus der Hosentasche, nahm die Schutzkappe ab und richtete das Messer gegen die Geschädigte, um der Aufforderung des Mitangeklagten nachzukommen. Die Geschädigte, die Todesangst verspürte, flehte daraufhin, ihr nichts anzutun und äußerte: „Ich sage nichts, ich verspreche es euch, ich sage nichts.“ Der Zeuge G. , der auf einem Fahrrad unterwegs war und zuvor das Schreien der Geschädigten wahrgenommen hatte, hörte das Flehen, erkannte, dass das Mädchen in akuter Gefahr war, und machte auf sich aufmerksam. Er rief in Richtung der Angeklagten: „Hey Jungs, ihr baut hier aber keine Scheiße“, woraufhin die Angeklagten antworteten: „Nein, nein.“ Die Geschädigte schrie daraufhin laut und eindringlich um Hilfe, sodass der Zeuge G. von seinem Fahrrad stieg und durch das Dickicht in Richtung der Schreie lief, wofür er weniger als eine Minute Zeit brauchte. Die Angeklagten erkannten in diesem Moment, dass der Zeuge schon so nahe bei ihnen war, dass sie die Tötung des Mädchens nicht mehr umsetzen konnten. Sie ließen die Geschädigte liegen, rannten weg und warfen die Messer in den Wald.“
Das LG hatte einen strafbefreienden Rücktritt vom Mordversuch abgelehnt, da der Versuch fehlgeschlagen sei, weil der Radfahrer gekommen sei und der Angeklagte deshalb die Tat nicht habe zu Ende bringen können. Selbst wenn der Versuch nicht fehlgeschlagen wäre, fehle es – so das LG – zudem an einem freiwilligen Rücktritt im Sinne von § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB. Durch den Zuruf und das Erscheinen des Radfahrers sei den Angeklagten klar geworden, dass sie entdeckt gewesen seien.
Der BGH sieht das anders:
„1. Der Senat kann offenlassen, ob der Angeklagte allein dadurch, dass er das Messer gegen die Geschädigte richtete, zu der Verwirklichung des Mordes bereits im Sinne von § 22 StGB unmittelbar angesetzt hat. Insoweit bestehen Bedenken, weil das Landgericht keine Feststellungen zu einer konkreten Angriffshandlung des Angeklagten getroffen hat.
2. Jedenfalls hält die Verneinung eines strafbefreienden Rücktritts des Angeklagten von dem Mordversuch rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Das Landgericht ist bei der Prüfung der Frage, ob der Versuch fehlgeschlagen ist, von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen.
Ein fehlgeschlagener Versuch liegt vor, wenn die Tat nach Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder naheliegenden Mitteln objektiv nicht mehr vollendet werden kann und der Täter dies erkennt oder wenn er subjektiv die Vollendung nicht mehr für möglich hält, wobei es auf die Tätersicht nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung ankommt (sog. Rücktrittshorizont). Erkennt der Täter zu diesem Zeitpunkt oder hat er eine entsprechende subjektive Vorstellung dahin, dass es zur Herbeiführung des Erfolges eines erneuten Ansetzens bedürfte, etwa mit der Folge einer zeitlichen Zäsur und einer Unterbrechung des unmittelbaren Handlungsfortgangs, liegt ein Fehlschlag vor (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 6. Dezember 2018 – 4 StR 260/18 Rn. 12 mwN).
Das Landgericht hat bei der Prüfung des Fehlschlags des Mordversuchs einen unzutreffenden Zeitpunkt zugrunde gelegt, nämlich den Zeitpunkt, als der Radfahrer kam und sich der Tatsituation näherte. Letzte Ausführungshandlung war aber nach den Feststellungen, dass der Angeklagte das Messer gegen die Geschädigte richtete, so dass es für die Prüfung des Fehlschlags auf das Vorstellungsbild des Angeklagten in dem Zeitpunkt unmittelbar nach Abschluss dieser Handlung ankommt. Dazu hat das Landgericht jedoch keine Feststellungen getroffen. Im Übrigen verhält sich das Urteil nicht dazu, wie sich das Flehen anschließend auf das Vorstellungsbild der Angeklagten ausgewirkt hat.
b) Demzufolge stellt das Landgericht auch bei der Frage, ob der Angeklagte freiwillig von der weiteren Tatausführung Abstand genommen hat, nicht auf den maßgeblichen Rücktrittshorizont ab.“
Also: Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an.
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