Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem schon etwas älteren BayObLG, Beschl. v. 17.02.2020 – 202 ObOWi 84/20 – aus aus Bayern. Thematik der Entscheidung: Nachträgliche Begründung des sog. Protokollurteils. Dazu das BayObLG.
„Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und zwingt den Senat bereits auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weshalb es auf die verfahrensrechtlichen Beanstandungen nicht mehr an-kommt.
1. Aufgrund der vom Amtsgericht bereits am 02.09.2019 und damit noch am Tag der Hauptverhandlung angeordneten (vgl. BI. 59 R d.A.) und am 03.09.2019 bewirkten urschriftlichen Bekanntgabe im Wege der Zustellung „gern. § 41 StPO“ eines entgegen § 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 StPO ohne Urteilsgründe abgefassten sog. ,Protokollurteils‘ ist dem Senat eine materiell-rechtliche Überprüfung auf etwaige Rechtsfehler von vornherein verwehrt.
2. Die nachträgliche Ergänzung des Urteils durch die erst nach Eingang der Rechtsbeschwerde des Betroffenen am 04.09.2019 (BI. 64 d.A.) mit den am19.09.2019 (vgl. BI. 69 d.A.) innerhalb der Frist der §§ 275 Abs. 1 StPO i.V.m. §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG zu den Akten gelangten schriftlichen Urteilsgründen war nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung unzulässig und damit für das vorliegende Rechtsbeschwerdeverfahren nicht mehr relevant (vgl. rechtsgrundsätzlich neben BGH, Besohl. v. 08.05.2013 — 4 StR 336/12 = BGHSt 58, 243 = DAR 2013, 477. = NJW 2013, 2837 = NZV 2013, 557 = NStZ 2013, 730 schon OLG Bamberg, Beschl. v. 16.12.2008 – 3 Ss OWi 1060/08 = BeckRS 2009, 3920 = ZfSch 2009, 175; ferner u.a. Beschl. v. 15.01.2009 – 3 Ss OWi 1610/08 = ZfSch 2009, 448; 27.12.2011 – 3 Ss OWi 1550/11; 22.02.2012 – 3 Ss OWi 200/12; 26.06.2013 – 3 Ss OWi 754/13; 02.07.2014 — 2 Ss OWi 625/14; 03.07.2015 — 3 Ss OWi 774/15; 08.01.2016 – 3 Ss OWi 1546/2015 und 06.06.2016 — 3 Ss OWi 646/16 = StraFo 2016, 385; siehe auch OLG Saarbrücken, Beschl. v. 06.09.2016 — Ss Bs 53/16 = NStZ 2017, 590; KG, Beschl. v. 22.02.2018 – 162 Ss 27/18 = NStZ-RR 2018, 292 = StraFo 2018, 384 und OLG Bamberg, Beschl. v. 23.10.2017 — 3 Ss OWi 896/17 = OLGSt StPO § 36 Nr 4 sowie 02.05.2018 — 3 Ss OWi 490/18 = OLGSt OWiG § 77b Nr 5).
3. Zwar gilt § 275 Abs. 1 StPO gemäß §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG im gerichtlichen Bußgeld-verfahren entsprechend. Dies bedeutet, dass das vollständige Urteil unverzüglich, spätestens je-doch innerhalb der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu den Akten gebracht werden muss, sofern es nicht bereits vollständig in das Protokoll aufgenommen wurde. Liegt jedoch ein sog. „Protokollurteil` vor, gelten die Fristen für die Urteilsabsetzung nach § 275 Abs. 1 StPO nicht (BGH, Beschl. v. 08.05.2013 — 4 StR 336/12 = BGHSt 58, 243 = DAR 2013, 477 = NJW 2013, 2837 = NZV 2013, 557 = NStZ 2013, 730).
a) Wie im Strafverfahren steht es auch im Bußgeldverfahren im nicht anfechtbaren Ermessen des Vorsitzenden zu entscheiden, ob das Urteil mit den Gründen als besondere Niederschrift zu den Akten zu bringen ist oder die Gründe vollständig in das Protokoll mit aufzunehmen sind. Hin-sichtlich Form und Inhalt unterliegt das in das Protokoll aufgenommene Urteil den gleichen Anforderungen wie die in einer getrennten Urkunde erstellten Urteile. Wenn sich die nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben bereits aus dem Protokoll ergeben, ist ein besonderer Urteilskopf jedoch entbehrlich (BGH a.a.O.).
b) Im Bußgeldverfahren eröffnet § 77b Abs. 1 OWiG — über § 267 Abs. 4 und Abs. 5 Satz 2 StPO hinausgehend — aus Gründen der Verfahrensvereinfachung und zur Entlastung der Tatsachenin-stanz die Möglichkeit, von einer schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich abzusehen. Dies ist dann der Fall, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf die Einlegung der Rechtsbeschwerde verzichtet haben oder wenn innerhalb der Frist keine Rechtsbeschwerde eingelegt wird (§ 77b Abs. 1 Satz 1 OWiG) oder wenn die Verzichtserklärungen der Staatsanwaltschaft und des Betroffenen ausnahmsweise entbehrlich sind (§ 77b Abs. 1 Sätze 2 und 3 OWiG). Im Bußgeldverfahren steht somit der Umstand, dass in dem Hauptverhandlungsprotokoll keine Urteilsgründe niedergelegt sind, der Annahme eines im Sinne der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen Urteils nicht entgegen. Es genügt, dass das Hauptverhandlungsprotokoll wie hier (vgl. BI. 56/63 d.A.) — alle für den Urteilskopf nach § 275 Abs. 3 StPO erforderlichen Angaben sowie den vollständigen Tenor einschließlich der an-gewendeten Vorschriften enthält und von dem erkennenden Richter unterzeichnet ist (BGH a.a.O.; vgl. auch schon OLG Bamberg ZfSch 2009, 175 und StraFo 2010, 468; OLG Celle NZV 2012, 45; KG NZV 1992, 332; OLG Oldenburg NZV 2012, 352).
4. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass die nachträgliche Ergänzung eines Urteils grundsätzlich nicht zulässig ist — und zwar auch nicht innerhalb der hier vom Amtsgericht ohne weiteres gewahrten Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO —, wenn es bereits aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts herausgegeben worden ist. Für das Bußgeldverfahren folgt daraus, dass ein vollständig in das Sitzungsprotokoll aufgenommenes, nicht mit Gründen versehenes Urteil, das den inneren Dienstbereich des Gerichts bereits verlassen hat, nicht mehr verändert werden darf, es sei denn, die nachträgliche Urteilsbegründung ist gemäß § 77b Abs. 2 OWiG zulässig (BGH a.a.O. m.w.N.).
a) Die Voraussetzungen für eine nachträgliche Ergänzung der Urteilsgründe waren hier aber schon deshalb nicht gegeben, weil mit dem angefochtenen Urteil gegen den Betroffenen nicht lediglich Geldbußen von nicht mehr als 250 Euro festgesetzt worden sind (§ 77b Abs. 1 Satz 3).
b) Zwar ist Voraussetzung für die Annahme der Hinausgabe eines nicht begründeten sog. ,Protokollurteils“ der erkennbar zum Ausdruck gebrachte Wille des Gerichts, dass es von den Möglichkeiten des § 77b Abs. 1 ()VVG sowie des § 275 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG Ge-brauch macht, also von einer schriftlichen Begründung des Urteils gänzlich absieht und das Urteil allein durch Aufnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll fertigt. Der Richter muss sich bewusst für eine derart abgekürzte Fassung des Urteils entschieden haben (OLG Bamberg ZfSch 2009, 175; KG NZV 1992, 332; BGH a.a.O., jeweils m.w.N.). Mit der gerichtlichen Anordnung (§ 36 Abs. 1 Satz 1 StPO) der Übersendung der Akten einschließlich eines ohne Gründe ins Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommenen bzw. als Anlage zum Hauptverhandlungsprotokoll genommenen Urteils an die Staatsanwaltschaft zur Zustellung hat sich der Tatrichter hier jedoch für die Hinausgabe einer nicht mit Gründen versehenen Urteilsfassung endgültig entschieden. Damit hat ein „Protokollurteil ohne Gründe“ den inneren Dienstbereich des Gerichts verlassen und ist mit der Zustellung an die Staatsanwaltschaft nach außen in Erscheinung getreten. Da die Tatrichterin hier das Urteil der Staatsanwaltschaft in Urschrift und im Wege der förmlichen Bekanntmachung einer Entscheidung zugeleitet hat, muss sie sich an dieser Erklärung festhalten lassen. Dabei wird den Anforderungen an eine Zustellung gemäß § 41 StPO bereits dadurch genügt, dass die Staatsanwaltschaft aus der Übersendungsverfügung in Verbindung mit der aus den Akten ersichtlichen Verfahrenslage erkennen kann, mit der Übersendung an sie werde die Zustellung nach § 41 StPO bezweckt, weshalb es dann keines – hier allerdings gegebenen – ausdrücklichen Hinweises auf diese Vorschrift bedarf (BGH a.a.O. m.w.N.).
c) Etwas anderes könnte ausnahmsweise nur dann anzunehmen sein, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände der eindeutige Wille der Tatrichterin, dass die an die von ihr verfügte förmliche Zustellung geknüpften Rechtsfolgen ausgelöst werden sollten, ersichtlich nicht hinreichend zum Ausdruck gekommen wäre (vgl. hierzu KG, Beschl. v. 22.02.2018 – 162 Ss 27/18 -= NStZ-RR 2018, 292 = StraFo 2018, 384). Hiervon kann vorliegend freilich mangels hinreichend eindeutigen Niederschlags in den Akten nicht ausgegangenen werden. Insbesondere reicht insoweit der zeitgleich mit der Verfügung vom 02.09.2019 an die verfügte Wiedervorlagefrist von 1 Woche angefügte und mit einem Fragezeichen versehene schlichte Klammerzusatz „RM?“ auch in Verbindung mit der ersichtlich für die Staatsanwaltschaft bestimmten Mitteilung, ob von dortiger Seite „auf Rechtsmittel verzichtet“ verzichtet werde, nicht aus, mag insoweit von der Tatrichterin auch tatsächlich gemeint gewesen sein, dass im Falle der Rechtsmitteleinlegung noch schriftliche Urteilsgründe zu den Akten zu bringen sein werden.“
Nichts Neues, aber man wird mal wieder daran erinnert….
Nichts Neues, aber es passiert so oft, dass man sich als Verteidiger ungläubig in die Hände klatscht. Die Rechtsbeschwerdebegründung ist bei mir schon als Textbaustein hinterlegt, so oft kommt das vor. Angesichts der mittlerweile jedenfalls in meinem Sprengel üblichen Verfahrenslaufzeiten ist das in Fahrverbotssachen natürlich Gold wert. Gerade erst wieder erstritten: OLG Brandenburg, Beschluss vom 12.08.2020 – 1 B 197/20. Tattag 21.10.2018, Urteil am 13.12.2019, RB-Entscheidung dann nochmal acht Monate später. Aufhebung aus den gleichen Gründen wie hier beim BayObLG, nur noch kürzer:
„Die Entscheidung ist allein deshalb auf die Sachrüge aufzuheben, weil das angefochtene Urteil entgegen §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 267 StPO keine für das Rechtsbeschwerdegericht beachtlichen Gründe enthält und die Voraussetzungen des § 77b OWiG für ein Absehen einer schriftlichen Begründung nicht vorlagen. Die am 8./9.1.20 zu den Akten gelangten Urteilsgründe sind unbeachtlich, weil zu diesem Zeitpunkt eine bereits nicht mehr abänderbare Urteilsfassung ohne Gründe vorlag, nachdem das nur aus dem Tenor bestehende Protokollurteil auf Verfügung des Abteilungsrichters vom 13.12.2019 hin der StA Potsdam am 17.12.2019 zugestellt worden war. Angesichts der fehlenden Gründe ist demzufolge das Rechtsbeschwerdegericht außer Stande, das angefochtene Urteil einer materiell-rechtlichen Überprüfung zu unterziehen, weshalb es der Aufhebung unterliegt.“
Und das nur, um die Akte ein bis zwei Wochen schneller aus dem Laden raus zu haben?!?
RA Nowack schrieb:“Und das nur, um die Akte ein bis zwei Wochen schneller aus dem Laden raus zu haben?!?“
Ja. So ist das bei uns leider. Der Statistik hat sich alles unterzuordnen. Schnell falsch ist besser als langsam richtig. So sieht es jedenfalls die Obrigkeit. Traurig? Ja. Aber leider Alltag. Ich arbeite anders – werde dafür aber auch sicher keine Karriere mehr machen.
Für gute und richtige Urteile wird man nicht befördert.
Aber entweder man hat Rückgrat oder eben keins. Da nehm ich lieber das Rückgrat.
Mit Rückgrat sollten wir alle arbeiten und ich kann versichern, dass Ihr Kollege, der das „falsche“ Urteil gemacht hat, einiges an Rückgrat hat. Und wenn es um die Karriere geht, spielt doch die Aufhebungsquote sicher auch nicht die geringste Rolle – oder?