Heute stelle – seit längerem mal wieder – drei Entscheidungen zur Strafzumessung vor.
Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 21.04.2020 – 4 StR 264/19. Mit ihm hat der BGH ein Urteil des LG Essen aufgehoben, das den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung und wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt hatte.Die Strafmaßrevision des Angeklagten hatte Erfolg. Dem BGH „gefallen“ die Ausführungen des LG zur Strafzumessung wegen des Vollrausches nicht:
„2. Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte Revision des Angeklagten hat Erfolg. Die Strafzumessung im Fall II.2. der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Das Landgericht hat sich im Rahmen der Strafzumessung nicht an der ausgeurteilten Tat des Vollrausches orientiert, sondern rechtsfehlerhaft Erwägungen herangezogen, die ausschließlich die im Rausch begangenen rechtswidrigen Taten der Vergewaltigung und der versuchten Nötigung betreffen.
Das Landgericht hat hinsichtlich der Rauschtat(en) strafschärfend auf die sie prägende besondere physische wie psychische Brutalität abgestellt und erschwerend gewertet, dass „die Tatausführungen sämtlich in der Wohnung des Tatopfers stattfanden und „das Verhalten des Angeklagten damit empfindlich in den privaten […] Lebensbereich“ des Tatopfers eingriffen. Schließlich hat es strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte „seine dominante Rolle“ und das in ihn gesetzte Vertrauen des Tatopfers in hohem Maße missbraucht und „gezielt ausgenutzt“ habe, dass die Zeugin bis zum Beginn der – im Zustand nicht ausschließbarer Schuldunfähigkeit begangenen – Vergewaltigung geschlafen habe.
b) Diese Strafzumessungserwägungen lassen besorgen, dass das Landgericht die Besonderheiten, die es bei der Strafbemessung im Rahmen des § 323a StGB zu beachten gilt, nicht in den Blick genommen hat. Gegenstand des Schuldvorwurfs und damit Grundlage der Strafzumessung (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) bei § 323a StGB ist nicht die im Vollrausch begangene Tat, sondern das vorsätzliche oder fahrlässige Sich-Berauschen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2000 – 4 StR 340/00, NZV 2001, 133). Mit Schaffung des Straftatbestands des § 323a StGB hat der Gesetzgeber das Sichineinen-Rausch-Versetzen im Hinblick auf die allgemeine Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit des schwer Berauschten als ein selbständiges, sanktionswürdiges Unrecht bewertet; dabei hat er die Strafbarkeit indes davon abhängig gemacht, ob bzw. in welchem Umfang sich die für die Rechtsgüter Dritter oder die Allgemeinheit gesteigerte Gefahr, die von einem Berauschten ausgeht, tatsächlich in einer konkreten rechtswidrigen Tat – der Rauschtat – niedergeschlagen hat (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2018 – 5 StR 385/18, StV 2019, 226, 228). Ein „folgenloser“ Rausch bleibt ohne strafrechtliche Konsequenzen. Demgegenüber wird derjenige wegen der Berauschung mit Strafe belegt, der in diesem Zustand einen Straftatbestand verwirklicht und hierfür nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder dies zumindest nicht auszuschließen ist (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2018, aaO, mwN). Weil der Berauschte hinsichtlich der Rauschtat nicht ausschließbar ohne Schuld handelte, darf ihm die Begehung der Rauschtat als solche nicht zur Last gelegt werden (vgl. nur BGH, Urteil vom 4. November 1970 – 2 StR 476/70, BGHSt 23, 375, 376). Diese Besonderheiten fordern im Rahmen der Strafzumessung Beachtung.
aa) Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist es zwar zulässig, den rauschtatbezogenen Umständen sowie den Tatfolgen strafschärfendes Gewicht beizumessen (vgl. BGH, Urteil vom 4. November 1970, aaO; Beschlüsse vom 17. Oktober 1991 – 4 StR 465/91, BGHR StGB § 323a Abs. 2 Strafzumessung 5; vom 9. Februar 1996 – 2 StR 17/96, BGHR StGB § 323a Abs. 2 Strafzumessung 7; Schönke/Schröder/Hecker, StGB, 30. Aufl., § 323a Rn. 29; SSW StGB/Schöch, 4. Aufl., § 323a Rn. 36; kritisch Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 1712 ff.; Fischer, StGB, 67. Aufl., § 323a Rn. 22 f.; NK StGB/Paeffgen, 5. Aufl., § 323a Rn. 90 ff., ders. NStZ 1993, 66, 67 ff.; a.A. LK StGB/Popp, 12. Aufl., § 323a Rn. 163). Daher können im Rahmen der Strafzumessung das äußere Tatbild und die tatbezogenen Merkmale der Rauschtat wie Art, Umfang, Schwere, Gefährlichkeit oder Folgen der Tat Berücksichtigung finden (vgl. nur BGH, Urteil vom 22. September 1992 – 5 StR 379/92, BGHSt 38, 356, 361). Demgegenüber dürfen Motive des Täters und Verhaltensweisen, die allein der Rauschtat anhaften, nicht strafschärfend berücksichtigt werden (vgl. BGH, Urteile vom 4. November 1970 – 2 StR 476/70, BGHSt 23, 375, 376; vom 21. Mai 1997 – 2 StR 115/97, NStZ-RR 1997, 300; Beschluss vom 15. April 1988 – 3 StR 113/88, BGHR StGB § 323a Abs. 2 Strafzumessung 1).
bb) Gemessen hieran begegnet die strafschärfende Erwägung, die Rauschtat sei „von besonderer Brutalität gekennzeichnet“ gewesen, durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Formulierung lässt ebenso wie die strafschärfende Erwägung, der Angeklagte habe den Umstand, dass das Tatopfer kurz vor Begehung der Rauschtat erwacht und in seinen Abwehrmöglichkeiten eingeschränkt gewesen sei, „gezielt“ zur Begehung der Vergewaltigung ausgenutzt, besorgen, dass das Landgericht ihm die Rauschtat als solche zur Last gelegt hat. Dies ist rechtlich durchgreifend bedenklich. Ungeachtet dessen fehlt es im Übrigen auch an Feststellungen und sie tragenden Beweiserwägungen dazu, dass der Angeklagte die Situation der Zeugin tatsächlich gezielt zur Tatbegehung ausgenutzt hat.
Diese Grenze im Einzelfall trennscharf zu ziehen, erscheint fast unmöglich. Man wird zukünftig geneigt sein, die Rauschtat überhaupt nicht mehr im Rahmen der Zumessung zu erwähnen und die „richtige“ Strafe dann mit einer schmallippigeren Begründung darzustellen.
Gerade bei der Strafzumessung gilt: Weniger (geschrieben) ist mehr (revisionssicher).
Schon die Grundausbildung zur Tarnung lehrt: Was man nicht sieht, kann man nicht angreifen.
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