Bei dem zweiten Beschluss des Tages handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 19.05.2020 – 1 BvR 1094/19. In ihm geht es um die Verfassungsbeschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung des ehemaligen Finanzministers des Landes NRW in einem Schreiben an die Finanzbehörden.
Folgender Sachverhalt: Im Rahmen eines einkommensteuerrechtlichen Festsetzungsverfahrens, in dem insbesondere die Abzugsfähigkeit der Kosten für ein gerichtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag strittig war, erhielt der Beschwerdeführer neben dem sonstigen behördlichen Schriftverkehr ein an ihn persönlich gerichtetes, mit dessen abgedruckter Unterschrift versehenes Rundschreiben des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Dort heißt es unter anderem: „Steuern machenkeinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif“. Daraufhin äußerte sich der Beschwerdeführer im März 2017 am Ende eines weiteren Schreibens an die Finanzbehörden, das hauptsächlich die Frage der Absetzbarkeit der Kosten des rechtlichen Vorgehens gegen den Rundfunkbeitrag, die angebliche Rechtswidrigkeit dieses Beitrags sowie die vermeintlich rechtswidrige Vorauszahlungsverpflichtung für das nächste Steuerjahr betraf und das auch allgemein eine „Drangsalierung“ und „Tyrannisierung“ der Bürger seitens des Fiskus geltend machte, wie folgt:
„Weitere Dienstaufsichtsbeschwerden behalte ich mir ausdrücklich vor. Sie jetzt zu erheben, dürfte allerdings sinnlos sein: Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt. Aber vielleicht führt ja die Landtagswahl im Mai 2017 hier zu Verbesserungen […]“.
Im Mai 2017 fanden in Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen statt.
Wegen dieser Äußerung verurteilte das AG den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je 35 Euro. Das LG hat die Berufung verworfen, das OLG dann die Revision. Beide sind von einem persönlichen Angriff und Schmähkritik ausgegangen. Das passt dem BVerfG nicht:
„bb) Diesen verfassungsrechtlichen Maßgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht.
(1) Die strafgerichtliche Verurteilung kann sich nicht auf den Gesichtspunkt der Schmähkritik stützen. Darauf, dass es den herabsetzenden Äußerungen an einem sachlichen Bezug fehle, stellen die Fachgerichte selbst nicht ab. Der Beschluss des Oberlandesgerichts nimmt zwar den Begriff der Schmähung in Bezug, trifft diesbezüglich aber keine spezifischen Feststellungen. Dass deren Voraussetzungen hier vorliegen könnten, ist auch nicht ersichtlich. Denn den ehrenrührigen Äußerungen in dem Schreiben vom 29. März 2017 mangelt es nicht derart an einem Sachbezug zu der vorherigen Auseinandersetzung, dass die Absicht der persönlichen Schmähung des Finanzministers gegenüber dem in dem Steuerfestsetzungsverfahren verhandelten Anliegen völlig in den Vordergrund gerückt wäre.
Der Sachbezug ergibt sich hier zum einen daraus, dass das personalisierte Rundschreiben des Finanzministers das Steuerfestsetzungsverfahren von seinem gewöhnlich eher technisch-administrativen Kontext löste und mit dem Verweis auf die allgemeine Sinnhaftigkeit von Steuern und staatlichen Leistungen eine allgemeinpolitische Dimension aufwies, worauf der Beschwerdeführer mit seiner nachgeschobenen Äußerung reagierte. Auch ist die Äußerung dadurch geprägt, dass das Verfahren – mittelbar – mit dem Rundfunkbeitrag und den dadurch finanzierten Leistungen den Gegenstand einer aktuell in Teilen der Gesellschaft emotional geführten politischen Auseinandersetzung betraf. Dabei war auch nicht ohne Sachbezug, diese allgemeinpolitische Unmutsbekundung gegen den Behördenkopf und Letztzuständigen für die vermeintlichen staatlichen Zumutungen zu richten, der zudem in dem Verfahren durch das seine Unterschrift tragende Schreiben selbst aufgetreten war.
(2) Auch der Gesichtspunkt der Formalbeleidigung rechtfertigt die angegriffenen Entscheidungen nicht. Die Begriffe „Null“ und „dilettieren“ gehören ganz offensichtlich nicht zum kleinen Kreis sozial absolut tabuisierter Schimpfwörter, deren einziger Zweck es ist, andere Personen herabzusetzen. Sie sind vielmehr, je nach Kontext, durchaus geläufige Ausdrucksmittel von Kritik.
(3) Die angegriffenen Entscheidungen sind auch nicht von einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Abwägung getragen. Sie lassen keine hinreichende Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerung gefallen ist, erkennen und zeigen nicht auf, weshalb das Interesse an einem Schutz des Persönlichkeitsrechts des ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers vorliegend die erheblichen für die Zulässigkeit der Äußerung sprechenden Gesichtspunkte überwiegt. Sie gehen auf Inhalt, Anlass, Motivation sowie die konkrete Wirkung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Falles nicht sachhaltig ein.
(a) Die angegriffenen Entscheidungen stellen in ihrer Begründung maßgeblich darauf ab, dass es sich bei der Äußerung des Beschwerdeführers nicht um eine Auseinandersetzung mit der Politik des Betroffenen, sondern um einen gezielten persönlichen Angriff auf dessen Ehre gehandelt habe. Damit wiesen die Entscheidungen der Äußerung ohne nähere Begründung eine unmittelbar in die Privatsphäre reichende Bedeutung zu. Angesichts der sonstigen Äußerungen des Beschwerdeführers in dem Verfahren, die sämtlich einen bestimmten politisch-ideologischen Hintergrund offenbaren, war es jedoch naheliegend, die Äußerung in erster Linie auf das politische und öffentlichkeitsbezogene Handeln des Finanzministers zu beziehen. Für einen solchen Bezug gerade zur Amtsführung spricht auch die Verwendung des Begriffes „rote Null“, der im zweifachen Zusammenhang mit dem Amt des Finanzministers stand (personalisiertes Anschreiben zu staatlichen Leistungen zum „Nulltarif“; in Finanzkreisen übliche Rede von der „schwarzen Null“).
(b) Auch auf den konkreten ehrschmälernden Gehalt der Äußerung gehen die angegriffenen Entscheidungen nicht in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise ein. Hier wäre insbesondere zu berücksichtigen gewesen, dass die Fähigkeit einer Person zur sachgemäßen Führung höchster öffentlicher oder politischer Ämter nicht Teil des grundlegenden sozialen Achtungsanspruchs ist und dem auch nicht nahekommt. Insoweit für ungeeignet erklärt zu werden, schmälert das Ansehen nicht in derselben Weise wie es bei elementaren gesellschaftlichen Geltungsansprüchen der Fall wäre.
(c) Bei der Gewichtung der angesichts der konkreten Äußerungsumstände drohenden Ehrbeeinträchtigung versäumen es die Entscheidungen ferner, auf die konkrete Breitenwirkung der Äußerung einzugehen, obwohl diesem Faktor erhebliches Gewicht zukommt. Die bestrafte Äußerung wurde allein in einem an den zuständigen Sachbearbeiter gerichteten Schreiben im Rahmen eines nichtöffentlichen behördlichen Verfahrens getätigt und war damit nicht – wie etwa oftmals bei Äußerungen im Internet – einem größeren Kreis von Personen zugänglich. Zwar thematisieren die Entscheidungen im Rahmen des subjektiven Tatbestandes die Frage, ob und weshalb der Beschwerdeführer mit einer Kundgabe auch gegenüber dem Betroffenen rechnen musste. Abgesehen von diesem von der Breitenwirkung verschiedenen Gesichtspunkt gehen sie jedoch nicht auf den beschränkten Rezipientenkreis der Äußerungen ein.
(d) Schließlich findet in den angegriffenen Entscheidungen nicht ausreichend Berücksichtigung, dass der Betroffene sich mit seinem personalisierten Schreiben selbst zu Wort gemeldet, einen allgemeinpolitischen Appell an den Beschwerde- führer gerichtet und damit einen konkreten Anlass für dessen Reaktion gesetzt hatte, was den Beschwerdeführer erst zu seiner herabsetzenden Äußerung veranlasste. Der Bezug der Äußerung auf das Steuerfestsetzungsverfahren und das Schreiben des Ministers wird in der Entscheidung des Landgerichts zwar im Rahmen der Strafzumessung erwähnt. Im Rahmen der bei einer Anwendung der §§ 185, 193 StGB regelmäßig gebotenen grundrechtlich angeleiteten Abwägung wäre dieser Umstand jedoch bereits bei der Frage der Strafbarkeit zu würdigen gewesen.
(e) Die Annahme der angegriffenen Entscheidungen, dass mit der Äußerung zum Finanzminister auch eine Äußerung zur Person verbunden gewesen sei, die insgesamt den Boden der sachlichen Auseinandersetzung verlasse, reichen in dieser pauschalen und kaum auf die Umstände des Falles bezogenen Form nicht aus, um von einer Würdigung der gegen eine Strafbarkeit sprechenden Gesichtspunkte wie Inhalt, Motivation (Kritik an der Regierung), Anlass und Wirkung der Äußerung abzusehen. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere, ob sich eine Aussage zur Person nur mittelbar aus der abschätzigen Äußerung zur Amtsführung ergibt, was regelmäßig als bloßer Reflex erlaubter Kritik anzusehen sein wird. Denn Bürgern muss es möglich sein, straflos und ohne Furcht vor Strafe zum Ausdruck zu bringen, dass sie eine bestimmte Person für ungeeignet zur Führung der von ihnen bekleideten öffentlichen und politischen Ämter halten. Auch solche Kritik gibt zwar nicht das Recht, zu verhetzenden Formen zu greifen, Amtsträger unmäßig zu beschimpfen und in der Öffentlichkeit verächtlich zu machen. Es ist auch im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft notwendig, Amtsträger und Politiker vor solchen Angriffen zu schützen (vgl. den Beschluss der Kammer vom heutigen Tag – 1 BvR 2397/19 -, Rn. 32). Bürger dürfen aber, insbesondere gegenüber Amtsträgern in Regierungsfunktion, auch harsche Fundamentalkritik („Null“) üben und zwar unabhängig davon, ob sie dieses negative Urteil näher begründen und ob es weniger drastische Ausdrucksformen für die Kritik gegeben hätte.
Für eine Verurteilung hätten die Entscheidungen daher im Einzelnen darlegen müssen, weshalb und inwiefern die Äußerung den Betroffenen über seine Amts- führung hinaus in seiner persönlichen Sphäre derart schwerwiegend herabwürdigte, dass die Abwägung zugunsten des Persönlichkeitsrechts ausfallen konnte. Dabei hätte sie auch die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 10 Abs. 2 EMRK beachten und darlegen müssen, warum der Beschwerdeführer die weiten Grenzen zulässiger Kritik an Politikern im vorliegenden Fall überschritten haben soll.
c) Die zulässig angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der Verkennung der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu einem anderen Ergebnis gekommen wären.“
Nun ja: Ist sicherlich Geschmacksache. Aber, wenn man im FM nichts anderes zu tun hat, als Strafantrag zu stellen in einer solchen Sache…..
Ausgehend davon, dass Herr Schäuble landein, landab, landauf, von vielen als „schwarze Null“ bezeichnet wurde… Aber schön, dass man drei Jahre und vier Instanzen braucht, um das zu klären. Kost ja nix. Wir haben ja keine drängenderen Probleme im Land. Man fragt sich schon, was der Wahnsinn soll.