Heute dann drei Owi-Entscheidungen, und zwar zum „materiellen Recht“.
Auf die erste Entscheidung, den BayObLG, Beschl. v. 02.08.2019 – 201 ObOWi 1338/19 – hatte ich gestern in Zusammenhang mit den Einsichtsentscheidungen schon hingewiesen. Hier kommt er heute noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des BayObLG zum Vorsatz bei der Absatzunterschreitung:
„b) Demgegenüber konnte auf die Sachrüge hin der Schuldspruch keinen Bestand haben, soweit das Amtsgericht von einer vorsätzlichen Tatbegehung ausgeht.
Nach den diesbezüglichen Feststellungen des Amtsgerichts hat der Betroffene, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 9 km/h überschritt, innerhalb der gesamten Beobachtungsstrecke von ca. 300 m und nicht nur im Bereich der Messstrecke, einen zu geringen und sich augenscheinlich auch nicht verändernden Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug eingehalten. Das Amtsgericht hat ausgeschlossen, dass auf der ca. 300 m langen Beobachtungsstrecke ein Einscheren eines anderen Fahrzeugs oder ein Abbremsen des vor dem Betroffenen fahrenden Fahrzeugs stattfand, das den zu geringen Abstand im Messbereich verursacht haben könnte. Es ist weiter davon ausgegangen, dass es der Betroffene „offensichtlich eilig“ hatte und das vor ihm fahrende Fahrzeug überholen wollte. Zu seinen Gunsten hat es unterstellt, dass der Betroffene davon ausgegangen ist, dass das vorausfahrende Fahrzeug auf die mittlere Spur wechseln würde, wenn der gerade stattfindende Überholvorgang abgeschlossen sein würde. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts fuhr der Betroffene „in Erwartung dieses Spurwechsels“ noch dichter auf, wobei der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug kurzfristig nur noch etwa 18 m betragen hatte (UA S. 7/8).
Diese Ausführungen tragen trotz des erkennbaren Bemühens um eine sorgfältige Beweiswürdigung die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung nicht. Vorsätzliche Tatbegehung setzt voraus, dass der Betroffene die Unterschreitung des erforderlichen Abstandes erkennt und zumindest auch billigend in Kauf nimmt. Dieses voluntative Vorsatzelement wurde vorliegend nicht hinreichend begründet. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen lässt sich nicht ausschließen, dass das zu nahe Auffahren auf einer momentanen (groben) Unaufmerksamkeit des Betroffenen beruhte. Soweit das Amtsgericht aus dem Umstand, dass der Betroffene hierbei auch noch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritt, es offensichtlich eilig hatte und nach dem Überholvorgang wieder auf die mittlere Spur einscheren wollte, einen anderen Schluss gezogen hat, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Die Annahmen des Amtsgerichts zur Motivation des Abstandsverstoßes des Betroffenen und seinem weiteren Fahrverhalten bewegen sich nämlich letztlich im Bereich bloßer Vermutungen. Weder wird im Urteil eine entsprechende Einlassung des Betroffenen mitgeteilt, die einen solchen Schluss tragfähig begründen könnte, noch vermag sich ersichtlich das Amtsgericht insoweit auf die in Augenschein genommene Videoaufzeichnung zu stützen. Allein aus der Länge der Beobachtungsstrecke von 300 Metern, auf der sich nach den amtsgerichtlichen Feststellungen keine wesentliche Abstands- oder Geschwindigkeitsänderung zeigte, kann aber nicht auf ein vorsätzliches Verhalten geschlossen werden, da angesichts der hohen Geschwindigkeit diese Strecke binnen sehr kurzer Zeit durchfahren wird und eine momentane Unaufmerksamkeit nicht auszuschließen vermag. Die Ansicht des Amtsgerichts hat ohne das Hinzutreten sonstiger für eine billigende Inkaufnahme sprechender oder gegebenenfalls indiziell beweisrelevanter Umstände – wie etwa einem Drängeln durch Setzen des Blinkers und/oder Betätigung der Lichthupe – zur Konsequenz, dass letztlich in allen vergleichbaren Fällen stets Vorsatz anzunehmen wäre (OLG Bamberg DAR 2010, 708; OLG Bamberg, Beschluss vom 19.07.2017 – 3 Ss OWi 836/17 bei juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 04.07.2018 – 2 Ss OWi 819/18; BayObLG, Beschluss vom 15.04.2019 – 202 ObOWi 442/19).
Der Senat verkennt nicht, dass gerade bei Abstandsverstößen sonstige für eine billigende Inkaufnahme sprechende oder wenigstens in diese Richtung deutende indiziell beweisrelevante Umstände häufig nur schwer festzustellen sein werden. Von Tatvorsatz wird ohne Hinzutreten weiterer Umstände im Regelfall erst ab einem Abstand von nur noch 2/10 des halben Tachowertes ausgegangen werden können. In solchen Fällen wird Fahrlässigkeit schon deshalb kaum noch lebensnah zu begründen sein, da eine derartige Fahrweise permanent die volle Aufmerksamkeit selbst eines erfahrenen Kraftfahrers erfordert und nur ausnahmsweise mit einer momentanen groben Unaufmerksamkeit erklärt werden kann (vgl. BayObLGSt 1991, 54, 55; BayObLG, Beschluss vom 15.04.2019 – 202 ObOWi 442/19; Burhoff/Gieg Handbuch für das straßenverkehrsrechtlichen OWi-Verfahren, 5. Aufl., Rn. 140 m.w.N.).“