Die zweite Entscheidung der Woche kommt vom VerfGH Berlin. Über den VerfGH, Beschl. v. 09.05.2019 – VerfGH 96/18 – hat ja auch bereits HRRS berichtet. Über die Berichterstattung bin ich auf den Beschluss aufmerksam geworden.
Im Beschluss geht es einmal mehr um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, und zwar auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:
„Die Staatsanwaltschaft Berlin ermittelte gegen den Beschwerdeführer, einen Rechtsanwalt, wegen des Tatvorwurfs der Beleidigung, derer er sich bei Gelegenheit einer mündlichen Verhandlung in einer familienrechtlichen Angelegenheit schuldig gemacht haben soll. Der Beschwerdeführer teilte bereits im Ermittlungsverfahren mit, dass er sich selbst anwaltlich vertrete, und beantragte Akteneinsicht. Die Staatsanwaltschaft korrespondierte daraufhin mit ihm unter seiner Kanzleianschrift, indes unterblieb die Notierung des Verteidigers auf dem Aktendeckel.
Eine Einstellung des Verfahrens gegen eine Auflage (§ 153a Abs. 1 StPO) lehnte der Beschwerdeführer ab, weil er eine Hauptverhandlung erstrebe und einen Freispruch erwarte. Er halte sein Verhalten für nicht strafbar; „angebliche Schmähungen“ innerhalb eines Verfahrens seien außerhalb des Verfahrens nicht justiziabel.
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht gegen den Beschwerdeführer einen Strafbefehl wegen des Tatvorwurfs der Beleidigung. Die Richterin ordnete mittels formularmäßiger Verfügung die Zustellung an den Angeklagten an und strich den ebenfalls vorgedruckten Verfügungspunkt aus, der eine formlose Übersendung an den Verteidiger vorsieht. Daraufhin wurde der Strafbefehl dem Beschwerdeführer am 28. März 2018 während eines Urlaubs unter seiner privaten Anschrift zugestellt. Die Mitteilung der Zustellung an die Kanzleianschrift unterblieb.
Nach Rückkehr aus dem Urlaub am 9. April 2018 sichtete der Beschwerdeführer zwar unverzüglich seine Post in der Kanzlei, nicht aber die private Post, da er sich noch einige Tage in der Wohnung seiner Freundin aufhielt. Nachdem er den Strafbefehl vorgefunden hatte, beantragte er mit Telefax vom 16. April 2018 Wiedereinsetzung in die Frist zur Erhebung des Einspruchs gegen den Strafbefehl, da ihm der Strafbefehl erst am 13. April 2018 zur Kenntnis gelangt sei. Diese Umstände versichere er anwaltlich. Zudem stelle sich die Zustellung an die private Anschrift als Umgehung der anwaltlichen Vertretung dar. Er habe angesichts der Mitteilung der eigenen anwaltlichen Vertretung gegenüber der Staatsanwaltschaft auch nicht mit Zustellungen an seine private Anschrift rechnen müssen.
Durch Beschluss vom 2. Mai 2018 verwarf das Amtsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist als unzulässig, da kein Wiedereinsetzungsgrund glaubhaft gemacht sei. Die eigene eidesstattliche Versicherung sei nicht ausreichend. Der Strafbefehl habe außerdem zwar dem Verteidiger zugestellt werden können, aber nicht müssen. Damit sei auch der Einspruch gegen den Strafbefehl als unzulässig, weil verspätet zu verwerfen.
Hiergegen richtete sich die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers, mit der er ausführte, dass er ungeachtet der zulässigen Zustellung an seine Privatanschrift gemäß § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO unter seiner Kanzleianschrift über den Strafbefehl hätte informiert werden müssen. Dann hätte er am 9. April 2018 noch innerhalb der Einspruchsfrist Kenntnis vom Strafbefehl erlangt, sodass er noch fristgerecht hätte Einspruch erheben können. Zudem habe ihm für die Glaubhaftmachung der Kenntnisnahme vom Strafbefehl am 13. April 2018 kein anderes Beweismittel als die eigene eidesstattliche Versicherung zur Verfügung gestanden.
§ 145a Abs. 3 Satz 2 StPO lautet:
Wird eine Entscheidung dem Beschuldigten zugestellt, so wird der Verteidiger hiervon zugleich unterrichtet, auch wenn eine Vollmacht bei den Akten nicht vorliegt; dabei erhält er formlos eine Abschrift der Entscheidung.
Das Landgericht verwarf die sofortige Beschwerde als unbegründet. Zwar werde im Falle einer entgegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO unterlassenen Benachrichtigung des Verteidigers allgemein ein Wiedereinsetzungsgrund im Sinne des § 44 StPO angenommen, da der Betroffene sich darauf verlassen können solle, dass der Verteidiger Kenntnis von der Zustellung erlange. Doch liege „der hiesige Fall bereits grundsätzlich anders“, da der Beschuldigte mit dem Verteidiger identisch sei. „Sinn und Zweck“ der Pflicht zur Benachrichtigung des Verteidigers erfülle sich daher nicht. Daher komme es auch nicht darauf an, dass die anwaltliche Versicherung eigener Wahrnehmungen im Falle der Selbstverteidigung ohnehin nicht möglich sei.
Das Amtsgericht Tiergarten und das Landgericht Berlin hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Präsident des Amtsgerichts Tiergarten hat erklärt, die Entscheidung sei von der geschäftsplanmäßig zuständigen Richterin getroffen worden, und im Übrigen von einer Stellungnahme abgesehen. Das Landgericht hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Der VerfGH Berlin hat aufgehoben und an das AG Tiergarten zurückverwiesen. Hier der Leitsatz der Entscheidung:
Wenn zum Nachweis eines für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand maßgeblichen Umstandes kein anderes Beweismittel ersichtlich ist als die eigene Versicherung des Antragstellers, so ist es mit der Garantie eines effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar, wenn ein Gericht eine solche Versicherung als Mittel der Glaubhaftmachung grundsätzlich nicht anerkennt. Denn in einer solchen Konstellation kommt der Ausschluss einer Erklärung des Antragstellers als Mittel der Glaubhaftmachung einer Versagung des Rechtsschutzes insgesamt gleich.
Und HRRS hat der Entscheidung noch zwei weitere Leitsätze gegeben:
1. Auch bei einem sich selbst verteidigenden Angeklagten ist die gemäß § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO vorgeschriebene Benachrichtigung des Verteidigers am Kanzleisitz angesichts der in Kanzleien üblicherweise getroffenen Vorkehrungen zur Wahrung von Fristen keine sinnlose Doppelung.
2. Erfolgt bei einem sich selbst verteidigenden Rechtsanwalt die Zustellung eines Strafbefehls an der Privatanschrift und wird die Benachrichtigung am Kanzleisitz unterlassen, so begründet dieser Verstoß gegen § 145a Abs. 3 Satz 2 StPO die Wiedereinsetzung gemäß § 44 StPO, sofern der Fristverstoß auf der unterlassenen Benachrichtigung beruht.