StPO III: Rechtzeitige Urteilsabsetzung?, oder: Für Unsicherheiten „haftet“ die Justiz

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 04.06.2019 – 4 RVs 55/19. Er behandelt die Frage: Zu wessen Lasten geht es eigentlich, wenn die rechtzeitige Urteilsabsetzung nicht sicher festgestellt werden kann und damit ein (Verfahrens)Verstoß gegen § 275 StPO im Raum steht.

Das OLG sagt: Das geht nicht zu Lasten des Angeklagten, sondern zu Lasten der Justiz. Begründung, u.a. unter Bezugnahme auf die Stellungnahme der GStA:

„Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO vor, da die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 1 StPO nicht eingehalten wurde. Es kann nicht nachvollzogen werden, zu welchem Zeitpunkt die schriftlichen Urteilsgründe auf der Geschäftsstelle eingegangen sind. Einen Eingangsvermerk enthält das Urteil nicht. Ein konkretes Eingangsdatum ergibt sich auch nicht aus dem Vermerk der Vorsitzenden vom 23.09.2018 (Bl. 357 d.A.). Soweit sich aus dem Judica-Auszug (Bl. 358 d.A.) ergibt, am 26.03.2018 sei der Eingang eines Tonträgers „Urteil/Verwerfung…“ auf der Geschäftsstelle erfasst worden, ergibt sich nicht zwingend, dass zu diesem Zeitpunkt auch die schriftlichen Urteilsgründe vorlagen. Der Eingang des Tonträgers alleine ist jedoch für die Einhaltung der Absetzungsfrist nicht ausreichend (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 275 Rn. 3).“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an und ergänzt:

Geht man davon aus, dass die Akten chronologisch geführt sind, was hier allerdings nicht sicher ist, weil sie zwischenzeitlich in Verlust geraten waren (vgl. Vermerk vom 23.09.2018 Bl. 357 d. A.), so könnte das vollständig abgefasste Urteil zwischen dem 06.04.2018 und dem 12.07.2018 zu den Akten gelangt sein, möglicherweise also innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist. Die Vorsitzende konnte sich an eine fristgerechte Absetzung nicht erinnern und hat bzgl. des Eingangs des Diktats auf den Judica-Eintrag vom 26.03.2018 verwiesen. Die Geschäftsstellenmitarbeiterin hat selbst keine eigene Erinnerung daran, wann das vollständig abgefasste und unterschriebene Urteil vorlag, dass sie aber davon ausgehe, dass das Urteil am Tag der Registrierung in Judica vorlag. Neben dem Eintrag vom 22.03.2018, der sich offenbar nur als Eintrag des Ergebnisses der an diesem Tag durchgeführten Hauptverhandlung darstellt, ist am 26.03.2018 der Eingang eines Tonträgers vermerkt. Außerdem findet sich der Vermerk „Urteil/Verwerfung der Berufung zu Beschuldigten H, T geändert am 26.03.2018“, was sich offenbar auf die genehmigten Änderungen im Protokoll bezieht.

Der Ausdruck aus Judica zum Verfahrensgang weist unter dem Datum 26.03.2018 folgenden weiteren Eintrag auf: „Eingangsdatum eines vollständigen Urteils/Entscheidung erfasst durch Benutzer M“. Dies könnte zunächst darauf hindeuten, dass ein vollständiges Urteil am 26.03.2018 auf der Geschäftsstelle vorlag, wobei aber unklar bleibt, ob dieses auch unterschrieben war (es hätte dann am Tag des Diktateingangs noch geschrieben, der Vorsitzenden vorgelegt, von dieser gelesen und unterschrieben werden sowie zur Geschäftsstelle zurückgelangen müssen). Die dienstliche Stellungnahme der Geschäftsstellenmitarbeitern vom 28.04.2019 ergibt keine weitere Aufklärung hierzu. Ihre weitere dienstliche Stellungnahme vom 27.05.2019 geht dahin, dass eine eigene Erinnerung nicht bestünde, sondern dass sie „dies“ nur so dem Judica-Eintrag entnehmen könne. Das lässt sich einerseits so verstehen, dass mit „dies“ ein vollständiges und unterschriebenes Urteil vorlag, andererseits aber auch so, dass lediglich auf den Judica-Eintrag (der aber selbst insoweit unklar ist) verwiesen wird. Es findet sich zudem der Eintrag „Urteil/Verwerfung der Berufung zu Beschuldigten H, T geändert am 04.07.2018 durch Benutzer M“. Insoweit bleibt auch nach der dienstlichen Stellungnahme vom 27.05.2019 gänzlich unklar, worum es sich hierbei gehandelt hat, insbesondere ob womöglich erst zu diesem Zeitpunkt ein vollständiges und unterschriebenes Urteil zu den Akten gelangt war. Die Zustellung des angefochtenen Urteils wurde durch die Vorsitzende jedenfalls erst nach Wiederauffinden der Akten am 23.09.2018 verfügt.

Letztlich kann sich der Senat nach alledem keine hinreichende Überzeugung davon verschaffen, ob das angefochtene Urteil vollständig abgefasst und richterlich unterschrieben innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist zu den Akten gebracht worden ist, wie dies § 275 Abs. 1 StPO gebietet. Zwar kann der Senat auch nicht feststellen, dass die Urteilsabsetzungsfrist versäumt wurde. Gerade in dieser Konstellation greift aber der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO ein (Gericke in: KK-StPO, 8. Aufl., § 338 Rdn. 96; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 338 Rdn. 55; Wiedner in: Graf, StPO, 3. Aufl., § 338 Rdn. 146; vgl. auch: BGH, Beschl. v. 03.11.1992 – 5 StR 565/92 -juris). Der Umstand, dass der Verfahrensverstoß nicht sicher feststeht, andererseits aber auch nicht die Wahrung der Frist des § 275 Abs. 1 StPO mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, kann nicht zu Lasten des Angeklagten gehen. Schon nach dem Gesetz wird die Nachweispflicht bzgl. der Fristwahrung den Justizbehörden auferlegt (vgl. § 275 Abs. 1 S. 5 StPO). Der Angeklagte hat auch keinen Einfluss darauf, wie die Akten geführt werden. Ihm würde bei entsprechend lückenhafter Aktenführung und fehlendem Erinnerungsvermögen auf Seiten der in der Justiz befassten Personen jegliche Möglichkeit zum Nachweis des Verfahrensfehlers genommen.“

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