Beweisantrag II: Beweisantrag im Bußgeldverfahren, oder: Zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich?

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den KG, Beschl. v. 22.11.2018 – 3 Ws (B) 282/18. Es geht um die Ablehnung eines Beweisantrags nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG im Bußgeldverfahren, also auch ein Dauerbrenner. Das AG hat den Betroffenen wegen eines Rotlichtverstoßes zu einer Geldbuße verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot festgesetzt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, mit der der Betroffene die fehlerhafte Ablehnung eines von ihm gestellten Beweisantrages rügt. Und: Die Rüge hat Erfolg:

„Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der die Verletzung formellen und sachlichen Rechts gerügt wird, hat (vorläufigen) Erfolg.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat zu dem Rechtsmittel in ihrer Zuschrift vom 9. November 2018 wie folgt Stellung genommen:

„Sie [Anm. des Senats: Die Rechtsbeschwerde] dringt mit den zulässig erhobenen Verfahrensrügen durch, das Amtsgericht habe einen Beweisantrag auf Vernehmung der Ehefrau des Betroffenen, der Zeugin A.L., zu Unrecht abgelehnt und es habe die Feststellungen nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft.

1. Der Beschluss, mit dem das Amtsgericht die Vernehmung der Zeugin L., die bekunden sollte, dass sie das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt geführt habe, abgelehnt hat, hält rechtlicher Prüfung [Anm. des Senats: Zu ergänzen ist hier offenkundig „hält rechtlicher Prüfung nicht stand“].

Das Amtsgericht führt aus, dass die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei (§ 77 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 OWiG), weil der anthropologische Sachverständige Dr. X ausgeschlossen habe, dass auf den bei den Akten befindlichen Belegfotos eine Frau als Fahrerin zu erkennen sei. Ferner habe der Betroffene sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen und somit die nunmehr benannte Zeugin ebenso wie in seinen früheren Einlassungen nicht als Fahrerin des Tatfahrzeugs ins Feld geführt.

 Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG verpflichtet, die Wahrheit vom Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der Beweisaufnahme hat der Amtsrichter – unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache (§ 77 Abs. 1 Satz 2 OWiG) – nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In § 77 Abs. 2 OWiG ist für die Beweisaufnahme im Bußgeldverfahren zudem eine über das Beweisantragsrecht der Strafprozessordnung (§ 244 Abs. 3 bis 5 StPO) hinausgehende Sondervorschrift normiert. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Hierzu müssen drei Voraussetzungen vorliegen: Es muss bereits eine Beweisaufnahme über eine entscheidungserhebliche Tatsache stattgefunden haben, aufgrund der Beweisaufnahme muss der Richter zu der Überzeugung gelangt sein, der Sachverhalt sei geklärt und die Wahrheit gefunden und die beantragte Beweiserhebung muss nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur weiteren Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sein (vgl. OLG Celle NZV 2010, 634 f.; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 17. Aufl., § 77 Rdnr. 11). Damit ist das Gericht unter Befreiung vom Verbot der Beweisantizipation befugt, Beweisanträge nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 Satz 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt (vgl. OLG Celle NZV 2009, 575; Seitz/Bauer in Göhler, a. a. O., § 77 Rdnrn. 12, 14 und 16).

Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Ablehnung des Beweisantrages das Beweisantragsrecht des Betroffenen. Denn die Grundlage, die das Amtsgericht seiner Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen zugrunde gelegt hat, ist nicht so verlässlich, dass die Möglichkeit, das Gericht könne in seiner Überzeugung durch eine weitere Beweisaufnahme erschüttert werden, vernünftigerweise auszuschließen ist. Weder in dem Beschluss selbst noch in den Urteilsgründen erfolgt eine weitere Begründung, aufgrund welcher Kriterien der Sachverständige eine weibliche Person als Fahrer ausgeschlossen hat. Es wird auch nicht deutlich, welche bei den Akten befindlichen „Belegfotos“, die auch Gegenstand des Urteils geworden sind, der Sachverständige hierbei einbezogen hat. Insoweit kann auch bei der Prüfung, ob die Aufklärungspflicht die Beweiserhebung auch unter Berücksichtigung der bisherigen Beweisaufnahme gebot, nicht außer Betracht bleiben, dass sich bei den auf die zulässige Verfahrensrüge zugänglichen Akten zwei Lichtbilder befinden (Bl. 63 oben und Bl. 70 d. A.), die nicht mit dem Lichtbild Bl. 4 d. A. des Fahrzeugführers übereinstimmen, sondern unter derselben Nr. 81523922 eine Person mit einer anderen Kopfhaltung darstellen, wobei das Amtsgericht in den Urteilsgründen ausgeführt hat, dass nur das von dem Sachverständigen gefertigten Lichtbild Bl. 69 d. A. den vorliegenden Fall betrifft und den Betroffenen abbildet (UA S. 4) und dies für die Lichtbilder Bl. 70 d. A. nicht annimmt. Aufgrund des auf beiden Lichtbildern sichtbaren weiteren Fahrzeuges (einem Taxi), des angemessenen Fahrzeugs sowie der eingeblendeten identischen Zeit auf beiden Bildern liegt dies jedoch nicht nahe, sondern dass der Tatrichter in diesem Punkt erkennbar irrt.

Die weiteren Erwägungen betreffen nicht den Ablehnungsgrund des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG, sondern stützen sich auf das Recht des Betroffenen zu schweigen und die späte Benennung von Beweismitteln. Soweit damit in Wahrheit der Ablehnungsgrund des § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG angeführt werden soll, setzt dieser voraus, dass das verspätete Vorbringen ohne verständigen Grund erfolgt ist und dass die Beweiserhebung zur Aussetzung – nicht nur zur Unterbrechung – der Hauptverhandlung führen würde. Dass diese Voraussetzungen vorliegen, wird in dem Beschluss weder dargelegt noch drängt sich dies auf. Vielmehr wäre ein verständiger Grund, wenn durch ein früheres Vorbringen für einen Angehörigen die Gefahr einer Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit bestünde (vgl. Seitz/Bauer in Göhler, a.a.O., § 77 Rdnr. 21).“

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