Beweiswürdigung I: Was ist „grobe Inkonstanz“ bei (213) sexuellen Übergriffen?

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Nach dem Schmankerl des OLG Karlsruhe (Genervtes OLG, oder: Die Berichterstatterin ist nicht Mädchen für alles) dann heute noch zwei Entscheidungen, die sich mit Beweiswürdigungsfragen beafssen. Zunächst weise ich auf das schon etwas ältere BGH, Urt. v. 06.12.2016 – 5 StR 179/16 – hin. Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung seiner Ehefrau verurteilt. Es hat ihn hingegen vom Vorwurf, 213 Sexualdelikte zum Nachteil seiner Stieftochter begangen zu haben, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dagegen die Revision der Staatsanwaltschaft, die beim BGH Erfolg hatte.

Das LG hatte sich von den „dem Angeklagten angelasteten sexuellen Übergriffen zum Nachteil seiner Stieftochter nicht zu überzeugen vermocht, weil alle von der Nebenklägerin „geschilderten Einzeltaten vor dem Hintergrund ihrer kognitiven Kompetenzen im zentralen Kern nicht hinreichend detailliert und konstant“ seien, „um den Erlebnisbezug positiv belegen zu können“ (UA S. 42 und S. 51). Ihre Angaben seien „nicht hinreichend qualitätsreich, um die Annahme einer Falschaussage, aus welcher Quelle auch immer gespeist, mit hinreichender Sicherheit zurückweisen zu können. Darüber hinaus ließen sich im Rahmen der Analyse der Entstehungsgeschichte bedeutsame Fehlerquellen für das Wirken aussageverfälschender Prozesse identifizieren, die geeignet seien, die Zuverlässigkeit der Aussage der Nebenklägerin bedeutsam einzuschränken“ (UA S. 37).“

Der BGH sieht eine Lücke in der landgerichtlichen Beweiswürdigung:

b) Das angefochtene Urteil weist bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin eine maßgebliche Lücke auf.

Das Landgericht hat hinsichtlich des Vorwurfs betreffend den 22. Febru-ar 2004 (Fall 1) rechtsfehlerhaft nicht in seine Überlegungen eingestellt, dass die Mutter der Nebenklägerin deren Angaben im Wesentlichen bestätigt hat. Es hat vielmehr lediglich darauf verwiesen, dass die Zeugin eine sexuelle Handlung des Angeklagten an der Nebenklägerin nicht gesehen hat. Dabei lässt die Strafkammer außer Betracht, dass die Zeugin bekundet hat, dass sie – als sie ins Schlafzimmer gekommen sei – ihre Tochter nicht gesehen habe. Der Angeklagte habe im Bett gelegen und geschlafen, sie habe die Decke hochgehoben und gesehen, dass die Unterhose des Angeklagten heruntergezogen gewesen sei. Ihre Tochter habe mit dem Kopf neben seinem Penis gelegen (UA S. 31). Der Umstand, dass die Mutter der Nebenklägerin ihre Tochter „lediglich neben dem entblößten Penis hat liegen sehen, und nicht gesehen hat, dass sie den Penis des Angeklagten auch im Mund hatte“ (UA S. 43) ist nicht geeignet, Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin zu begründen. Das Landgericht lässt insoweit unberücksichtigt, dass die Nebenklägerin, nachdem sie von ihrer Mutter zum Verlassen des Schlafzimmers aufgefordert worden war, durchaus der Meinung gewesen sein könnte, ihre Mutter habe diesen Teil des Kerngeschehens noch mitbekommen. Im Übrigen stellt allein die Beobachtung der Mutter bei lebensnaher Betrachtung ein schwerwiegendes Indiz dafür dar, dass es zuvor zu einem sexuellen Übergriff auf die Nebenklägerin gekommen ist.

c) Soweit das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin zum Kerngeschehen wegen teilweise unterschiedlicher Schilderungen des Vorwurfs im Ermittlungsverfahren, bei der Exploration durch den Sachverständigen und in der Hauptverhandlung als inkonstant und deshalb nicht hinreichend zuverlässig angesehen hat (UA S. 42), lässt dies besorgen, dass das Landgericht verkannt hat, dass nicht jede Inkonstanz einen Hinweis auf mangelnde Glaubhaftigkeit insgesamt begründet. Vielmehr können Gedächtnisunsicherheiten eine hinrei-chende Erklärung für festgestellte Abweichungen darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 172). Dies gilt umso mehr angesichts des langen Zeitraums zwischen der Tat und den einzelnen Befragungen der zur Tatzeit 7-jährigen Nebenklägerin.

Entgegen der Wertung des Landgerichts ist es auch nicht als „grobe“ Inkonstanz anzusehen, dass die Nebenklägerin einerseits bei ihrer polizeilichen Vernehmung die Frage, ob der Angeklagte ihren Kopf unter die Decke gedrückt habe, ausdrücklich verneint, andererseits gegenüber dem Sachverständigen und in der Hauptverhandlung bekundet hat, dass der Angeklagte ihren Kopf zu seinem Penis gedrückt habe. Gleiches gilt für ihre Aussage, dass sie den Penis des Angeklagten in den Mund genommen und daran gelutscht habe (polizeiliche Vernehmung), sie den Penis lediglich in den Mund genommen habe (Exploration) bzw. daran habe lutschen sollen (Hauptverhandlung).

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