Das BGH, Urt. v. 21.03.2017 – 1 StR 486/16 – befasst sich u.a. mit der Frage der Notwehr. Daneben spielen auch noch Beweiswürdigungsfragen eine Rolle. Die lasse ich hier mal außen vor, weil sie – wie immer – recht schwer darzustellen sind.. Bei der „Notwehrfrage“ geht es um folgenden Sachverhalt:
„Am Abend des 28. November 2015 traf der Nebenkläger vor seinem Hauseingang auf den alkoholisierten Angeklagten. Aus unklarem Anlass gerieten beide in Streit, in dessen Verlauf der Angeklagte den Nebenkläger als „Wichser“ bezeichnete. Im Rahmen der plötzlich auch körperlich geführten Auseinandersetzung wurde der Angeklagte an der Schläfe verletzt und erlitt eine blutende Wunde. Diese resultierte daraus, dass der Nebenkläger mit einer mitgeführten Bierflasche zuschlug oder mit ihr nach dem Angeklagten warf. Der Angeklagte zog sein Klappmesser hervor, öffnete dies und führte es in Richtung des Nebenklägers. Dieser hob zur Abwehr den linken Arm vor den Körper, so dass er von dem Messer an der linken Hand getroffen wurde, wodurch Muskelfasern und Sehnen durchtrennt wurden.
„Offen blieb“, ob der Angeklagte zuerst mit dem Messer den Nebenkläger verletzte, dieser dann mit der Bierflasche den Angeklagten verletzte oder ob umgekehrt zunächst der Angeklagte mit einem Wurf oder Schlag mit der Bierflasche durch den Nebenkläger verletzt wurde und sodann der Angeklagte das Messer gegen den Nebenkläger führte. „Möglicherweise“ war es der Nebenkläger, welcher mit der Bierflasche in der Hand gegen die Schläfe des Angeklagten schlug und diesen erheblich verletzte, wogegen sich der Angeklagte unmittelbar wehrte – weil der Nebenkläger noch den Flaschenhals in Händen hielt und ihn weiter attackieren wollte –, indem er das Messer hervorzog, um sich gegen diesen fortdauernden Angriff zu verteidigen.“
Das LG hat den Angeklagten vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei gesprochen. Zur Begründung des Freispruchs hat das LG ausgeführt, „aufgrund der Beweislage nicht ausschließen zu können, dass der Nebenkläger den Angeklagten zuerst angegriffen habe, wogegen sich der Angeklagte im Rahmen eines dynamischen Geschehens unmittelbar mit dem Messer zur Wehr gesetzt habe, um den Angriff und ein Nachsetzen des Nebenklägers mit dem noch in der Hand gehaltenen Flaschenhals zu verhindern.“ Zur Notwehr führt der BGH aus:
„3. Die Würdigung als gerechtfertigte Verteidigung gegenüber einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff hat Bestand.
a) Ersichtlich ist das Landgericht unter Anwendung des Zweifelssatzes vom Vorliegen eines gegenwärtigen Angriffs im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB ausgegangen.
aa) Gegenwärtig in diesem Sinne kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätz-licher nicht mehr hinnehmbarer Risiken aussetzen würde (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Dezember 1991 – 2 StR 535/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5; Urteil vom 24. November 2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38 mwN). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2005 – 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153; Beschluss vom 25. Januar 2017 – 1 StR 588/16). Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind daher nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlichen oder unverändert fortdauernden) Rechtsgutverletzung (vgl. BGH, Urteile vom 18. April 2002 – 3 StR 503/01, NStZ-RR 2002, 203; vom 9. August 2005 – 1 StR 99/05, NStZ 2006, 152, 153 und vom 24. November 2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38; Beschluss vom 25. Januar 2017 – 1 StR 588/16; siehe auch Beschluss vom 28. Oktober 2015 – 5 StR 397/15, JuS 2016, 562)……………..
b) Eine Einschränkung des Notwehrrechts wegen eines sozialethisch zu missbilligenden vorwerfbaren Vorverhaltens des Angeklagten ergibt sich nicht. Hierbei war zu berücksichtigen, dass nach dem als festgestellt beschriebenen Sachverhalt der Angeklagte den Nebenkläger im Rahmen einer bereits andauernden wechselseitigen Auseinandersetzung „Wichser“ genannt hat. Nach der ausweislich der Urteilsgründe nicht widerlegten Einlassung des Angeklagten erfolgte diese Äußerung erst als Reaktion auf eine Ohrfeige des Nebenklägers. Außerdem würde eine solche Äußerung in der konkreten Situation auch nicht zu einer Einschränkung des Notwehrrechts gegenüber dem mittels eines abgebrochenen Flaschenhalses unmittelbar drohenden Angriff führen. Denn zumutbare Möglichkeiten, dem Angriff auszuweichen oder sich zurückhaltender zu verteidigen, sind nach der Tatsachengrundlage, wonach es sich um ein in Sekundenbruchteilen ablaufendes Geschehen ohne Gelegenheit zum Nachdenken für den Angeklagten gehandelt hat, nicht erkennbar (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 1989 – 4 StR 2/89, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 4; Urteil vom 27. September 2012 – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139).
c) Nach dem der rechtlichen Würdigung zugrunde gelegten Sachverhalt handelte der Angeklagte, um sich gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff zu verteidigen. Dies wird durch seine Angabe, er habe „aus Angst, dass M. ihm den Flaschenhals reinramme“, sein Messer herausgeholt und eine Stechbewegung gemacht, ausreichend belegt. Da der Angeklagte infolgedes-sen mit Verteidigungswillen handelte, kommt es entgegen der Ansicht des Ge-neralbundesanwalts nicht darauf an, dass der Angeklagte einen weiteren An-griff nur „für möglich gehalten“ hat (vgl. nur BGH, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 3 StR 199/15, NStZ 2016, 333 mwN).“