Entscheidungen, die die Eröffnung des Hauptverfahrens aus tatsächlichen Gründen ablehnen (§ 204 Abs. 1 StPO), sind selten. Deshalb stoßen die, in denen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, auf besonderes Interesse, vor allem dann, wenn es um die in der Praxis wichtigen Fragen der Wahllichtbildvorlage und deren Beweiswert geht. Zu den Entscheidungen gehört der LG Magdeburg, Beschl. v. 09.03. 2015 – 25 KLs 323 Js 35113/14 (1/15), den mir der Kollege, der ihn „erstritten“ hat, erst jetzt hat zukommen lassen.
Nach dem Sachverhalt wurde dem Angeschuldigten mit der Anklageschrift vorgeworfen, in Magdeburg am 21. 10. 2014 einen schweren Raub begangen zu haben. Im Einzelnen wurde ihm zur Last gelegt, sich an diesem Tag gegen 21.35 Uhr in ein Sonnenstudio begeben zu haben. Dort habe er sich die Kapuze seines Pullovers in das Gesicht gezogen und eine auf dem Empfangstresen befindliche Schere ergriffen und damit die Zeugin D. mit den Worten: „Mach die Kasse auf!“ bedroht. Frau D. habe daraufhin aus Angst um ihr Leben weisungsgemäß die Kasse, aus der der Angeschuldigte sich sodann einen Bargeldbetrag in Höhe von 300,00 € entnommen habe, geöffnet. Die einzige Augenzeugin des Vorfalls, D. will den Angeschuldigten im Rahmen einer Wahllichtbildvorlage mit 90 %iger Wahrscheinlichkeit wiedererkannt haben. Das LG hat die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Und zwar aus folgenden Gründen:
„An dem Beweiswert des Wiedererkennens des Angeschuldigten im Rahmen dieser Wahllichtbildvorlage bestehen jedoch aus zwei Gründen nachträglich nicht behebbare Zweifel:
1. Die Täterbeschreibung, die die Zeugin unmittelbar nach der Tat abgebeben hat, stimmt nicht überein mit dem aus der Wahllichtbildvorlage ersichtlichen Foto des Angeschuldigten. Nach ihrer ursprünglich abgegebenen Täterbeschreibung handelte es sich bei dem Täter um eine dickliche Person mit insgesamt dicklichem Gesicht, breiter Nasenspitze und sogenannten „Tunnels“ in beiden Ohrläppchen. Diese Merkmale sind sämtlich nicht auf dem Foto des Angeschuldigten zu erkennen. Im Rahmen der Wahllichtbildvorlage will die Zeugin den Angeschuldigten an der Mundpartie und Gen stechend blauen Augen wiedererkannt haben, mithin an Merkmalen, die gerade für ihre Täterbeschreibung nicht relevant waren. Die Augen des Täters hatte sie zwar mit blau beschrieben, im Übrigen aber von großen Augenhöhlen gesprochen.
2. Der Wert der Wiedererkennung bei der Wahllichtbildvorlage wird darüber hinaus beeinträchtigt durch die Qualität der Wahllichtbildvorlage. Während alle anderen Bilder Personen mit rosafarbener Gesichtshaut zeigen, sticht der Angeschuldigte mit bleicher Gesichtsfarbe deutlich hervor, sodass angesichts der Auswahl der Fotos eine suggestive Beeinflussung der Zeugin allein durch die Art und Weise der Wahllichtbildvorlage nicht ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus erklärt die markant hervortretende bleiche Gesichtsfarbe des Angeschuldigten auch die im Rahmen des Protokolls über die Wahllichtbildvorlage geäußerte Gefühlsregung der Zeugin, die bekundete, „Mir wurde regelrecht anders, als ich dieses Bild sah.“ Weitere Indizien, die auf den Angeschuldigten hindeuten, sind nicht ersichtlich, insbesondere blieb eine daktyloskopische Untersuchung der Visitenkarten, die der Täter in der Hand gehabt hat, ohne Ergebnis.“
Klein, aber fein. Und zutreffend. M.E. hätten schon die Abweichungen zwischen der ersten Täterbeschreibung der Zeugin und dem Foto des Angeklagten genügt, um die Ablehnung der Eröffnung zu stützen. Hinzu kommen dann die Fehler bei der durchgeführten Wahllichtbildvorlage, bei der nicht die „richtigen“ Vergleichsbilder herangezogen worden sind. Das wären Bilder von solchen Personen gewesen, auf die alle von dem Zeugen bei der Personenbeschreibung angegebenen Merkmale zu trafen (vgl. dazu Nr. 18 RiStBV.
Im Übrigen: Die Entscheidung ist ein schönes Beispiel dafür, dass man sich als Verteidiger nicht „mit 90 %iger Wahrscheinlichkeit“ zufrieden geben sollte/darf. Eine Wiederholung der Wahllichtbildvorlage kam im Übrigen, worauf das LG ebenfalls zutreffend hingewiesen hat, angesichts der bereits eingetretenen Beeinflussung der Zeugin durch die fehlerhafte Wahllichtbildvorlage nicht in Betracht.
Ein ausgesprochener Seltenheitsfall aber wohl leider. Diesseits des Weißwurstäquators ist es ganz normal, dass WBV so gestaltet werden, dass das Ergebnis vorprogrammiert ist.
In nem Fall den ich hatte vor kurzem hatten die Zeugen den Täter signifikant anders beschrieben als der Mandant aussah. Trotzdem hat man Bilder genommen, die ihm ähnlich sahen. Und obwohl die Zeugen dann bei drei WBV nahezu einstimmig gesagt haben, dass sie den Täter nicht erkannt haben, wurde die Anklage zugelassen…