Ich hatte ja neulich schon zum BVerfG, Beschl. v. 02.12.2014 – 1 BvR 3106/09 –beklagt, dass es beim BVerfG leider häufig nicht so schnell geht, wie man es sich wünscht (vgl. hier: Schneckenpost aus Karlsruhe – das BVerfG schafft 1,75 Worte/Tag) und dass dadurch sicherlich nicht die Akzeptanz bei den Instanzgerichten hinsichtlich der Entscheidungen aus Karlsruhe steigt. Ein Paradebeispiel ist dafür dann jetzt auch der BVerfG, Beschl. v. 09.10.2014 – 2 BvR 2874/10, auf den ich durch den Newsletter von HRRS gestoßen bin, da habe ich auch die Leitsätze „entlehnt“. Der Beschluss zeigt m.E. noch viel deutlicher die Schere, in der das BVerfG offenbar steckt: Einerseits Beschleunigung anmahnen, andererseits aber selbst nicht „aus den Pötten kommen“.
In der Sache ist zu der Entscheidung nichts anzumerken. Es ging um einen Verurteilten, der eine Haftstrafe von vier Jahren wegen erpresserischen Menschenraubs verbüßte. Er hat Ende 2008 Strafaussetzung zur Bewährung beantragt, was ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens abgelehnt worden ist. Auf die Beschwerde hat das OLG Düsseldorf die Entscheidung etwa zwei Wochen vor dem 2/3-Termin aufgehoben und zurückverwiesen. Das LG hat dann gut weitere vier Wochen später ein Sachverständigengutachten eingeholt und dann die bedingte Entlassung des Verurteilten angeordnet. Die erfolgte dann ca. 16 Wochen nach dem 2/3-Termin, wobei zwischen der Aussetzungsentscheidung und der tatsächlichen Entlassung aus der Haft fünf Tage lagen.
Der Verurteilte war dann schon einmal beim BVerfG, nachdem das OLG seinen Antrag auf Feststellung einer sachwidrigen Verzögerung des Verfahrens abgelehnt hat. Das BVerfG hat eine Verletzung des Freiheitsgrundrechts festgestellt und den Beschluss des OLG Düsseldorf unter Zurückverweisung der Sache aufgehoben (BverfG, Beschl. v. 13.09.2010, 2 BvR 449/10).
Aber die Düsseldorfer haben es anders gesehen und den den Antrag auf Feststellung sachwidriger Verzögerung erneut zurückgewiesen, u.a. mit dem Argument, die Überschreitung des 2/3-Zeitpunkts um etwa 16 Wochen schränke den Verurteilten nicht unangemessen ein. Daraufhin dann nochmals zum BVerfG, das nun im BVerfG, Beschl. v. 09.10.2014, 2 BvR 2874/10 – nochmals das OLG in die Schranken weist. HRRS stellt folgende Leitsätze voran:
1. Das Freiheitsgrundrecht gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die angemessene Beschleunigung gerichtlicher Verfahren im Zusammenhang mit einer Freiheitsentziehung.
2. Im Verfahren über die Aussetzung des Rests einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird.
3. Für die Klärung der Frage, ob in einem Verfahren über die Reststrafaussetzung zur Bewährung der Beschleunigungsgrundsatz verletzt worden ist, hat der Verurteilte auch nach seiner Entlassung aus der Strafhaft ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse.
4. Zu berücksichtigen und zu erörtern sind in diesem Zusammenhang insbesondere der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Reststrafenaussetzung zur Bewährung, die Bedeutung dieses Verfahrens mit Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes, das Ausmaß der mit dem schwebenden Verfahren verbundenen Belastung des Verurteilten und sein Prozessverhalten.
5. Bei der Auswahl und Beauftragung eines Sachverständigen hat das Vollstreckungsgericht dem Beschleunigungsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass es maßgeblich auf die voraussichtliche Bearbeitungsdauer abstellt. Für die Zeit der Gutachtenerstellung hat das Gericht Bearbeitungsfristen zu setzen und zeitnah deren Einhaltung zu überwachen.
6. Der Beschleunigungsgrundsatz ist verletzt, wenn bei der Entscheidung über eine Reststrafenaussetzung ein Sachverständigengutachten zunächst überhaupt nicht in Auftrag gegeben worden ist, obwohl angesichts einer positiven Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt eine Strafaussetzung nahe lag.
7. Der Beschleunigungsgrundsatz ist auch dann verletzt, wenn ein erforderliches Sachverständigengutachten und die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt nicht parallel, sondern nacheinander eingeholt werden oder wenn das Vollstreckungsgericht nach Aufhebung seiner Fortdauerentscheidung bis zu einer erneuten Entscheidung etwa einen Monat zuwartet, obwohl die Sache entscheidungsreif ist und der Zweidrittelzeitpunkt unmittelbar bevorsteht. 8. Verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar ist es auch, wenn zwischen der Aussetzungsentscheidung und der bedingten Entlassung des Verurteilten aus der Strafhaft mehrere Tage liegen.“
Wie gesagt: In der Sache alles gut und richtig. Nur im Verfahren? Der zweite Beschluss des OLG Düsseldorf datiert vom 04.11.2010, es hat also vier Jahre gedauert, bis das BVerfG entschieden hat. Nun gut. Man kann ihm zu Gute halten, dass es ja „nur“ noch um ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse geht./ ging. Aber dennoch. Dafür braucht man fast vier Jahre?
Und eine Anmerkung zum zweiten OLG Düsseldorf-Beschluss: Das Argument, die Überschreitung des 2/3-Zeitpunkts um etwa 16 Wochen schränke den Verurteilten nicht unangemessen ein, halte ich schon für „stark“ und frage mich: Um die vier Monate Überschreitung des 2/3 Zeitpunktes schränken nicht unangemessen sein? Wenn nicht bei dieser Fristüberschreitung, wann denn dann? Im Verfahren hat das Justizministerium des Landes NRW übrigens, „von der Abgabe einer Stellungnahme abgesehen.“. Gut so, denn was soll man dazu auch sagen?