Viele OLG-Entscheidungen befassen sich mit der Verwerfung der Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO wegen unentschuldiugten Ausbleibens, ein scharfes Schwert, zu dem die LG m.E. gern und manchmal auch ein wenig vorschnell greifen, Folge: Das Verwerfungsurteil wird vom Revisionsgericht aufgehoben.Mit einer solchen vorschnellen Entscheidung befasst sich der KG, Beschl. v. 30.04.2013 – (4) 161 Ss 89/13 (86/13). Da hatte der Angeklagte, der zu 09.00 Uhr geladen, aber nicht erschienen war, seiner Verteidigerin um 09.10 Uhr telefonisch mitgeteilt, „er befinde sich „mit seinem Wagen an der Perleberger Brücke“ und werde „in ein paar Minuten kommen“,. Das hatte die um 09.12 Uhr an das Gericht weitergeleitet. Die Strafkammer hat das Vorbringen des Angeklagten als nicht hinreichend für eine Entschuldigung erachtet, weil ein Grund für die Verspätung nicht mitgeteilt worden sei. Ein weiteres Zuwarten über 15 Minuten hinaus hatte die Kammer weder aufgrund des Gebots eines fairen Verfahrens noch aufgrund der gerichtlichen Fürsorgepflicht als erforderlich angesehen. Sie hat die Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen und – und das ist jetzt ketzerisch – sich wahrscheinlich bis zum nächsten Termin in die Kantine oder ins Dienstzimmer begeben. Die Revision des Angeklagten hatte aber mit der Verfahrensrüge Erfolg.
„…2. Die Revision ist auch begründet. Zwar ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht allein die Mitteilung der Verspätung (verbunden mit der Ankündigung baldigen Erscheinens) nicht als genügende Entschuldigung im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO angesehen hat. Es hat aber bei seiner Entscheidung verkannt, dass es die aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens abzuleitende Fürsorgepflicht geboten hätte, vor Verwerfung der Berufung einen längeren Zeitraum zuzuwarten. Die Verwerfung der Berufung gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Rechtsmittelführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Diese Vermutung entfällt jedoch, wenn der Angeklagte noch vor dem Termin oder in der normalen Wartezeit von fünfzehn Minuten die Gründe seiner (voraussichtlichen) Verspätung mitteilt und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt. Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten (vgl. KG, Beschlüsse vom 21. November 2012 – (3) 161 Ss 239/12 (171/12) – und vom 13. Januar 2012 – (3) 161 Ss 474/11 (2/12) – m. w. Nachw.), wobei das Zuwarten hier – angesichts des der Kammer von der Verteidigerin um 9.12 Uhr mitgeteilten Umstandes, dass sich der Angeklagte auf dem Weg zum Verhandlungsort mit seinem Pkw gegen 9.10 Uhr bereits an der Perleberger Brücke und damit in unmittelbarer Nähe des Gerichts befand – voraussichtlich nur wenige Minuten betragen hätte. Mit einem noch hinreichend zeitnahen Eintreffen des Angeklagten an Gerichtsstelle war danach zu rechnen. Der Angeklagte hat in dem Telefonat mit seiner Verteidigerin die Gründe für seine Verspätung zwar nicht dargelegt. Die über die normale Wartezeit hinausgehende Wartepflicht besteht aber unabhängig davon, ob dem Angeklagten an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn, ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (KG a.a.O.). Umstände, die auf eine derartige Einstellung des Angeklagten schließen lassen, sind den Urteilsgründen nicht zu entnehmen und ergeben sich auch aus der Revisionsbegründung nicht. Den Urteilsgründen ist auch nicht zu entnehmen, dass der Kammer ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine – auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter – schlechterdings nicht zumutbar gewesen ist (vgl. KG a.a.O.; Senat, Beschlüsse vom 29. Dezember 2006 – (4) 1 Ss 500/06 (239/06) – und vom 5. Mai 1997 – (4) 1 Ss 94/97 (41/97) – [juris]; jeweils m.w.Nachw.). Angesichts des Umstandes, dass erstinstanzlich auf eine Freiheitsstrafe von vier Monaten gegen den unbestraften Angeklagten erkannt worden ist und die Wartezeit absehbar nur wenige Minuten über die ohnehin regelmäßig einzuhaltende hinaus gegangen wäre, hätte die Kammer dem Angeklagten aufgrund der ihr obliegenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einräumen müssen, durch sein – wenn auch unentschuldigt verspätetes – Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden.
EGMR, Urt. v. 08.11.2012 – 30804/07 – Neziraj ./. Deutschland:
§ 329 Abs. 1 deutsche StPO ist menschenrechtswidrig, soweit die Berufung auch dann verworfen wird, wenn ein Verteidiger erschienen ist!
OLG München: (Beschl. v. 17. 01. 2013, 4 StRR (A) 18/12) dazu: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat keine Ahnung und ist zu blöd, das deutsche Strafprozessrecht zu verstehen. Es interessiert uns nicht, was die sagen:
Zitat Art. 46 EGMR: „Art. 46 EGMR: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“.
HOPPLA!
In diesem Zusammenhang:
EGMR, Urt. v. 08.11.2012 – 30804/07 – Neziraj ./. Deutschland: § 329 Abs. 1 S. 1 deutsche StPO ist konventionswidrig und ein Menschenrechtsverstoß, wenn die Berufungsverwerfung auch dann erfolgen soll, wenn für den nicht erschienenen Angeklagten ein Verteidiger anwesend ist.
Es hat dann gerade einmal zwei Monate gedauert, bis die deutsche Strafjustiz reagiert hat: OLG München, Beschl. v. 17. 01. 2013, 4 StRR (A) 18/12. Sinngemäß : Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat echt keine Ahnung und ist zu dämlich, das System der deutschen StPO zu begreifen. Deshalb interessiert uns nicht, was die sagen.
Geht das so? Die Konvention ist ebenso wie die StPO ein deutsches Bundesgesetz. Art. 46 EGMR: „Die Hohen Vertragsparteien verpflichten sich, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“.
Ich finde den Ansatz des EGMR zwar auch recht gewagt und erst recht nicht zwingend, aber kann man das trotzdem so abbügeln??