Der Kollege Hoenig berichtet heute über einen Fall, in dem dem Angeklagten noch aufgegeben wird, den von ihm zu benennenden Pflichtverteidiger aus der Zahl der im Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwälte zu benennen. Zu Recht moniert der Kollege, dass da wohl die Gesetzesänderungen durch das 2. OpferRechtsReformGesetz, die schon am 01.10.2009 (!!!) in Kraft getreten sind, am AG, zumindest aber an dem verwendeten Textbaustein vorbeigegangen sind. Hoffentlich ist es nur das und nicht völlige Unkenntnis von den gesetzlichen Neuerungen.
Zu dem Zweifel kommt man, wenn man den Bericht eines Kollegen im Forum bei Strafrecht-Online liest. Der Kollege berichtet Folgendes:
„Mdt. soll eine räuberische Erpressung mit Waffen begangen haben. Er hat keine Vorstrafen, gehört aber einem „kleinen“ Mopedclub an, über den in letzter Zeit auch viel berichtet wird. Nun wird in dem Haftbefehl sich auf Wiederholungsgefahr bezogen. Herangezogen wird ein weiteres Ermittlungsverfahren, welches im Haftbefehl nicht beim Namen genannt wird. Auch die Akteneinsicht wurde nur teilweise gewährt. Keine Observationsberichte, TKÜ und das weitere Ermittlungsverfahren. Im Haftprüfungstermin weise ich darauf hin, dass mir vollständige Akteneinsicht zu gewähren oder mein Mandant frei zu lassen ist. Es interessiert keinen. Ich weise in der Beschwerde auf die unvollständige Akteneinsicht hin. Es interessiert keinen, aber als Friedensangebot bekomme ich weitere Teile der Akte (das weitere Verfahren – ausgedünnt – wenige Seiten dick). Ich gebe ergänzend Stellung ab, beziehe mich auf § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO (so wie vorher). Es interessiert keinen. Ich lege weitere Beschwerde ein. Bekomme die Stellungnahme der StA, die doch da auf zwei Seiten angibt, dass der von mir zitierte Paragraph nicht existent sei. DAs Landgericht schließt sich diesem an.“
Die Sache ist natürlich in der weiteren Beschwerde beim OLG Rostock. Man kann ja nur hoffen, dass wenigstens dort die Änderungen in § 147 StPO bekannt sind. Ich habe dem Kollegen geraten, vorsorglich die entsprechenden Passagen aus dem Handbuch EV zum neuen § 147 Abs. 2 S. 2 StPO beizulegen oder entsprechende Aufsätze aus StRR oder ZAP. Vielleicht auch einen aktuellen Gesetzestext.
Während des Studiums habe ich gelernt: Jura novit curia. Das scheint aber heute nicht mehr zu gelten. Mann glaubt es nicht, es ist aber leider wohl so.
Die Verwendung eines veralteten „Hinweis-Formulars“ ist natürlich ein klarer Fehler.
Für Ihre eigenwillige Interpretation des neuen § 147 II 2 StPO, wonach jetzt in Haftsachen zwingend komplette Akteneinsicht zu gewähren ist, gilt aber auch. Dazu vgl. die Gesetzesbegr.:
„Auf welche Weise die erforderlichen Informationen erteilt werden, bleibt dem Einzelfall überlassen. Allerdings ist zu beachten, dass Informationsvermittlungen, die Sachverhalte lediglich nach dem Verständnis der Ermittlungsbehörden schildern, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht ausreichend sind, da es den Betroffenen dann faktisch unmöglich ist, die Zuverlässigkeit dieser Schilderungen wirksam anzufechten. Zu betonen ist auch, dass das Gericht bei seiner Entscheidung über die Haftanordnung bzw. über deren Rechtmäßigkeit nicht solche Teile der Akten zur Grundlage seiner Entscheidung machen darf, die dem Verteidiger zuvor vorenthalten worden sind.“
Hallo, ich weiß nicht, was daran eigenwillig ist. Sie sollten mal die Gesetzesbegründung mit dem Gesetz gewordenen Textz vergleichen: In der Gesetzesbegründung gab es den 2. Halbsatz des Satz 2 nicht, in dem es jetzt heißt, dass jetzt „in der Regel“ insoweit Akteneinsicht zu gewähren ist. Und mit „in der Regel“ ist nicht der verteidigte Beschuldigte gemeint. So jedenfalls das Protokoll der entsprechenden Bundestagssitzung – können Sie abrufen unter http://www.jerzy-montag.de. Damit ist m.E. die Frage der AE geklärt, daran ist nichts „Eigenwilliges“. Und, wenn man mit der Rechtsprechung des EGMR Ernst macht, ist komplette AE zu gewähren. Allerdings – das räume ich ein – die Rechtsprechung des EGMR wird unterschiedlich gesehen/ausgelegt. Aber auch das ist nicht eigenwillig.
Im Übrigen: Die Frage der AE ist aber auch gar nicht das Problem dieses Posting. Sondern: Das Gericht kennt/kannte in dem von mir angesprochenen Fall das Gesetz nicht. Bringen wir es doch auf den Punkt. Das ist allerdings mehr als eigenwillig, gelinde ausgedrückt.
Die Worte „in der Regel … Akteneinsicht“ beziehen sich eindeutig auf die im vorhergehenden Halbsatz stehenden Worte „in geeigneter Weise“; sie regeln daher nur die Art und Weise der Information, nicht deren Umfang (wie zweifelsfrei auch aus dem „insoweit“ hervorgeht). Mit dem zweiten Halbsatz soll deshalb mitnichten die Aussage verbunden sein, die Akteneinsicht habe stets eine vollständige zu sein.
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Interessant wird der Fall, dass bei OWi-Verfahren die Kosten des Wahlverteidigers gem. §§ 464a II StPO i.V.m. 91 II ZPO wieder auf die eines ortsansässigen Verteidigers gekürzt werden sollen. ( So LG Karlsruhe, Bezirksrivesorin)