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OWi III: Die Rechtspflegerin will nicht protokollieren, oder: Wiedereinsetzung wegen Fehler der Justiz

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Und zum Tagesschluss dann noch der OLG Köln, Beschl. v. 22.02.2024 – III 1 ORbs 38/24 – auch eine etwas kuriose Sache.

Das AG hat mit Urteil vom 20.10.2023 den Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der Betroffene zum Hauptverhandlungstermin unentschuldigt nicht erschienen sei. Das Urteil ist dem Betroffenen am 27.10.2023 zugestellt worden.

Mit persönlich verfasstem Schreiben vom 29.10.2023, eingegangen beim AG am selben Tag, hat der anwaltlich nicht vertretene Betroffene die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantragt.

Am 24.11.2023 hat der Betroffene den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle beim AG begründet. Er hat beantragt, die Rechtsbeschwerde zuzulassen und zur Begründung ausgeführt, das Urteil verletze ihn in mehrfacher Hinsicht in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör. Unter anderem sei sein Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen rechtsfehlerhaft vom AG abgelehnt worden.

Mit Schreiben vom 04.12.2023, eingegangen beim AG am selben Tag, hat der Betroffene die protokollierende Rechtspflegerin dann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Diese habe ihn gehindert, lückenlos zum Verfahrensgang vorgetragen und erklärt, dies sei gar nicht notwendig. Den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat der Betroffene sodann noch im selben Schreiben ergänzend begründet und in diesem Rahmen nähere Ausführungen zum Verfahrensgang getätigt.

Das OLG hat den Zulassungsantrag des Betroffenen als derzeit unzulässig angesehen und den betroffefen darauf hingewiesen, dass ihm Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des AG gewährt werden kann, wenn er innerhalb einer Frist von einem Monat, die mit der Zustellung des OLG-Beschlusses beginnt den Zulassungsantrag (noch einmal) formgerecht begründet. Dazu hat es die Akten an das AG zurückgegeben. Begründung:

„Der Zulassungsantrag des Betroffenen ist (derzeit) unzulässig.

Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft ist die vom Betroffenen erhobene Verfahrensrüge (bisher) nicht in zulässiger Weise erhoben.

Der Betroffene wird jedoch darauf hingewiesen, dass er Gelegenheit hat, binnen einer Frist von einem Monat, die mit Zustellung dieses Beschlusses zu laufen beginnt, einen formgerechten Zulassungsantrag zur Akte zu reichen.

Im Einzelnen:

1. Der Betroffene hatte bei der Begründung seines Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde die Vorgaben der §§ 344, 345 StPO, 80 Abs. 3 S. 3 OWiG zu beachten.

Danach bedurfte es der Einreichung einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder einer Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 345 Abs. 2 StPO).

Der Betroffene hat den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zwar fristgerecht – am 24. November 2023 – zu Protokoll der Geschäftsstelle begründet.

Dem protokollierten Vorbringen ist auch zu entnehmen, dass der Betroffene die Verletzung seines rechtlichen Gehörs rügt, das er in mehrfacher Hinsicht verletzt sieht, unter anderem weil seinem Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu Unrecht nicht stattgegeben worden sei.

Ebenso geht der Betroffene in rechtlicher Hinsicht zutreffend davon aus, dass der Anspruch auf Gewährung von rechtlichem Gehör verletzt ist, wenn über einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen überhaupt nicht oder ohne eine auf § 73 Abs. 2 OWiG zurückführbare Begründung entschieden wird. Dies entspricht ständiger Senatsrechtsprechung.

Gleichwohl ist eine Versagung des rechtlichen Gehörs vorliegend nicht hinreichend dargetan.

Die Versagung des rechtlichen Gehörs ist mit einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Verfahrensrüge geltend zu machen (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. SenE v. 04.02.1999, NZV 1999, 264; SenE v. 15.04.1999, NZV 1999, 436; SenE v. 08.01.2001, DAR 2001, 179; SenE v. 11.01.2001, VRS 100, 204). Das Rügevorbringen muss so vollständig sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht überprüfen kann, ob die Voraussetzungen für eine Entbindung von der Anwesenheitspflicht nach § 73 Abs. 2 OWiG vorlagen (SenE v. 21.12.2001, NStZ 2002, 268 [269]; SenE v. 11.01.2002, NStZ-RR 2002, 114 [116]; OLG Hamm, VRS 107, 120 [122]; OLG Koblenz, zfs 2005, 311; OLG Saarbrücken, VRS 114, 50 [51]). Zur gesetzmäßigen Ausführung der Rüge bedarf es neben der Mitteilung des Entbindungsantrags und der ablehnenden Gerichtsentscheidung der genauen Darlegung der Einzelumstände, aus welchen Gründen ein Anspruch auf Entbindung bestand.

Eine Verfahrensrüge betreffend die Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen ist nach diesen Maßgaben (bisher) nicht in zulässiger Weise erhoben worden.

Die Überprüfung der Verfahrenstatsachen auf der Grundlage des zu Protokoll der Geschäftsstelle gegebenen Beschwerdevorbringens des Betroffenen ergibt zwar, dass der Betroffene einen Antrag auf Entbindung von der Teilnahme an der Hauptverhandlung vom 20. Oktober 2023 gestellt hat. Der Antrag soll am 13. Oktober 2023 beim Amtsgericht Geilenkirchen eingegangen sein.

Das Rügevorbringen ist indes schon deshalb unvollständig, weil die Erklärungen zur Niederschrift im Protokoll der Geschäftsstelle den Inhalt des Entbindungsantrages und den Inhalt des gerichtlichen Ablehnungsbeschlusses nicht ausreichend vollständig wiedergeben. Dem Beschwerdevorbringen lässt sich nur entnehmen, der Betroffene habe erklärt, er wolle sich in der Hauptverhandlung ,,zur Sache“ nicht einlassen. Im weiteren Verlauf der Beschwerdebegründung heißt es, der Betroffene habe bekundet, „sich in tatsächlicher Hinsicht“ nicht zu erklären. Auch soll die Formulierung ,.zum jetzigen Zeitpunkt“ verwendet worden sein. Der genaue Wortlaut erschließt sich indes nicht. Auch fehlt es an einer hinreichenden Wiedergabe der vom Betroffenen angegebenen Gründe, mit welchem er seinen Entpflichtungsantrag begründet hat. Eine hinreichende Darstellung des Inhalts des Ablehnungsbeschlusses des Amtsgerichts fehlt ebenfalls.

Ein Rückgriff auf die Ausführungen in dem vom Betroffenen persönlich gefertigten Schreiben vom 4. Dezember 2023 ist dem Senat verwehrt, da das Schreiben nicht den Formerfordernissen des § 345 Abs. 2 StPO entspricht.

2. Eine Verwerfung des Rechtsmittels des Betroffenen als unzulässig (§§ 349 Abs. 1 StPO, 80 Abs. 4 OWiG) kommt derzeit gleichwohl nicht in Betracht. Eine Entscheidung über den Zulassungsantrag kann derzeit noch nicht ergehen.

Denn schon nach Aktenlage erscheint es hinreichend glaubhaft im Sinne von §§ 44 Abs. 1 S. 1 StPO, 46 Abs. 1 OWiG, dass der Betroffene ohne eigenes Verschulden an der Einreichung einer formgerechten Antragsbegründungsschrift gehindert gewesen ist, weil die zuständige Rechtspflegerin davon abgesehen hat, eine vom Betroffenen gewünschte Darstellung des Verfahrensverlaufs zu protokollieren. Hierfür spricht die Aktenlage und insbesondere der Inhalt des Schreibens des Betroffenen vom 4. Dezember 2023. Der Senat geht deshalb davon aus, dass eine Protokollierung des genaueren Verfahrensgangs aus Gründen, die maßgeblich im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, unterblieben ist.

Sind aber – wie hier – die Gründe für die (derzeitige) Unzulässigkeit eines Rechtsmittels in der Sphäre der Justiz entstanden, kann dem mit der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen gegen die Versäumung der Frist zur An-bringung einer (formgerechten) Rechtsmittelbegründung begegnet werden (BVerfG, NJW 2013, 446; BVerfG BeckRS 2006, 28183; Gericke in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 345 Rdn. 26).

Die mithin grundsätzlich mögliche Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann allerdings – selbst wenn der Wiedereinsetzungsgrund in einer fehlerhaften Sachbehandlung durch die Justiz liegt – erst gewährt werden, wenn die versäumte Handlung (hier die formgerechte Rechtsmittelbegründung) nachgeholt worden ist (§ 45 Abs. 2 S. 2 u. S. 3 StPO, 46 Abs. 1 OWiG).

Hierauf ist der Betroffene hinzuweisen.

Ihm ist Gelegenheit zur formgerechten Begründung seines Rechtsmittels zu geben, wobei ihn die in § 45 StPO vorgesehene Wochenfrist mit Blick auf die Kenntniserlangung während des laufenden Rechtsmittelverfahrens, dass seine Rechtsmittelbegrün-dung aufgrund eines Verschuldens der Justiz in nicht zulässiger Weise erfolgt ist und was er nun zu unternehmen hat, unangemessen benachteiligen würde. Zu gewähren ist ihm daher – in Anlehnung an die Fristbestimmung in §§ 345 StPO, 80 Abs. 3 OWiG – eine Frist von einem Monat (vgl. SenE v. 07.12.2023 – 111-1 ORbs 359/23; SenE v. 19.09.2023 – 111-1 ORs 109/23; OLG Bamberg, Beschluss v. 25.10.2017 – 2 Ss OWi 1399/17 — juris).

Die hiernach für die Nachholung der Rechtsmittelbegründung maßgebliche Wiedereinsetzungsfrist von einem Monat beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, mit dem der Betroffene über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit belehrt wird (vgl. BVerfG NJW 2013, 446; BVerfG NStZ-RR 2005, 238; BVerfG, Beschluss v. 27.06.2006 – 2 BvR 1147/05, juris).

3. Der Betroffene erhält nach alledem Gelegenheit, binnen eines Monats nach Zustellung dieser Senatsentscheidung sein Rechtsmittel (erneut) zu begründen.

Er wird darauf hingewiesen, dass die Begründung nur in einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle erfolgen kann (§ 345 Abs. 2 StPO).

Zum Zweck der Entgegennahme einer evtl. weiteren Rechtsmittelbegründung sind die Akten an das Amtsgericht Geilenkirchen zurückzuleiten.

Vorsorglich wird auch darauf hingewiesen, dass eine von dem Betroffenen persönlich gefertigte Revisionsbegründungsschrift und von dem Rechtspfleger lediglich am Schluss des Protokolls mitunterzeichnete Rechtsbeschwerdebegründung nicht den Erfordernissen einer ordnungsgemäßen Protokollierung im Sinne von § 345 Abs. 2 StPO entspricht. Die wirksame Erklärung der Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle setzt voraus, dass der – hierfür zuständige – Rechtspfleger, der eine Prüfungs- und Belehrungspflicht innehat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 345 Rdn. 21), an der Erklärung inhaltlich mitwirkt.“

Jetzt geht dann hoffentlich nichts mehr daneben 🙂 .

OWi I: Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot, oder: Hat das AG nicht erneut die Akte angesehen?

Smiley

Und dann ein wenig aus dem OWi-Bereich, aber nichts Besonderes, sondern „Main-Stream“. Alle drei Entscheidungen behandeln verfahrensrechtliche Fragen.

Ich starte mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 28.03.2024 – 2 ORbs 350 SsBs 54/24.

Das AG hatte den Betroffenen am 20.12.2022 wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 500 EUR verurteilt. Auf die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte das OLG Karlsruhe das Urteil mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und zurückverwiesen.

Mit Urteil vom 12.09.2023 verhängte das AG gegen den Betroffenen dann wegen fahrlässiger Geschwindigkeitsüberschreitung eine Geldbuße in Höhe von 200 EUR und ordnete zudem ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG an. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Betroffene erneut mit der Rechtsbeschwerde, die – zum Teil – erfolgreich war. Das OLG hat das Fahrverbot entfallen lassen:

„1. Soweit das Amtsgericht gegen den Betroffenen ein Fahrverbot verhängt hat, hat es wie der Rechtsbeschwerdeführer und die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend darlegen – gegen das Verbot der Schlechterstellung gemäß § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 358 Abs. 2 S. 1 StPO verstoßen (vgl. OLG Bamberg, NStZ-RR 2015, 184; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.07.1993 – 3 Ss 99/93-, NZV 1993, 450). Das hat der Senat von Amts wegen zu beachten, weil es sich insoweit um ein Verfahrenshindernis handelt (vgl. BGH, StV 2014, 466). Der Umstand, dass das Amtsgericht die ursprüngliche Geldbuße von 500 Euro auf 200 Euro reduziert hat, ändert hieran nichts (OLG Bamberg, a.a.O.; OLG Hamm, Beschluss vom 02.07.2007 – 3 Ss Owi 360/07 -, NZV 2007, 635).

2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird aus den von der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 24.01.2024 zutreffend genannten Gründen, auf die der Senat verweist, als unbegründet verworfen.

3. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich die rechtsfehlerhafte Verhängung des Fahrverbots wegen der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot (dazu: BGH, Beschluss vom 11.11.1970 – 4 StR 66/70 – = BGHSt 24,11) auf die Bußgeldhöhe ausgewirkt hat, was sich hier bereits an der vom Amtsgericht vorgenommenen Reduzierung der ursprünglichen Bußgeldhöhe zeigt. Das Amtsgericht wäre auch im Falle einer Zurückverweisung der Sache nicht wegen des Verschlechterungsverbots gehindert, nunmehr eine die zuletzt verhängte Geldbuße von 200 Euro übersteigende Geldbuße festzusetzen. Denn im Hinblick darauf, dass das Fahrverbot die schwerwiegendere Sanktion darstellt, wäre insoweit die Verhängung einer höheren Geldbuße anstelle des Fahrverbots als milderes Mittel nicht unzulässig (BGH, a.a.O.; OLG Bamberg, a.a.O.).

Der Senat sieht aber auf den entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft hin aus prozessökonomischen Gründen und im Hinblick auf den Zeitablauf seit der Tat von einer (erneuten) Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache ab und macht von der ihm nach § 79 Abs. 6 OWiG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, in der Sache selbst zu entscheiden. Entgegen dem Wortlaut dieser Vorschrift kann er auch dann ohne vorherige Aufhebung des angefochtenen Urteils selbst entscheiden, wenn und soweit er – wie vorliegend – der angefochtenen Entscheidung im Übrigen folgt und die vom Amtsgericht getroffenen Feststellung für eine eigene Bewertung der Rechtsfolgen ausreichend sind (vgl. BayObLG, Beschluss vom 18.07.1997 – 2 ObOWi 352/97 -, BeckRS 1997, 7105; OLG Bamberg, a.a.O.). Da es sich bei der vom Amtsgericht verhängten Geldbuße von 200 Euro um die Regelgeldbuße gemäß Nr. 11.3.6 BKat handelt, sieht der Senat keinen Anlass, hiervon nach oben oder unten abzuweichen. Trotz der vorhandenen Voreintragungen im FAER erschien eine Erhöhung der Regelgeldbuße im Hinblick darauf, dass die Tat inzwischen mehr als 1 1/2 Jahre zurückliegt und der Betroffene seither nicht mehr in Erscheinung getreten ist, nicht mehr sachgerecht.“

Ich frage mich: Hat man beim AG die Akten nicht noch einmal gelesen? Kopfschüttel…..

BGH III: Darlegungsmängel bei der Beweiswürdigung, oder: Wenn der wesentliche Inhalt der Einlassung fehlt

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Und als dritte Entscheidung stelle ich den BGH, Beschl. v. 05.12.2023 – 4 StR 421/23 – vor.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen schweren sexuellen Missbrauchs „eines“ Kindes in 37 Fällen, verurteilt.  Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hatte Erfolg. Der BGH beanstandet die Beweiswürdigung des LG, die weise zum Tatgeschehen weist durchgreifende Darlegungsmängel auf:

„b) Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Sachverhalt wie folgt begründet: Der Angeklagte habe die Taten so wie festgestellt gestanden. Sein Geständnis sei glaubhaft. Es stehe im Einklang mit der Zeugenaussage der Nebenklägerin. Die Feststellungen zu den Folgen der Taten für die Nebenklägerin seien anhand ihrer eigenen glaubhaften Angaben getroffen worden.

c) Diese Beweiserwägungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand.

aa) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 2. März 2017 – 4 StR 397/16 Rn. 4; Urteil vom 22. November 2016 – 1 StR 329/16 Rn. 18; Urteil vom 12. Februar 2015 – 4 StR 420/14 Rn. 9; jeweils mwN). Dabei verpflichten §§ 261 und 267 StPO den Tatrichter, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19 Rn. 4 mwN). Die wesentlichen Beweiserwägungen müssen daher – über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus – in den schriftlichen Urteilsgründen so dargelegt werden, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist (BGH, Urteil vom 30. März 2023 – 4 StR 234/22 Rn. 12; Beschluss vom 22. November 2022 – 2 StR 262/22 Rn. 12; Beschluss vom 18. November 2020 – 2 StR 152/20).

Die sachlich-rechtliche Begründungspflicht umfasst die Verpflichtung, auch die geständige Einlassung des Angeklagten jedenfalls in ihrem wesentlichen Inhalt wiederzugeben (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2015 – 2 StR 322/15 Rn. 6). Denn ein Geständnis enthebt das Tatgericht nicht seiner Pflicht, es einer kritischen Prüfung auf Plausibilität und Tragfähigkeit hin zu unterziehen und zu den sonstigen Beweismitteln in Beziehung zu setzen. Erforderlich ist außerdem, dass das Tatgericht in den Urteilsgründen für das Revisionsgericht nachvollziehbar darlegt und begründet, weshalb es das Geständnis für glaubhaft erachtet. Hierbei hängt das Maß der gebotenen Darlegung von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalles ab (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2013 – 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212 Rn. 14). Es steht – wie der weitere Aufklärungsbedarf (§ 244 Abs. 2 StPO) – in einer umgekehrten Wechselbeziehung zu der inhaltlichen Qualität des Geständnisses (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 2 StR 552/19 Rn. 20; Beschluss vom 7. November 2018 – 1 StR 143/18 Rn. 7; Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 Rn. 9 ff.; MüKo-StPO/Wenske, 2. Aufl., § 267 Rn. 188 ff.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2023 – 2 BvR 2103/20 Rn. 49 ff.). Bei einem detaillierten Geständnis des Angeklagten können knappe Ausführungen genügen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juli 2003 – 3 StR 368/02 Rn. 21; s. hingegen zum „Formalgeständnis“ etwa BGH, Urteil vom 26. Januar 2006 – 3 StR 415/02 Rn. 3). Decken sich die Angaben des Angeklagten mit sonstigen Beweisergebnissen und stützt der Tatrichter seine Überzeugung von der Glaubhaftigkeit des Geständnisses auch auf diese Beweisergebnisse, so ist er zu deren jedenfalls gedrängter Wiedergabe verpflichtet, da anderenfalls eine revisionsgerichtliche Überprüfung seiner Überzeugungsbildung nicht möglich ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Dezember 2015 – 2 StR 322/15 Rn. 6).

bb) Den sich hieraus ergebenden Darlegungsanforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Die Strafkammer teilt schon den wesentlichen Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht mit, von dem die weiteren Anforderungen an die Überzeugungsbildung und deren Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen abhingen. Es bleibt unklar, ob er in eigenen Worten ein detailliertes Geständnis hinsichtlich der insgesamt 132 Taten, begangen im Zeitraum von 2011 bis 2019, abgelegt und Nachfragen beantwortet oder etwa pauschal – ggf. über eine von ihm bestätigte Verteidigererklärung – die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als zutreffend bezeichnet hat. Eine auch nur gedrängte Wiedergabe des Inhalts des Geständnisses ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die zusammenfassende Wertung, der Angeklagte habe die Taten „so wie festgestellt“ gestanden, genügt hierfür nicht. Denn sie lässt den inhaltlichen Gehalt der Einlassung selbst nicht erkennen. Auch eine (nachvollziehbare) Bewertung des Geständnisses für sich genommen enthalten die Urteilsgründe nicht.

An die weitere Überprüfung des Geständnisses sind zwar geringere Anforderungen zu stellen, wenn es mit Angaben des Tatopfers übereinstimmt und das Tatgericht diese Angaben nachvollziehbar für glaubhaft erachtet. Hieran fehlt es aber. Die Urteilsgründe teilen den wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der Nebenklägerin auch nicht gedrängt mit. Die Glaubhaftigkeit dieser Aussage wird zudem nur pauschal behauptet, vom Landgericht jedoch nicht mit beweiswürdigenden Erwägungen begründet. Dessen Überzeugungsbildung vermag der Senat daher nicht zu überprüfen.

Darüber hinaus lassen die Urteilsgründe nachvollziehbare Erwägungen vermissen, aus welchen Gründen sich die Strafkammer von den Zeitpunkten und der Anzahl der abgeurteilten Taten überzeugt hat. Die Tatzeiten sind dabei mit Blick auf das jeweilige Alter der Geschädigten für die Anwendbarkeit der von der Strafkammer herangezogenen Straftatbestände der § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 und § 184b Abs. 1 Nr. 3 StGB aF entscheidend. Von dem Alter der Nebenklägerin hängt auch der Schuldspruch im Fall 131 der Urteilsgründe ab, in dem das Landgericht neben einer Vergewaltigung tateinheitlich den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern bejaht hat. Zu näheren Beweiserwägungen hierzu musste sich das Landgericht mit Blick auf die Vielzahl und Komplexität der Tatvorwürfe und das naheliegend nur noch eingeschränkte Erinnerungsvermögen des geständigen Angeklagten an Einzelheiten des Tatgeschehens gedrängt sehen (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 2 StR 53/22 Rn. 11; Beschluss vom 13. September 2016 – 5 StR 338/16 Rn. 9 mwN). Nach den Feststellungen beging er eine Vielzahl der abgeurteilten Taten serienhaft und vor langer Zeit. Zusätzlich überlagerten sich verschiedene sexuelle Handlungen (Berührungen, Oralverkehr) in zeitlicher Hinsicht. Ist – wie hier – eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingegrenzt hat und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten in diesem Zeitraum gründet (vgl. BGH, Urteil vom 27. Januar 2022 – 3 StR 74/21 Rn. 13; Beschluss vom 20. Juni 2001 – 3 StR 166/01 Rn. 7). Hieran fehlt es. Das Landgericht hätte näher darlegen müssen, aufgrund welcher Beweisumstände es von den festgestellten Tatzeiträumen und der in den Fällen 1-93 und 95-130 abgeurteilten Mindestanzahl von Taten überzeugt war. Zugleich hätte die Strafkammer auf diesem Hintergrund ihre Beweiserwägungen darstellen müssen, die die Einbettung der Einzelfälle 94, 131 und 132 in das Gesamtgeschehen und damit das hier jeweils festgestellte Alter der Nebenklägerin tragen.“

Ich verstehe es nicht. Wenn ich schon lese: „Die Strafkammer teilt schon den wesentlichen Inhalt der Einlassung des Angeklagten nicht mit, von dem die weiteren Anforderungen an die Überzeugungsbildung und deren Darlegung in den schriftlichen Urteilsgründen abhingen.“ Und das bei einer großen Strafkammer. Da sollte man doch davon ausgehen können, dass zumindest der Vorsitzende weiß, wie man eine vernünftige Beweiswürdigung macht. Offenbar ist das aber nicht der Fall. Zumindest hier nicht…..

BGH II: Beweisantrag nach Ablauf einer gesetzten Frist, oder: Fristsetzung muss nicht begründet werden

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Und dann die zweite Entscheidung, der BGH, Besch. v. 10.01.2024 – 6 StR 276/23 – zu der (neuen) Vorschrift des § 244 Abs. 6 Satz 3 SzPO, also Fristsetzung zur Stellung eines Beweisantrages.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem mehreren Angeklagten Diebstahl vorgeworfen worden ist. Zwei der Angeklagten haben ihre Revisonen gegen ihre Verurteilungen auch mit der Verfahrensrüge begründet und zu deren Begründung folgendes Verfahrensgeschehen beanstandet:

Der Vorsit­zende der Strafkammer hatte am 11. Hauptverhandlungstag den Verfahrensbeteiligten eine Frist bis 11.07.2022 gesetzt, um Beweisanträge zu stellen. Diese Anordnung wurde auf Initiative der Verteidigung mehrfach verlängert. Am 15. Hauptverhandlungstag, an welchem diese Frist ablief, beantragte der Verteidiger des einen Angeklagten, ein Sachverständigengutach­ten einzuholen.

Die Strafkammer lehnte den Antrag am 04.10.2022 (16. Hauptverhand­lungstag) ab. Nach Ablauf der vom Vorsitzenden gesetzten Frist stellte der Verteidiger dieses Angeklagten am 17. Hauptverhandlungstag drei Beweisanträge. Am folgenden Sitzungstag gab der Vorsitzende bekannt, dass die Straf­kammer diese Anträge erst im Urteil bescheiden werde. Dies beanstandete der Verteidiger des Angeklagten. Die Strafkammer wies die Beanstandung zurück und lehnte die Anträge in den schriftlichen Urteilsgründen wegen Bedeutungslosigkeit ab. Die Revisionen der Angeklagten blieben hinsichtlich dieses Verfahrensgeschehens erfolglos:

„3. Die Strafkammer hat durch die Bescheidung der drei nach Fristablauf gestellten Anträge in den Urteilsgründen § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO nicht verletzt.

a) Der Vorsitzende hat die Frist nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO wirksam gesetzt. Hierfür war – entgegen dem Revisionsvorbringen – der konkrete Verdacht einer Verschleppungsabsicht nicht erforderlich. Der Senat schließt sich der Ansicht und Begründung des 3. Strafsenats an (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22, Rn. 18 ff. mwN).

b) Der Beschwerdeführer beanstandet zudem ohne Erfolg, dass der Vorsitzende seine Anordnung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO nicht begründet hat.

aa) Bei der Fristbestimmung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO handelt es sich um eine Prozesshandlung des Vorsitzenden in Ausübung seiner Sachleitungsbefugnis (§ 238 Abs. 1 StPO), für die weder Gesetzeswortlaut noch systematische Erwägungen eine Begründung verlangen. Anderes folgt auch nicht aus § 34 StPO, weil die Anordnung nicht mit einem Rechtsmittel anfechtbar ist. Schließlich ergibt die Entstehungsgeschichte der Norm keine Anhaltspunkte für eine Begründungspflicht. Die Regelungen des § 244 Abs. 6 Sätze 3 bis 5 StPO wurden mit dem Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17. August 2017 (BGBl. I S. 3202) – damals als Sätze 2 bis 4 – geschaffen. Der zugrundeliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drucks. 18/11277) enthält keine Ausführungen zu einem etwaigen Begründungserfordernis. Im Gegenteil lässt sich dem Reformgesetz die Bestrebung entnehmen, dem Vorsitzenden nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme die Bestimmung einer Frist für die Stellung weiterer Beweisanträge gerade zum Zwecke einer effizienten Verfahrensführung zu ermöglichen. Eine in jedem Fall notwendige Begründung liefe der erstrebten zügigen Verfahrensweise zuwider.

bb) Diese Auslegung korrespondiert mit der Tatsache, dass die Fristbestimmung an keine begründungsbedürftigen prozessualen Voraussetzungen oder Anlässe, etwa Anhaltspunkte für Verfahrensverschleppung, geknüpft ist (vgl. MüKo-StPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 244 Rn. 185j; aA LR/Becker, aaO, § 244 Rn. 359i; Krehl in FS Fischer, 2018, S. 705, 708; Schneider, NStZ 2019, 489, 493). Schließlich sind Ausführungen dazu, dass im Zeitpunkt der Anordnung die von Amts wegen vorgesehenen Beweiserhebungen abgeschlossen sind, ebenfalls nicht veranlasst. Denn die Fristsetzung ist erst ab diesem Verfahrensstand möglich. Mit ihr kommt stets zugleich zum Ausdruck, dass aus Sicht des Vorsitzenden der Amtsaufklärungspflicht genügt worden ist (vgl. Schneider, aaO, 492).

cc) Dies entspricht im Übrigen den für sitzungsleitende Anordnungen allgemein geltenden rechtlichen Maßgaben (§ 238 Abs. 1 StPO). Bei diesen werden Vorsitzenden vielfach Freiräume in der Gestaltung zugebilligt (vgl. BGH, Urteil vom 7. März 1996 – 4 StR 737/95, BGHSt 42, 73), deren Nutzung im Interesse einer straffen Durchführung der Hauptverhandlung grundsätzlich nicht schriftlich zu begründen ist.

dd) Vor diesem Hintergrund ist eine Begründung auch aus Fairnessgründen nicht geboten. Die Verfahrensbeteiligten können mittels des Zwischenrechtsbehelfs gemäß § 238 Abs. 2 StPO jederzeit eine gerichtliche Überprüfung erwirken, die im Falle der Bestätigung der Anordnung zu begründen ist. Anders als etwa bei der Zurückweisung von Fragen nach § 241 StPO (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Mai 1975 – 5 StR 204/75, MDR 1975, 726; vom 6. März 1990 – 5 StR 71/90, BGHR StPO § 241 Abs. 2 Zurückweisung 3; LR/Becker, aaO, § 241 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 241 Rn. 17; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 241 Rn. 14), kann sich insbesondere der verteidigte Angeklagte bei § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO überdies auch ohne Begründung auf die neue Prozesslage einstellen.

ee) Aus denselben Erwägungen muss schließlich auch die Dauer der bestimmten Frist regelmäßig nicht begründet werden (aA Schlothauer, FS Fischer, 2018, S. 819, 826). Dies gilt erst recht, wenn sich diese erkennbar an der Frist des § 217 StPO oder aber, im Ausnahmefall, an der gesetzlichen Höchstdauer einer Unterbrechung nach § 229 Abs. 1 StPO orientiert.

c) Die Beschwerdeführer dringen auch mit der weiteren Beanstandung nicht durch, sie seien bei der Bestimmung der Frist nicht auf die Rechtsfolgen einer nach Fristablauf erfolgten Antragstellung hingewiesen worden. Eine Hinweis- oder gar Belehrungspflicht liegt schon mit Blick auf hierfür fehlende Anhaltspunkte in Wortlaut und Systematik der Vorschrift fern. Sie ist jedenfalls beim verteidigten Angeklagten nicht geboten. Der rechtskundige Verteidiger wird – wie hier – die entsprechende Sachleitungsverfügung des Vorsitzenden kritisch am Gesetzeswortlaut überprüfen und sie gegebenenfalls beanstanden (§ 238 Abs. 2 StPO; vgl. Basdorf, StV 1997, 489, 490; Ventzke, NStZ 2005, 396). Abgesehen davon hat der Vorsitzende den Angeklagten vor Schluss der Beweisaufnahme (§ 258 Abs. 1 Satz 1 StPO) die gerichtliche Entscheidung mitgeteilt, dass die drei nach Fristablauf gestellten Beweisanträge im Urteil beschieden werden würden.

d) Es bedarf keiner Entscheidung, ob die von Amts wegen vorgesehene Beweisaufnahme (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO) im Zeitpunkt der Fristbestimmung abgeschlossen war, weil dies nicht beanstandet wurde. Eingedenk der im Übrigen präzise bezeichneten Verfahrensbeanstandungen und des insoweit vollständigen Vortrags der rügebegründenden Tatsachen schließt der Senat aus, dass die Beschwerdeführer auch eine Rüge mit der bezeichneten Angriffsrichtung erheben wollten. Ihm wäre im Übrigen eine dahingehende Prüfung deshalb unmöglich, weil nicht mit der notwendigen Bestimmtheit (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) ausgeführt wird, dass die Beweisaufnahme zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich nicht abgeschlossen gewesen wäre. Unabhängig davon könnte der Senat der überwiegenden Ansicht im Schrifttum nicht beitreten, die dafür auch die Bescheidung sämtlicher gestellter Beweisanträge als notwendig ansieht (vgl. BeckOK-StPO/Bachler, 49. Ed., § 244 Rn. 30; LR/Becker, aaO, § 244 Rn. 358g; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO, 9244 Rn. 185i; KK-StPO/Krehl, aaO, § 244 Rn. 87b; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 95b; Mosbacher, NStZ 2018, 9, 10; Schneider, aaO, 493).

aa) Bereits der Gesetzeswortlaut gibt Anlass zu einer zumindest differenzierten Sichtweise. Anders als bei § 258 Abs. 1 StPO (vgl. Schlothauer, aaO, S. 823) ist nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO der Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme maßgeblich. Damit ist gesetzlich ein tragfähiger Anhalt dafür gegeben, hierfür allein den durch § 244 Abs. 2 StPO verlangten gerichtlichen Beweis zu verstehen. Verdeutlicht wird dies überdies durch das Partizip „vorgesehen“; hierdurch wird die Erledigung des durch den Vorsitzenden bereits zu Beginn des Hauptverfahrens (vgl. § 214 Abs. 1 und 2, §§ 221, 222 StPO) geplanten und strukturierten (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96, 99), oder aber in späterer Prozesslage modifizierten Beweisprogramms (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22 Rn. 9; Krehl in FS Fischer, 2018, S. 705, 708; Schlothauer, aaO, S. 824; Schneider, aaO, 491) in Bezug genommen.

bb) Dieses restriktive Begriffsverständnis wird durch das Ergebnis einer gesetzessystematischen Betrachtung bestätigt. Im Anschluss an § 243 StPO regelt § 244 Abs. 1 StPO den weiteren Ablauf der Hauptverhandlung, in der das Gericht – in den Grenzen des § 244 Abs. 2 StPO – mit den zulässigen Beweismitteln des Strengbeweises die tatsächlichen Grundlagen seiner Entscheidung schafft. Hingegen behandelt § 244 Abs. 3 bis 5 StPO, auf welche Art und Weise und in welchem Umfang die Verfahrensbeteiligten auf das gerichtliche Beweisprogramm Einfluss nehmen und einen geltend gemachten Beweiserhebungsanspruch durchsetzen können. Ein Antrag nach § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO kann als Prozesserklärung eines Verfahrensbeteiligten eine Beweiserhebung über das vom Gericht für erforderlich und ausreichend Gehaltene (§ 244 Abs. 2 StPO) hinaus erzwingen. Der noch nicht beschiedene oder abgelehnte Antrag selbst ist allerdings weder in formeller noch in materieller Hinsicht Teil der Beweisaufnahme.

cc) Für dieses Verständnis der Norm sprechen auch ihr Sinn und Zweck. Bei der teleologischen Auslegung ist zu berücksichtigen, dass die Fristsetzung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO dem Tatgericht ermöglichen soll, nach Durchführung der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme den Abschluss des Verfahrens zügig herbeizuführen (vgl. BT-Drucks. 18/11277 S. 34; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22 Rn. 33). Dieser Zweck würde konterkariert, wenn die Verfahrensbeteiligten die Fristbestimmung durch sukzessives Anbringen von Beweisanträgen (vgl. Niemöller, JR 2010, 332; Tully, ZRP 2014, 45, 46) vereiteln könnten (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22 Rn. 27, 33). Dass diese Besorgnis eines verzögerten Verfahrensabschlusses in einer vorangerückten Prozesslage nicht etwa fernliegt, vermag der Senat auch den hier von der Revision mitgeteilten Tatsachen zu entnehmen. In ihrem Beschluss vom 29. Juli 2022 stellte die Strafkammer dar, dass der Verteidiger des Beschwerdeführers S.          auf Nachfrage angegeben habe, „er könnte bereits vorbereitete Beweisanträge stellen, werde dies aber ggf. auch erst später tun“.

e) Das Landgericht ist schließlich auch ohne Rechtsfehler zu der Auffassung gelangt, dass eine fristgerechte Antragstellung nicht gemäß § 244 Abs. 6 Satz 4 Halbsatz 2 StPO unmöglich war.

aa) Stellt ein Verfahrensbeteiligter nach Fristablauf einen Beweisantrag, sind mit diesem die Tatsachen darzulegen und glaubhaft zu machen, welche die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben (§ 244 Abs. 6 Satz 5 StPO).

bb) Dem wird der in den Beweisanträgen enthaltene Tatsachenvortrag nicht gerecht.

(1) Die Beschwerdeführer machen geltend, dass mit den drei verspäteten Beweisanträgen auf den Beschluss vom 4. Oktober 2022 reagiert worden sei, mit dem der – vor Fristablauf gestellte – Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens abgelehnt worden war. Erst die Begründung des Ablehnungsbeschlusses habe sie in die Lage versetzt, Beweisanträge im Hinblick auf die Konkretisierung des Tatzeitraums, des genauen Standortes des Lkw sowie zu den örtlichen Begebenheiten zu stellen.

(2) Der damit allein vorgetragene Hinweis auf die Begründung des Ablehnungsbeschlusses (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) erweist sich zum Beleg der Unmöglichkeit einer Antragstellung vor Fristablauf als unzureichend.

Es bleibt schon offen, warum die Beschwerdeführer nicht bereits mit dem fristgerecht gestellten Beweisantrag die Anknüpfungstatsachen für das Sachverständigengutachten entweder – als Ergebnis eigener Nachforschungen – mitgeteilt oder aber unter Beweis gestellt haben. Dass die nunmehr vorgebrachten Tatsachen für die begehrte Tatrekonstruktion von Bedeutung sein würden, lag bereits im Zeitpunkt der Antragstellung auf der Hand.

Im Übrigen ist die hiesige Konstellation entgegen dem Revisionsvorbringen auch mit einem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme (vgl. BT-Drucks. 18/11277 S. 35; BVerfG, StV 2020, 805; BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96, 97, 102; BeckOK-StPO/Bachler, aaO, § 244 Rn. 30; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO, 9244 Rn. 185y mwN) nicht vergleichbar. Die Strafkammer hat mit ihrem Ablehnungsbeschluss nach § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO lediglich eine durch Prozesserklärung der Beschwerdeführer erwirkte Entscheidung getroffen. Der durch den fristgerecht gestellten Antrag ausgelösten Begründungspflicht (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) hat die Strafkammer entsprochen, nicht aber dadurch die Frist nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO nachträglich teilweise desavouiert. Dem vom Beschwerdeführer im Kern geltend gemachten Anspruch auf die Fortführung des „formalisierten Dialogs“ steht die wirksam gesetzte Frist des Vorsitzenden gerade entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96, Rn. 16).

(3) Soweit das Revisionsvorbringen überdies auf eine den Beweisanträgen an einem der folgenden Sitzungstage im Rahmen einer unstatthaften Beanstandung (§ 238 Abs. 2 StPO; vgl. aber auch BVerfG, aaO) nachgeschobene Erklärung Bezug nimmt, durfte die Strafkammer deren Inhalt unberücksichtigt lassen, weil diese Tatsachen nicht zugleich mit den Beweisanträgen, sondern verspätet vorgebracht wurden (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO). Bereits der Gesetzeswortlaut legt nahe, dass ein Nachschieben von Gründen im Rahmen des § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO nicht zulässig ist (vgl. zu den anderslautenden Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO LR/Stuckenberg, aaO, § 244 Rn. 359r; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 98; Mosbacher, NStZ 2018, 9, 12; Schneider, NStZ 2019, aaO, 500).

Ungeachtet dessen war dieses Vorbringen auch in der Sache ungeeignet, die Unmöglichkeit der Fristeinhaltung zu belegen. Zum einen wird damit kein tragfähiger prozessualer Anlass für die Unmöglichkeit einer fristgerechten Antragstellung vorgebracht; insbesondere begründete die vom Landgericht in seinem Ablehnungsbeschluss erwähnte Möglichkeit eines auch im Fall II.2 eingesetzten weiteren Lkw keine Hinweispflicht (vgl. BGH, Beschluss vom 30. August 2022 – 5 StR 153/22 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 244 Rn. 97; nachstehend 5.). Zum anderen zielen die drei Beweisbegehren nicht auf diesen Umstand ab, sondern auf das Verschaffen weiterer, von der Anzahl eingesetzter Fahrzeuge unabhängiger Beweistatsachen.

f) Durch dieses Ergebnis wird der Anspruch auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren nicht verletzt (vgl. zu etwaigen Bedenken BverfG, StV 2020, 805). Den Verfahrensbeteiligten wird durch die Fristsetzung nach § 244 Abs. 6 Satz 3 StPO die Möglichkeit nicht genommen, Beweisanträge zu stellen, über die das Gericht befinden muss. Beschränkt wird allein der Anspruch, etwaige Ablehnungsgründe noch vor Abschluss der Beweisaufnahme zu erfahren. Vor dieser Begrenzung erhalten die Beteiligten angesichts der Fristsetzung Gelegenheit, in der Hauptverhandlung zu bescheidende Beweisanträge zu stellen. Machen sie hiervon nicht Gebrauch, liegt dies in ihrem Verantwortungsbereich. Ergibt sich allerdings aus erneuten Beweiserhebungen oder gerichtlichen Hinweisen nach Fristablauf das Bedürfnis weiterer Beweisanträge, ist gewährleistet, dass darüber wie sonst auch noch während der Hauptverhandlung befunden wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. April 2021 – 3 StR 300/20, BGHSt 66, 96 Rn. 23; vom 30. August 2022 – 5 StR 153/22 Rn. 5).

4. Die Verfahrensrügen, mit denen die Ablehnung der drei nach Fristablauf gestellten Beweisanträge in den Urteilsgründen als bedeutungslos beanstandet wird (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), bleiben – auch aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts – ebenfalls ohne Erfolg. Das Landgericht hat sämtliche Beweisanträge rechtsfehlerfrei beschieden.

BGH I: Hat die Hauptverhandlung schon begonnen?, oder: Wer ist „gesetzlicher Richter“?

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Ich stelle heute drei BGH-Entscheidungen vor. Die beiden ersten sind zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt.

Hier dann zunächst das BGH, Urt. v. 17.01.2024 – 2 StR 459/22 – zum Begriff des Beginns der Hauptverhandlung und zum gesetzlichen Richter.

Der Angeklagte ist vom LG wegen eines Verstoßes gegen das BtMG verurteilt worden. Dagegen die Revision des Angeklagten, mit der Verfahrensrüge und Sachrüge erhoben hat. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Bei der Verfahrensrüge ging es um folgendes Verfahrensgeschehen: Der Vorsitzende der Strafkammer hatte den mit den Verfahrensbeteiligten abgesprochenen Beginn der Hauptverhandlung auf den 08.04.2022 und weiteren Fortsetzungstermine festgesetzt. Da der 08.04.2022 kein regulärer Sitzungstag der Strafkammer war, wurden ihr die Ersatzschöf­fen D und B zugewiesen. Die Gerichtsbesetzung wurde den Be­teiligten mit Verfügung vom 31.03.2022 mitgeteilt.

Der Verteidiger eines Mit­angeklagten teilte dem Vorsitzenden am 05.04.2022 mit, sein Mandant sei mittels PCR-Test positiv auf das Coronavirus getestet wor­den; eine Vorführung könne deshalb nicht erfolgen. Der Vorsitzende benachrichtigte die Verfahrensbeteiligten per E-Mail da­raufhin, dass die Sache dennoch aufgerufen werden solle; ggf. könne ein Rechtsgespräch geführt werden.

Am 08.04.2022 rief der Vorsitzende dann die Sache auf. Als Schöffen wirkten die ehrenamtlichen Richter D und B mit. Der Vorsitzende gab nach der Bestellung von Pflichtverteidigern be­kannt, dass das Verfahren nicht abgetrennt, sondern abgewartet werden solle, wie die COVID-19-Erkrankung ver­laufe. Die Hauptverhandlung wurde sodann bis zur Fortsetzung am 26.04.2022 unterbrochen. Im Anschluss führte die Strafkammer einschließlich der Schöffen außer­halb der Hauptverhandlung mit den weiteren Verfahrensbeteiligten ein nichtöf­fentliches Rechtsgespräch. Am 26.04.2022 rief der Vorsitzende die Sache in unveränderter Besetzung auf und setzte die Verhandlung fort. Einen förmlichen Einwand gegen die Gerichtsbesetzung oder das Vorgehen des Vorsitzenden er­hob keiner der Verfahrensbeteiligten. Die Revision des Angeklagten beanstandet, die Hauptverhandlung habe erst am 26.04. 2022 begonnen. Deshalb hätten auch die für diesen Tag  als ordentlichen Sitzungstag der Strafkammer bestimmten Schöf­fen Z  und Bä am Urteil mitwirken müssen.

Ich stelle hier nur die Leitsätze des BGH ein. Wegen der Einzelheiten der doch recht umfangreichen Begründung verweise ich auf den verlinkten Volltext:

    1. Die Hauptverhandlung beginnt gemäß § 243 Abs. 1 Satz 1 StPO mit demAufruf der Sache; damit sind die für diesen Sitzungstag bestimmten Schöffen zur Verhandlung und Entscheidung in der Sache berufen.
    2. Das grundrechtsgleiche Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG kann durch den Aufruf der Sache im Einzelfall verletzt werden, wenn sich der Vorsitzende dafür mit missbräuchlichen Erwägungen entscheidet.

Missbrauch hat der BGH hier im Übrigen verneint.