Für BGHSt vorgesehen ist das BGH, Urt. v. 20.06.2013 – 2 StR 113/13, das m.E. zur Folge haben müsste, dass sich die Praxis einiger Gerichte, bei Ausbleiben/Verhinderung des Pflichtverteidigers kurzfristig einen anderen Rechtsanwalt beizuordnen, der sich dann „der Sache annimmt“ – häufig ohne ausreichende Vorbereitung. Wie wichtig dem BGH seine Entscheidung ist, zeigt sich in dem Umstand, dass sie für BGHSt vorgesehen ist. Und daher hier dann auch ein „Langtext“
Die Revision des Angeklagten W. hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
1. Dem liegt folgendes Prozessgeschehen zugrunde:
Zum Beginn des 4. Hauptverhandlungstags am 6. Juli 2012 um 9.10 Uhr erschien der Pflichtverteidiger des Angeklagten nicht. Durch sein Büro hatte er über die Geschäftsstelle mitteilen lassen, sich wegen Herzrhythmusstörungen in ärztliche Behandlung begeben zu müssen, aber davon auszugehen, ab 11.00 Uhr an der Hauptverhandlung teilnehmen zu können. Daraufhin wurde die Hauptverhandlung um 9.12 Uhr unterbrochen und schließlich um 11.10 Uhr fortgesetzt. Zwischenzeitlich hatte das Büro des Pflichtverteidigers des Angeklagten mitgeteilt, dass dessen Einlieferung in eine Klinik notwendig geworden sei und er am heutigen Tag nicht mehr erscheinen werde.Für die Hauptverhandlung am 6. Juli 2012 war – als Folge eines Beweisermittlungsantrages des Verteidigers des Angeklagten – die Vernehmung des belgischen Polizeibeamten C. vorgesehen. Um ihm eine erneute Anreise an einem der folgenden Hauptverhandlungstermine zu ersparen, bemühte sich die Strafkammer um einen anderen Verteidiger für den Angeklagten, den sie ihm für diesen Hauptverhandlungstag als Pflichtverteidiger beiordnete. Es bestand Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch mit dem Angeklagten, der keine Einwände gegen das Vorgehen erhob. Akteneinsicht in die Verfahrensakte nahm der neue Pflichtverteidiger nicht. Sodann wurde der Zeuge C. in Anwesenheit einer Dolmetscherin vernommen, wobei seine Aussage auf Antrag des Verteidigers des Mitangeklagten wörtlich protokolliert worden ist. Fragen an den Zeugen richtete der „neue“ Verteidiger des Angeklagten nicht. Die Hauptverhandlung wurde um 12.05 Uhr geschlossen.
An den folgenden Hauptverhandlungsterminen nahm wieder der „alte“ Pflichtverteidiger des Angeklagten die Verteidigung des Angeklagten wahr. Ein von ihm gestellter Antrag auf erneute Vernehmung des Zeugen C. lehnte die Strafkammer nach Maßgabe des § 244 Abs. 5 StPO ab.
2. Dieses Vorgehen steht nicht in Einklang mit § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO und stellt eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung dar, auf der das Urteil auch beruhen kann.
a) Dem Revisionsvorbringen des Angeklagten, „unverteidigt“ gewesen zu sein, ist zugleich die Beanstandung zu entnehmen, das Landgericht habe es unterlassen, anlässlich der Erkrankung des Verteidigers die diesen Verhandlungstag vorgesehene Vernehmung des Zeugen C. nicht auf den nächsten Verhandlungstag verschoben zu haben. Damit zielt die Rüge ihrer Zielrichtung nach jedenfalls auch auf eine Verletzung von § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO.
b) § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO sieht vor, dass das Gericht auch eine Aussetzung der Verhandlung beschließen kann, wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausbleibt. Die Regelung steht in Konkurrenz zu § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO, der für diesen Fall anordnet, dass der Vorsitzende sogleich einen anderen Verteidiger bestellt. Das Gericht hat also insoweit nach seinem Ermes-sen zu entscheiden, ob der Vorsitzende einen neuen Verteidiger bestellt oder die Hauptverhandlung ausgesetzt wird. Dabei hat es – über den Wortlaut der Vorschrift hinaus – auch zu prüfen, ob nicht eine Unterbrechung der Hauptverhandlung der entstandenen Konfliktlage – Kontinuität der Verteidigung oder gegebenenfalls Fortführung der Hauptverhandlung mit neuem Verteidiger – angemessen Rechnung trägt (LR-Lüderssen/Jahn, 26. Aufl., § 145 Rn. 20: angesichts des verfassungsrechtlichen Prinzips der Erforderlichkeit im Einzelfall be-stehende Verpflichtung zur Unterbrechung). Prüft das Gericht nicht von Amts wegen, ob eine Verhandlung auszusetzen oder zu unterbrechen ist, kann dies die Revision begründen (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 41).
aa) Die Literatur geht grundsätzlich davon aus, dass dem Beschuldigten der eingearbeitete und vertraute Verteidiger zu erhalten ist und deshalb eine Aussetzung bzw. Unterbrechung grundsätzlich trotz Verfahrensverzögerung der Vorzug vor einer neuen Bestellung zu geben ist (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 19; Laufhütte in: KK-StPO, 6. Aufl. Rn. 7). So soll ein kurzfristiger Ausfall wegen Erkrankung des Verteidigers in der Regel zu einer Aussetzung führen (Meyer-Goßner, 55. Aufl., § 145 Rn. 9). Dahinter steht – ohne dass dies im Einzelnen ausgeführt wird – die Erwägung, dass § 145 StPO nicht dem Ziel der Verfahrenssicherung dient, sondern das Recht des Beschuldigten zu einer ef-fektiven und angemessenen Verteidigung wahren soll (LR-Lüderssen/Jahn, aaO, Rn. 1).
bb) Der Bundesgerichtshof hat sich bisher nicht weitergehend zur Frage einer Aussetzung bzw. Unterbrechung nach § 145 Abs. 1 Satz 2 StPO geäußert (vgl. aber BGH MDR 1977, 767). Er hatte sich bisher lediglich damit zu befassen, ob nach einem Wechsel des Verteidigers eine im Sinne von § 265 Abs. 4 StPO veränderte Sachlage eingetreten ist, die zur genügenden Vorbereitung der Verteidigung eine Aussetzung angemessen erscheinen lässt. Die dort in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze lassen sich entsprechend auch für die – zeitlich vorangehende – Konstellation des § 145 Abs. 1 StPO nutzen, in der es um die Frage geht, ob bei Ausbleiben eines Verteidigers überhaupt ein neuer Verteidiger beizuordnen ist oder ob nicht stattdessen die Hauptverhandlung auszusetzen bzw. zu unterbrechen ist, um dem Angeklagten die weitere Verteidigung durch den bisherigen Verteidiger zu ermöglichen. In beiden Fällen geht es darum, eine sachgerechte und angemessene Verteidigung des Angeklagten sicherzustellen (so auch knapp BGH MDR 1997, 767, 768 zu § 145 StPO). Da-bei steht diese Entscheidung in Ausübung der prozessualen Fürsorgepflicht im pflichtgemäß auszuübenden Ermessen des Gerichts und hängt von den Um-ständen des Einzelfalles ab (vgl. zuletzt BGH NStZ 2013, 212). Maßgeblich ist zunächst die Erwägung, wie der Strafverteidiger als Organ der Rechtspflege selbst beurteilt, ob er für die Erfüllung seiner Aufgabe hinreichend vorbereitet ist. Hält er die Vorbereitungszeit für ausreichend, ist das Gericht grundsätzlich nicht berufen, dies zu überprüfen. Doch gibt es greifbare Anhaltspunkte dafür, dass dies nicht der Fall sein könnte, gebietet die Fürsorgepflicht des Gerichts die Prüfung einer Aussetzung oder Unterbrechung des Verfahrens. Dies ist etwa der Fall, wenn der Verteidiger objektiv nicht genügend Zeit hatte, sich vor-zubereiten (vgl. BGH NJW 1965, 2164, 2165) oder wenn sich die dem Prozessverhalten des Angeklagten und seines Verteidigers zu entnehmende Einschät-zung der Sach- und Rechtslage als evident interessenwidrig darstellt und eine effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3c MRK) unter keinem Gesichtspunkt mehr gewährleistet gewesen wäre (vgl. BGH NStZ 2013, 212).
cc) Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich hier die Beiordnung eines neuen Verteidigers als evident interessenwidrig. Das Landgericht hätte stattdessen die Hauptverhandlung unterbrechen und in einem der Folgetermine den Auslandszeugen C. vernehmen müssen.Mit der Beiordnung eines neuen Verteidigers im Termin vom 6. Juli 2012 sind Verteidigungsrechte des Angeklagten in erheblicher Weise eingeschränkt worden (vgl. § 338 Nr. 8 StPO). Der neue Verteidiger hat zwar mit dem Angeklagten sprechen können; es liegt allerdings angesichts des Verfahrensablaufs (Unterbrechung der Hauptverhandlung um 9.12 Uhr, Fortsetzung um 11.10 Uhr nach zwischenzeitlicher Mitteilung gegen 10.00 Uhr, dass der alte Verteidiger krankheitsbedingt nicht mehr erscheinen wird) und auch des Aktenumfangs auf der Hand, dass eine Information des neuen Verteidigers, die ihn nur annähernd auf den Stand des Verfahrens hätte bringen können, nicht erfolgt sein kann. Nur ein Verteidiger aber, der den Stoff ausreichend beherrscht, kann die Verteidigung mit der Sicherheit führen, die das Gesetz verlangt (BGHSt 13, 337, 344 unter Hinweis auf RGSt 71, 353, 354). Die Absicht, einem „Auslandszeugen“ die erneute Anreise zu ersparen, kann das rechtsstaatlich gebotene Recht auf eine angemessene und effektive Verteidigung (Art. 6 Abs. 3c EMRK) nicht wirksam beschränken, zumal Anhaltspunkte für eine längerfristige Erkrankung des Pflichtverteidigers offenbar nicht gegeben waren und auch nichts dafür sprach, dass der Zeuge nicht erneut an dem bereits sechs Tage später bestimmten Fortsetzungstermin erschienen wäre. Im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass es sich um die Vernehmung eines Zeugen handelte, die der Verteidiger beantragt hatte.
Dass der neu beigeordnete Pflichtverteidiger nicht selbst Einwendungen gegen das prozessuale Vorgehen erhoben und einen Antrag nach § 145 Abs. 3 StPO auf Unterbrechung des Verfahrens nicht gestellt hat, kann an diesem Befund nichts ändern. Auf die Einschätzung des neuen Verteidigers, der selbst wohl keine Zweifel gehegt hat, die Verteidigung des Angeklagten sachgerecht führen zu können, kann es bei der besonderen Sachlage nicht ankommen. So war die Suche nach einem neuen Verteidiger hier von vornherein mit dem Zweck verbunden, die Vernehmung des aus dem Ausland angereisten Zeugen auf alle Fälle durchzuführen. Ein Verteidiger, der dies abgelehnt hätte, wäre nicht zur Durchführung des Termins beigeordnet worden; ein Verteidiger, der wie hier ohne weitere Beteiligung in der Sache lediglich formal die Verteidigung übernimmt, ist – was sich auch dem Landgericht aufdrängen musste – erkennbar nicht in der Lage, eine sachgerechte und angemessene Verteidigung des Angeklagten zu übernehmen.Auch dem Umstand, dass der Angeklagte keine Einwendungen gegen die Fortsetzung der Verhandlung erhoben hat, kann vorliegend keine maßgebliche Bedeutung zukommen. Aus dem Regelungsgefüge des § 145 StPO ergibt sich, dass nach dem Willen des Gesetzgebers dem Angeklagten insoweit keine maßgeblichen Verfahrensrechte eingeräumt worden sind. Ein Antragsrecht nach § 145 Abs. 3 StPO steht lediglich dem Verteidiger zu. Dies ändert zwar nichts daran, dass der Angeklagte gleichwohl eine Erklärung abgeben und evtl. eine Aussetzung nach § 265 Abs. 4 StPO anregen kann. In dem Verzicht auf eine bloße Verfahrensanregung kann allerdings nicht der Schluss gezogen werden, der Angeklagte sei mit dem Vorgehen einverstanden.“
Man wird sehen, wie sich die Rechtsprechung an der Stelle weiterentwickelt. Denn die Grundsätze kann man auch auf den vor der Hauptverhandlung kurzfristig beigeordneten Pflichtverteidiger übertragen.
Insbesondere der Leitsatz der Entscheidung hat doch gebührenrechtliche Auswirkung: Die vielfach verbreitete Praxis, dem „Terminsvertreter“ nur die Terminsgebühr zu bewilligen (weil er Vertreter des Pflichtverteidigers sei), scheint mit ihr kaum vereinbar. Denn erforderlich ist eben die Einarbeitung in den Fall (=Nr. 4100 VV).
Ja, aber das habe ich schon seit Inkrafttreten des RVG 2004 „gepredigt“. Man kann nicht einen „Vollverteidiger“ verlangen, dem aber nur die Terminsgebühr bezahlen. Im Übrigen fällt jetzt nach der Änderung durch das 2. KostRMoG immer auch die Verfahrensgebühr an bzw. ist das klargestellt.