Und als zweite Entscheidung stelle ich dann den KG, Beschl. v. 17.02.2020 – 3 Ws 37 u. 38/20 – vor. Problematik: Wirksamkeit einer Berufungsrücknahme eines unverteidigten Angeklagten im Fall der notwendigen Verteidigung.
Das AG hat den Angeklagten in Anwesenheit seines Wahlverteidigers verurteilt. Gegen das Urteil hat der Angeklagte persönlich Berufung eingelegt. Das LG beraumt Berufungshauptverhandlung an, zu der es auch den Wahlverteidiger geladen hat. Der erklärt, für die Berufung nicht beauftragt zu sein. Daraufhin hat die Vorsitzende der Strafkammer dem Angeklagten mitgeteilt, es liege angesichts dessen, dass er Taxifahrer sei und mit der Entziehung der Fahrerlaubnis gerechnet werden müsse, ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor, und hat ihn aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen ab Zugang des Schreibens einen Verteidiger seines Vertrauens zu benennen. Darauf teilt der Angeklagte mit:
„In der Strafsache gegen mich, V., ziehe ich hiermit meine eingereichte Berufung zurück.“
Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt:
„Ausgehend von all den bisherigen Ungerechtigkeiten und Unrechtmäßigkeiten erwarte ich kein faires und akzeptables Urteil bei der bevorstehenden Gerichtsverhandlung seitens des Landgerichts. […]
Deshalb würde ich mich lieber fernhalten und meinen Fall nicht vor diesem Gericht behandeln lassen. […]
Ich sollte lieber der Empfehlung meines Anwalts folgen und auf eine Berufung verzichten. Er kannte anscheinend die Situation und die Aussichten besser als ich. […]
Dieser Rückzug hat zugleich auch Nachteile für mich, da ich nie mehr zu meinem Recht kommen kann. […]
Bitte streichen Sie den Gerichtsverhandlungstermin vom 4.12.2019.“
Dem Angeklagten wird dann ein Pflichtverteidiger bestellt. Die Vorsitzende der Strafkammer teilt dem dem Angeklagten dann noch mit, seine Berufungsrücknahme genüge nicht den Formvorschriften, weil er diese nicht unterschrieben habe. Darauf antwortet der Anegklagte u.a. mit:
„Die Beschlüsse und das Urteil des AGs in meinem Fall sind noch nicht rechtskräftig, sonst wäre eine Berufung gegen sie nicht erforderlich oder erlaubt sein […].
[…]
Ich bin nicht ganz schlüssig, ob ich meine Berufung zurückziehen soll oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim Landgericht zu meinem Recht komme und für all meine Verluste und Einbüße entschädigt werde, ist, wie es bisher aussieht, nicht hoch. Ich habe deshalb einmal versucht, meine Berufung zurück zu ziehen. Die Gründe dafür habe ich dort erwähnt. Aus irgendeinem Grund wurde das nicht akzeptiert. Nun nach einer weiteren Überlegung lasse ich meine Berufung laufen […].“
Das LG hat dann die Berufung des Angeklagten als unzulässig verworfen, weil diese nach Maßgabe von § 322 StPO verspätet eingelegt worden sei. Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner durch einen neuen Wahlverteidiger eingelegten sofortigen Beschwerde.
Das KG hat die Wirksamkeit der durch den Angeklagten erklärten Zurücknahme der Berufung durch deklaratorischen Beschluss festgestellt und meint u.a.
„2. Der Wirksamkeit der Berufungsrücknahme steht nicht entgegen, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Prozesserklärung keinen Verteidiger hatte. Zwar ist anerkannt, dass ein Angeklagter im Fall der notwendigen Verteidigung die Gelegenheit haben muss, sich von seinem Verteidiger rechtlich beraten zu lassen und die fehlende Möglichkeit dessen vor Erklärung des Rechtsmittelverzichts bzw. der Rechtsmittelrücknahme zur Unwirksamkeit der Prozesserklärung führt (vgl. BGHSt 47, 238; Senat NStZ-RR 2007, 209 und Beschluss vom 6. Mai 2002 – 3 Ws 43/02 -; KG StV 2013, 11; OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2009 – 5 Ws 91/09 -, juris; OLG Koblenz StraFo 2006, 27; Paul, KK-StPO 8. Aufl., § 302 Rdn. 12 m.w.N.; Allgayer a.a.O. Rdn. 36). Unabhängig davon, ob im vorliegenden Fall tatsächlich ein Fall der notwendigen Verteidigung vorlag, ist indes nicht ausschlaggebend, ob dem Angeklagten zum Zeitpunkt der Abgabe seiner Prozesserklärung ein Pflichtverteidiger bestellt ist oder er einen Wahlverteidiger mit seiner Verteidigung beauftragt hat, sondern ob sich der Angeklagte bei Abgabe der Prozesserklärung der vollen Tragweite seiner Erklärung bewusst ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 25. Januar 2008 – 2 BvR 325/06 -; Senat, Beschluss vom 12. Februar 2016 – 3 Ws 77/16 -, juris; OLG Hamm NJW 1983, 302) und er Gelegenheit hatte, sich zuvor ausreichend rechtlich beraten zu lassen (vgl. BGH NStZ 2014, 533 m.w.N.; OLG Koblenz NStZ 2007, 55; Allgayer a.a.O. Rdn. 36). Hierbei ist in den Blick zu nehmen, dass auch ein verteidigter Angeklagter den Rechtsmittelverzicht bzw. die Rechtsmittelrücknahme gegen den Widerspruch seines Verteidigers erklären kann (vgl. BGHSt 45, 51, 56; Paul a.a.O. m.w.N.).
Die Fälle, die den eingangs zitierten Entscheidungen zu Grunde liegen, sind durch eine situativ bedingte Überforderung der dortigen Angeklagten in der Hauptverhandlung gekennzeichnet, die sich zuvor nicht mit einem Verteidiger beraten konnten, der sie vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 3. November 1993 – 1 Ws 539/93). Gibt der Angeklagte hingegen seine Rücknahmeerklärung in deutlichem zeitlichen Abstand zur Hauptverhandlung ab, ist regelmäßig davon auszugehen, dass er sich der Tragweite seiner Erklärung bewusst ist (vgl. OLG Koblenz a.a.O.; Jesse a.a.O. Rdn. 57) und kann von einer situativen Überforderung des Angeklagten nicht die Rede sein kann.
So liegt der Fall hier. Zwischen der Einlegung der Berufung und deren Rücknahme liegen mehr als zweieinhalb Monate. In dieser Zeit war es dem Angeklagten möglich, sich ausführliche Gedanken über eine etwaige Rechtsmittelrücknahme zu machen, einen Rechtsanwalt zu konsultieren und sich von ihm beraten zu lassen. Davon hat der Angeklagte, der auch in der Lage war, seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts – ohne Mitwirkung seines damaligen Verteidigers – selbst einzulegen, offenkundig auch Gebrauch gemacht. Denn in seinem Schreiben vom 1. September 2019 erwähnt er ausdrücklich die Empfehlung seines Anwalts, auf die Berufung zu verzichten, weil dieser anscheinend die Situation besser kenne als er. Zudem hat der Angeklagte seine Berufungsrücknahme ausführlich begründet. Auch dies spricht gegen eine voreilige und unüberlegte Entscheidung eines situativ überforderten und unzureichend rechtlich beratenen Angeklagten. Soweit der Verteidiger behauptet hat, der Angeklagte verfüge nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, sprechen dagegen schon die vom Angeklagten verfassten umfangreichen Schreiben in weitgehend fehlerfreiem Deutsch.