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Middelhoff bleibt drin – auch 900.000 € Kaution reichen nicht

HaftDas OLG Hamm hat gestern über eine (weitere) Haftbeschwerde von Thomas Middelhoff entschieden. Und: Es hat die Aufhebung des Haftbefehls gegen Middelhoff abgelehnt (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 17.03.2015 – 5 Ws 81/15, zu dem es bisher nur eine PM gibt). Fazit: Middelhoff „bleibt drin“. Es besteht weiterhin Fluchtgefahr und die angebotenen 900.000 € Kaution reichen für eine Außervollzugsetzung nicht aus. Aus der PM:

„Die im Fall des Angeklagten fortbestehende Straferwartung von derzeit immer noch 20 Monaten Freiheitsstrafe begründe einen erheblichen Fluchtanreiz. Der Angeklagte mache weiterhin geltend, dass er gegenwärtig weder über privates Vermögen verfüge noch eine realistische Chance habe, aufgrund eigener Arbeitstätigkeit in Deutschland bzw. dem benachbarten europäischen Ausland Einkommen zu erzielen, mit dem er den Lebensunterhalt seiner Familie sicherstellen könne. Der Angeklagte werde sich deshalb schnellstmöglich eine neue wirtschaftliche Existenzgrundlage aufbauen müssen. Dies begründe einen Fluchtanreiz. Der Senat gehe nach wie vor davon aus, dass der Angeklagte nach seinen früheren umfangreichen Auslandskontakten im außereuropäischen Ausland weiterhin geschäftlichen Perspektiven habe.

……..

Der Zweck der Untersuchungshaft lasse sich nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreichen. Eine vom Angeklagten angeboteneSicherheitsleistung in Höhe von nahezu 900.000 Euro, die von Dritten erbracht werden solle, sei nicht ausreichend. Dabei könne offen bleiben, ob die angebotene Sicherheitsleistung im Fall des wegen Untreue in 27 Fällen verurteilten Angeklagten überhaupt ein geeignetes Haftsurrogat sei. Die Höhe der angebotenen Kaution sei nicht geeignet, einen derartigen Druck auf den Angeklagten auszuüben, dass er den Verfall der Kaution nicht riskieren werde. Man könne zwar in der angebotenen Sicherheitsleistung durch Familienmitglieder und enge Freunde ein stabilisierendes Element sehen. Zu berücksichtigen sei jedoch, dass der Angeklagte über viele Jahre hinweg ein jährliches Einkommen erzielt habe, dass die angebotene Kaution um ein Vielfaches übersteige. Für den Fall, dass es ihm auch nur annähernd gelingen sollte, mit dem Aufbau einer neuen wirtschaftlichen Existenz an frühere Verdienstmöglichkeiten anzuknüpfen, könne er alle Sicherungsgeber binnen kürzester Zeit schadlos stellen.“

Das hat das OLG früher auch schon mal anders gesehen. Noch 20 Monate Straferwartung = noch nicht einmal 2 Jahre reichen zur Begründung der Fluchtgefahr aus? Und der kann ich dann nicht mit einer Kaution von 900.000 € begegnen. Ich habe Zweifel, ob das richtig ist.

Nachtrag: Danke für den Hinweis eines Lesers auf Facebook: Da war in der Überschrift eine „0“ zu viel. Es war keine Kaution von 9.000.000 € angeboten 🙂 . Sorry.

Auslandsverbindungen – führen sie zur Fluchtgefahr?

FragezeichenDann poste ich heute mal hinter der LG Kleve-Entscheidung einen zweiten Haftbeschluss, nämlich den KG, Beschl. v. 21.08.2014 – 1 Ws 61/14 – nicht ganz so dramatisch wie das LG Kleve, aber auch mit einer die Praxis immer wieder beschäftigenden Frage, nämlich der Annahme von Fluchtgefahr, wenn der Beschuldigte seinen Wohnsitz im und Verbindungen ins Ausland hat. Dazu das KG, das zunächst auf ein zu erwartende hohe Freiheitsstrafe verweist:

„….Dieser Fluchtanreiz für den Beschuldigten wird noch durch den Umstand gesteigert, dass gegen ihn ein weiteres Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen gleichartiger Vorwürfe anhängig ist (X Js X). Zudem wird er sich voraussichtlich zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen der Immobilienkäufer ausgesetzt sehen.

Gewichtige Tatsachen, die einer Flucht entgegenstehen, sind nicht erkennbar. Der Beschuldigte hat in Deutschland im Wesentlichen keine persönlichen Bindungen mehr. Lediglich zu seiner Mutter, die in Berlin lebt, hat er offenbar ein engeres Verhältnis. Bei dieser wohnte er allerdings nicht, wenn er sich in Berlin aufhielt. Seine Lebensgefährtin befindet sich im Ausland (Großbritannien). Dass er bisher seinen Wohnsitz (wie seine Freundin) im Ausland hat, begründet zwar für sich allein keine Fluchtgefahr, kann aber bei der erforderlichen Gesamtwürdigung mitberücksichtigt werden. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss dies jedenfalls als einen Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr gewertet hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 57. Aufl., § 112 StPO Rdn. 17a, 20a m.w.N.).

Dass der Beschuldigte infolge seines Rückenleidens gesundheitlich beeinträchtigt und auf Medikamente angewiesen ist, lässt die Fluchtgefahr nicht entfallen, da er auch im Ausland oder im Falle eines Untertauchens in Deutschland sich mit den benötigten Medikamenten versorgen könnte. Der Vollständigkeit halber ist auch darauf hinzuweisen, dass bei Anlegung der insoweit maßgeblichen Grundsätze (vgl. nur OLG Nürnberg StV 2006, 314; OLG Düsseldorf NStZ 1993, 554; KG NStZ 1990, 142, jeweils m.w.N.) die Erkrankung den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft nicht unzulässig macht. Denn nur wenn die nahe liegende, konkrete Gefahr besteht, der Untersuchungsgefangene werde durch den Vollzug der Untersuchungshaft schwerwiegenden, irreparablen Schaden an seiner Gesundheit nehmen oder sogar sein Leben einbüßen, dürfte der Haftbefehl nicht weiter vollstreckt werden (vgl. BVerfGE 51, 324, 345 ff; Graf in KK-StPO 7. Aufl., § 112 Rdn. 54 m.w.N.). Das Rückenleiden des Angeklagten kann indes auch im Rahmen des Untersuchungshaftvollzuges angemessen behandelt werden.“

Zum Sterben in die JVA?

© chris52 - Fotolia.com

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„Zum Sterben in die JVA“ – das ist das Erste, was ich nach Lektüre des LG Kleve, Beschl. v. 04.12.2014 – 120 Qs-204 Js 500/124-112/14 – gedachte habe; hingewiesen auf den Beschluss hat mich der Kollege Garcia. Der Beschluss befasst sich mit der Verhältnismäßigkeit der (Fortdauer) der U-Haft bei einem Beschuldigten, der wegen Leber- und Lungenkrebs wohl nur noch eine Lebenserwartung von sechs Monaten hat. Das LG hat die Verhältnismäßigkeit bejaht und führt dazu aus:

„3) Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist auch verhältnismäßig. Angesichts des dargestellten hohen Grades der Fluchtgefahr reichen mildere Maßnahmen (§ 116 StPO) nicht aus. Bei einer Mindestfreiheitsstrafe von 2 Jahren (die Annahme eines minder schweren Falles ist trotz der hohen Haftempfindlichkeit angesichts der neun – auch einschlägigen – Voreintragungen im Bundeszentralregister derzeit unwahrscheinlich) steht die bislang zweiwöchige Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis. Ein Verstoß der Ermittlungsbehörden gegen das Beschleunigungsgebot (Art 6 MRK) ist nicht ersichtlich. Es muss noch das – beschleunigt zu erstellende – Wirkstoffgutachten eingeholt werden, sodann ist – aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles ggf. unter großzügiger Anwendung des § 154 StPO – eine baldige Anklageerhebung möglich.

Eine schwere und unheilbare Krankheit führt – selbst wenn ein Arzt den sicheren Tod in absehbarer Zeit diagnostiziert – zu keiner automatischen Haftaufhebung. Eine genaue Prognose sowohl über den Fortgang der Erkrankung als auch über die Dauer des Strafverfahrens ist unmöglich. Auch angesichts eines nahen Todes verstößt es nicht gegen die Menschenwürde (Art. 1 GG), wenn sich ein Beschuldigter für ihm vorgeworfene Straftaten verantworten muss. Ziel des Strafverfahrens ist nicht nur die Bestrafung des erkrankten Beschuldigten und auch nicht nur die Vollstreckung verhängter Freiheitsstzrafen, sondern auch das Aufklärungsinteresse der Rechtsgemeinschaft, die Verhinderung neuer Taten und die Überführung von Tatbeteiligten. Es ist daher selbst bei relativ kurzer Lebenserwartung des Beschuldigten immer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Abwägung im Einzelfall erforderlich (KK-StPO-Graf, 7. Aufl. 2013, § 112 Rn. 55; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl. 2014, § 112 Rn. 11a).

Hier hat es ein hohes Gewicht, wenn – wie von der Verteidigung vorgetragen – die Lebenserwartung nur noch sechs Monate betragen sollte. Allerdings ist neben der generellen Unsicherheit solcher Prognosen zu beachten, dass der Beschuldigte weite und sicherlich mit Stress verbundene Schmuggelfahrten mit dem Pkw scheinbar eigenständig durchführen kann; auch wurde er für haftfähig befunden und inzwischen vom Justizvollzugskrankenhaus in die normale Haftanstalt zurückverlegt. Insoweit ist sicherlich das vom Verteidiger beantragte neutrale Sachverständigengutachten einzuholen, was aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung nicht im Beschwerdeverfahren zu erfolgen hat.

Neben diesen gesundheitlichen Gesichtspunkten sind aber andererseits die hohe kriminelle Energie und die besondere Gefährlichkeit der tatbetroffenen bandenmäßigen Strukturen zu beachten. Der Beschuldigte hat eingeräumt (Bl. 26, 22, 40) im Rauschgifthandel als „Berufskraftfahrer“ tätig zu sein. Im letzten halben Jahr sei er etwa 200 Mal gefahren. Er fahre Rauschgift und habe teilweise bis zu 15.000 Euro Kurierlohn in seiner Tasche gehabt. Im vorliegenden Fall seien Marokkaner aus Düsseldorf-Rath seine Auftraggeber. Für diese Auftraggeber sei es die 2. Fahrt gewesen. Die im Mobiltelefon gespeicherten Nummern 6, 7 und 14 hätten ihn öfters losgeschickt. Er sei aber auch für die „xy“ und „yx“ gefahren und habe Rauschgift nach Bielefeld, Dortmund, Köln und Frankfurt geliefert. Die Hintermänner seien „brandgefährlich“.

Ausschlaggebend für die derzeitige Verhältnismäßigkeit ist, dass zusätzlich  Wiederholungsgefahr besteht. Weder lange Haftstrafen, noch die kurz zuvor schon erhaltenen hohen Kurierlöhne und auch nicht die ihm bereits zuvor bekannte ärztliche Prognose haben ihn von weiteren Rauschgiftstraftaten abgehalten. Vielmehr besteht derzeit der dringende Verdacht, dass die ärztliche Prognose beim Beschuldigten eine der Antriebsfedern für die ständige Fortsetzung der Schmuggelfahrten ist, vielleicht weil er so das Bestrafungsrisiko für geringer hält oder weil er sich so ausleben will. Der bei der Schmuggelfahrt mitgeführte Zettel („Vom Krankenhaus Bescheinigung, das Du nicht verhandlungsfähig bist“) spricht für ein bewusstes Ausnutzen der Erkrankung zur ungehinderten Begehung von Straftaten. Das Gewicht der Straftaten (Verbrechen) und die Wertigkeit der bedrohten Rechtsgüter (Volksgesundheit) sind hoch einzuschätzen.“

Man fragt sich beim Lesen: Menschenverachtend oder nicht? Sicherlich ist nicht zu verkennen, dass der Beschuldigte sich trotz seiner schweren Erkrankung als Schmuggelfahrer für Rauschgift zu betätigen scheint. Andererseits hat er offensichtlich nur noch eine Lebenserwartung von sechs Monaten, die er nun zunächst mal in der JVA verbringen muss. Ein wenig versöhnt, dass die Kammer vorsorglich darauf hinzuweist, dass Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben ist, wenn dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit vorliegt oder die Untersuchungshaft selbst zu schweren (zusätzlichen) Gesundheitsschäden führt. Fluchtgefahr und Wiederholungsgefahr wären auch erneut zu überprüfen, wenn der Beschuldigte durch objektiv überprüfbare Aufklärungshilfe die Verbindungen zu den Rauschgifthändlern unwiderruflich kappen würde. Wenn man das liest, erkennt man die m.E. wahren Gründen für die Fortdauer der U-Haft: Sie ist hier im Grunde nichts anderes als Beugehaft. Man hofft offenbar, so an die „brandgefährlichen“ Hintermänner zu kommen. Und das Abstellen auf die „Wiederholungsgefahr“ ist, wenn der im Beschluss nicht genannte § 112a StPO gemeint sein sollte, wovon ich ausgehe, falsch. Denn Wiederholungsgefahr ist immer nur subsidiärer Haftgrund. Darauf geht die Kammer mit keinem Wort ein. Aber dafür wird das Rechtsgut der „Volksgesundheit“ bemüht. „Bei der Formulierung sträuben sich mir immer die Nackenhaare“. Insgesamt meine ich: Etwas mehr Menschlichkeit wäre auch angesichts der Schwere des Vorwurfs sicherlich angebracht gewesen und vielleicht hätte man sich mal zumindest mit den Entscheidungen BerlVerfGH NJW 1993, 515 und NJW 1994, 436 auseinandersetzen können.

Nachschlag: Schnell sollte/muss es gehen in Haftsachen

© chris52 - Fotolia.com

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Machen wir heute einen Hafttag bzw. ich setze nach dem Posting “Untersuchungshaft bei Unterfinanzierung”, oder: Haftgrund fehlendes Personal? zum  BVerfG, Beschl. v. 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 – fort mit einigen Entscheidungen zur U-Haft, die zum Teil schon länger in meinem „Blogordner“ hängen und über die ich immer mal berichten wollte, also ein „Nachschlag“ Sie zeigen, wie überlastet mit Haftsachen die Justiz teilweise ist. Hinzuweisen ist auf:

Zum Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen bei längerer Flucht und Auslieferung des Beschuldigten nach Deutschland.

und dem Ergebnis:

„Zwar hat der Vorsitzende der zuständigen Strafkammer in der Folge den zunächst für den 8. Mai 2014 geplanten Beginn der Hauptverhandlung auf den 17. April 2014 vorverlegt und hat auch einen weiteren Pflichtverteidiger beigeordnet. Doch genügt die übrige Terminierung (sechs Hauptverhandlungstage in sieben Wochen) ersichtlich nicht, um die geschilderten früheren Verzögerungen auszugleichen. Angesichts anderweitiger Verfahren und anderer Umstände sah sich die Strafkammer zu einer strafferen Terminierung ausweislich der Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss nicht in der Lage. Auch der Präsident des Landgerichts wies in seinem Schreiben vom 18. März 2014 darauf hin, dass das Präsidium wegen der angespannten personellen Situation und der starken Belastung des Landgerichts mit anderen Verfahren keine Möglichkeit gesehen habe, die Strafkammer durch eine Hilfsstrafkammer zu unterstützen.

 Nach alledem war die Aufhebung des Haftbefehls nunmehr unumgänglich.“

Anmerkung: Es geht also auch anders als beim OLG München.

  • KG, Beschl. v. 08.05.2014 – 4 Ws 32 und 42/14 – zum Beschleunigungsgebot bei Überhaft mit den Leitsätzen:

    1. Das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot gilt auch, wenn der Betroffene von dem Vollzug der Untersuchungshaft verschont ist oder die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird, weil sich der Angeklagte in anderer Sache in Untersuchungshaft befindet und für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. 
    2. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollzogen wird und die notierte Überhaft keine faktischen Auswirkungen auf den Angeklagten hat, führt allerdings dazu, dass das Beschleunigungsgebot noch weiter abgeschwächt gilt, als bereits bei neben Strafhaft notierter Überhaft.“
  • OLG Hamm, Beschl. v. 26.06.2014 – III-1 Ws 324/14  zur Beschleunigung und Terminierung in Haftsachen, wenn die Stellung eines Beweisantrages auf Vernehmung eines (mutmaßlich) schwierig herbeizuschaffenden Auslandszeugen eine Terminierung in größerem Abstand erfordert mit den Leitsätzen:
  1. Nach der Rechtsprechung reicht in Haftsachen eine Verhandlungsdichte von durchschnittlich einem oder knapp über einem Verhandlungstag pro Woche jedenfalls dann nicht aus, wenn die Untersuchungshaft schon lange andauert, bzw. an den einzelnen Verhandlungstagen nur kurz verhandelt wird.
  2. Einzelne Hauptverhandlungstage werden hinreichend ausgeschöpft, sofern im Durchschnitt mehr als vier Stunden verhandelt wird.
  3. Die durch die Stellung eines Beweisantrages (hier: auf Einvernahme eines Auslandszeugen) eintretende Verzögerung ist nicht der Justiz anzulasten; es kann dann die grundsätzlich erforderliche Terminierungsdichte unterschritten werden.
  1. In lang dauernden Großverfahren ist die reine Durchschnittsfrequenz von Verhandlungstagen nur der Ausgangspunkt der Bewertung der Einhaltung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen. Der Verlauf eines sog. Umfangverfahrens hängt von einer Vielzahl im Einzelfall festzustellender Parameter ab, die bei der Bewertung der Beschleunigung des Verfahrens zu berücksichtigen sind.
  2. Das Hauptsachegericht ist in Haftsachen gehalten, während laufender Hauptverhandlung die Verfahrensentwicklung kontrollierend im Auge zu behalten und die Terminierungsdichte stetig und dynamisch an die aktuelle Prozesslage – unter Beachtung der Dauer der bereits vollzogenen Untersuchungshaft  –  anzupassen.

„Untersuchungshaft bei Unterfinanzierung“, oder: Haftgrund fehlendes Personal?

© Klaus Eppele - Fotolia.com

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Unter dem Betreff „Untersuchungshaft bei Unterfinanzierung“ hat mir der Kollege Garcia vom Blog De Legisbus den BVerfG, Beschl. v. 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14 – übersandt und gemeint, dass der doch vielleicht ein Posting wert wäre. In der Tat, das ist er; er hat es dann ja heute  auch bis in die Tagespresse geschafft. Dort allerdings u.a. unter dem „Eyechatcher“ „Mutmaßlicher Vergewaltiger kommt frei – weil die deutsche Justiz zu lahm war„. Vergewaltigung und U-Haft-Aufhebung ist immer ein Thema, aber: Jedes Ding hat zwei Seiten und man muss – auch bei schweren Vorwürfen – die anstehenden U-Haft-Fragen eben aus Sicht des angeblichen Täters sehen, da es um dessen persönliche Freiheit geht. Und dazu findet das BVerfG (mal wieder) klare und deutliche Worte – so wie ich sie länger nicht mehr gelesen habe. Sie zementieren, was schon seit längerem ständige Rechtsprechung des BVerfG ist: Den „Haft(fortdauer)grund fehlendes Personal“ gibt es nicht.

Kurz zum Sachverhalt der Entscheidung des BVerfG:

  • 18-jähriger, nicht vorbestrafter Angeklagter
  • In Haft seit dem 14.08. 2013
  •  Tatverdacht der Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung
  • geständig, keine Beweisanträge
  • Haftgründe Flucht- und Wiederholungsgefahr
  • Am 29.01.2014 Anklageerhebung
  • 25.02.2014 Sechs-Monats-Haftprüfung
  • 02.04.2014 Eröffnung des Hauptverfahrens; Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung 14., 15., 20., 22. und 24.10.2014.
  • 29.04.2014 Haftfortdauerbeschluss des LG mit Hinweis auf Überlastung der Kammer
  • 04.06.2014 Aufhebung der Oktoberhauptverhandlungstermine und neue Hauptverhandlungstermine für den 9., 10., 19. und 22.09.2014.
  • 10.06. 2014 zweiten (Neun-Monats-)Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO
  • 27.06.2014 Verfassungsbeschwerde

Die von der Kammer und dem OLG angeführten Gründe für die zögerliche Behandlung haben das BVerfG nicht überzeugt. Es stellt noch einmal seine ständige Rechtsprechung in diesen Fragen vor und führt dann zur Sache aus:

„II.
Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht. Sie enthalten keine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft.

1. Bereits die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts verkennt Inhalt und Tragweite der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Rechtfertigung einer Fortdauer von Untersuchungshaft, indem sie ausschließlich auf die Auslastung der Kammer abstellt. Die Begründung einer Haftfortdauerentscheidung allein durch die Dokumentation des Geschäftsanfalls der großen Strafkammern bei dem Landgericht München I seit dem Jahr 2006 ist in jeder Hinsicht sachfremd. Die geschilderte Personalsituation am Landgericht München I steht in keinem Zusammenhang zu den Erwägungen, die für eine zu treffende Haftfortdauerentscheidung maßgeblich sein dürfen. Die als unzureichend empfundene personelle Ausstattung eines Gerichts vermag eine längere als die verfahrensangemessene Untersuchungshaft eines Beschuldigten in keinem Fall zu rechtfertigen. Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>).

2. Auch der im Rahmen der zweiten Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO ergangene Beschluss des Oberlandesgerichts führt keine verfassungsrechtlich trag- fähigen Gründe für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft an. Das Verfahren ist, unabhängig davon, ob wegen bereits davor eingetretener Eröffnungsreife sogar auf einen früheren Zeitpunkt als auf den 2. April 2014 – dem Datum des Eröffnungsbeschlusses – abzustellen wäre, nicht in der durch das Gewicht des Freiheitseingriffs gebotenen Zügigkeit mit einem Beginn der Hauptverhandlung binnen drei Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens gefördert worden. Darüber hinaus wird sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des geplanten Beginns der Hauptverhandlung im September 2014 schon deutlich länger als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden haben. Vor diesem Hintergrund ist eine Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nur ausnahmsweise möglich; ihre Fortdauer hätte daher besonders sorgfältig begründet werden müssen.

Indes zeigt der Beschluss keine besonderen – objektiven – Umstände auf, welche die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft ausnahmsweise verfassungsrechtlich hinnehmbar erscheinen lassen könnten. Er wird damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung von Haftfortdauerentscheidungen nicht gerecht.

(a) Die Ausführungen des Oberlandesgerichts, die auf Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes abstellen, die zudem bereits im Jahre 2012 in Kraft getreten sind, lassen von vornherein keinen spezifischen Zusammenhang zu der zu treffenden Haftfortdauerentscheidung erkennen. Eine Änderung der allgemeinen Vorschriften über die Besetzung der großen Strafkammern in § 76 GVG stellt keine Besonderheit eines konkreten Strafverfahrens dar, erst recht keine, die dem Beschwerdeführer zuzurechnen wäre.

(b) Soweit das Oberlandesgericht ausführt, die Fortdauer der Untersuchungshaft sei trotz ihrer langen Dauer deswegen nicht zu beanstanden, weil das Präsidium des Landgerichts München I im Rahmen seiner Möglichkeiten auf die sich zuspitzende Belastungssituation der Jugendkammer reagiert habe, stellt dies ebenfalls keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Grund für die Haftfortdauer dar. Allenfalls kurzfristige, unvermeidbare und unvorhersehbare Belastungssituationen eines Gerichts wären im Einzelfall geeignet, eine Verzögerung in der Verfahrensförderung zu rechtfertigen. Diese Voraussetzungen lassen sich dem Beschluss des Oberlandesgerichts jedoch nicht entnehmen. Seine Ausführungen sprechen vielmehr dafür, dass sich die Überlastungssituation schon über längere Zeit aufgebaut hat. Eine solche Überlastung des Gerichts fällt in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft; sie ist dem Beschwerdeführer in keinem Fall zuzurechnen.

(c) Auch auf die Schwere der Tat kann hier für die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht abgestellt werden. Es hätte einer eingehenden Begründung bedurft, inwieweit allein die Schwere des Tatvorwurfes im vorliegenden Fall eine deutlich längere Verfahrens- und damit auch Untersuchungshaftdauer erfordert, die das Oberlandesgericht indes vermissen lässt. Dies gilt umso mehr, als es sich ersichtlich um einen insgesamt einfach gelagerten Fall handelt. Infolge des weitgehenden Geständnisses des Beschwerdeführers ist der Sachverhalt, abgesehen von Randfragen und der Feststellung seiner Schuldfähigkeit durch ein in der Hauptverhandlung zu erstattendes Sachverständigengutachten, im Wesentlichen bereits geklärt. Es ist nicht erkennbar, dass umfangreiche Beweiserhebungen zu erwarten sind; entsprechende Anträge hat der Beschwerdeführer jedenfalls bislang nicht gestellt.“

Das nennt man dann in Bayern wohl eine „Watschn“, natürlich auch gegen die Kammer und gegen das OLG. Dass man etwas „sachfremd“ begründet habe, liest man als Richter nicht gern, und schon gar nicht in einer Entscheidung des BVerfG. Eine viel größere „Watschn“ ist der Beschluss aber mal wieder für die Politik, die der Justiz einfach nicht die zur Bewältigung ihrer Aufgaben erforderlichen Sachmittel zur Verfügung stellt. Wenn die Sache dann aber beim BVerfG angekommen ist, kneift man! Denn der Beschluss führt aus:

Das Bayerische Staatsministerium für Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.“

Peinlich und feige, LG und OLG dann alleine zu lassen. Da lobe ich mir doch den GBA. Der hatte die Zeichen der Zeit erkannt. Denn:

„Der Generalbundesanwalt vertritt in seiner Stellungnahme die Auffassung, der Verfassungsbeschwerde könne der Erfolg nicht versagt werden. Es fehle an einer tragfähigen Begründung für die Fortdauer der Untersuchungshaft.“

Das OLG dann allerdings auch. Denn nach den Berichten in der Tagespresse ist der Angeklagte frei gelassen worden. Das wollte man sich dann doch nicht antun. Das nämlich ggf. das BVerfG selbst den Angeklagten hätte frei lassen müssen. Denn das wäre gewesen: Schlimmer geht nimmer.