Schlagwort-Archive: U-Haft

U-Haft II: Schwerkriminalität und Fluchtgefahr, oder: Ohne Haftgrund gibt es keinen Haftbefehl

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den LG Stuttgart, Beschl. v. 05.08.2022 – 14 Qs 21/22 -, den mir der Kollege Stehr aus Göppingen geschickt hat.

Am 19.04.2022 erhob die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den zum damaligen Zeitpunkt auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten u.a. wegen der Vorwürfe der Vergewaltigung und des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern Anklage beim AG Esslingen – Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht-. Nachdem der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts gegenüber der Staatsanwaltschaft Bedenken hinsichtlich der sachlichen Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts geäußert hatte, nahm die Staatsanwaltschaft am 23.06.2022 die Anklage zurück und erhob nunmehr Anklage beim AG – Schöffengericht – Esslingen. Zugleich beantragte sie nun erstmals den Erlass eines Haftbefehls gegen den Angeschuldigten. Am 11.07.2022 hat das AG im Umfang der Anklageschrift einen auf die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Schwerkriminalität gestützten Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte habe im Falle einer Verurteilung mit einer erheblichen Freiheitsstrafe im nicht bewährungsfähigen Bereich zu rechnen. Soziale Bindungen oder andere Faktoren, welche dem in Ansehung der zu erwartenden Strafe bestehenden Fluchtanreiz entgegenwirken könnten, seien derzeit nicht bekannt. Ebenfalls sei in den dem Beschuldigten zur Last liegenden Taten ein hohes Maß an krimineller Energie zu erkennen, da er über einen längeren Zeitraum hinweg verschiedene minderjährige Geschädigte über soziale Netzwerke kontaktiert und diese gezielt zur Ermöglichung sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen manipuliert haben solle. Ebenso lägen die Voraussetzungen von § 112 Abs. 3 StPO vor.

Nach der Festnahme des Angeschuldigten wird der Haftbefehl seit dem 19.7.2022 vollzogen. Die Haftbeschwerde des Beschuldigten hatte Erfolg:

„Zwar ist der Beschwerdeführer der im angegriffenen Haftbefehl bezeichneten Taten dringend verdächtig. Es fehlt jedoch an einem Haftgrund im Sinne des § 112 Abs. 2 und Abs. 3 StPO.

Soweit sich die Anordnung der Untersuchungshaft auf den Haftgrund der Schwerkriminalität nach § 112 Abs. 3 StPO stützt, geht dies fehl, da bereits die formellen Voraussetzungen der Vorschrift nicht gegeben sind. In Abs. 3 findet sich dem Wortlaut nach eine atypische Ermächtigung zur Anordnung der Untersuchungshaft in den dort abschließend aufgeführten Fällen von Katalogtaten der Schwerkriminalität ohne Hinzutreten eines Haftgrundes im Sinne von § 112 Abs. 2 StPO. Aufgrund des vom Gesetzgeber gewählten Enumerationsprinzips findet die Vorschrift hingegen keine Anwendung, wenn die Norm nicht ausdrücklich im Katalog des Abs. 3 enthalten ist (vgl. MüKoStPO/Böhm/Werner, 1. Aufl. 2014, StPO § 112 Rn. 88). So liegen die Dinge hier. Anknüpfungspunkt für die Charakterisierung als Katalogtat ist damit deren Bezeichnung nach Paragraph, Absatz, Nummer usw.. Nachdem die Vorschrift des § 176a Abs. 1 StGB in dieser abschließenden Aufzählung nicht enthalten ist, liegen bereits die formellen Voraussetzungen des § 112 Abs. 3 StPO nicht vor, so dass auch die Frage nach der Identität des Regelungsgehalts von § 176a StGB a.F. und § 176c Abs. 1 StGB keiner Beantwortung mehr bedarf.

Ebenfalls besteht ein Haftgrund nach § 112 Abs. 2 StPO – auch unter Berücksichtigung der erheblichen Straferwartung – nicht. Denn allein die hohe Straferwartung vermag die Fluchtgefahr nicht begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 112 Rn. 24 m.w.N,). Daher ist die Straferwartung nur der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschwerdeführer werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, ein Beschuldigter werde dem in der Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben (OLG Hamm, Beschluss vom 19. Februar 2013 — 5 Ws 59/13). Die danach vorzunehmende Gesamtwürdigung ergibt, dass hier der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht anzunehmen ist: Der Beschwerdeführer verfügt über einen festen Wohnsitz und ist aufgrund seiner ausgeübten Erwerbstätigkeit sozial eingebunden. Er ist selbstständig und habe Haus und Hof. Beides sind Umstände, die mit einer längeren Abwesenheit des Beschwerdeführers nicht verträglich sind. Überdies würde er im Fall seiner Flucht oder seines Untertauchens seinen krebskranken Vater zurücklassen. Ferner hat er bereits seit Anfang Juli 2021 Kenntnis von den Tatvorwürfen im Raum Ulm (l. A. des Haftbefehls), wobei Vorkehrungen, die darauf schließen ließen, er werde sich dem Verfahren durch Flucht entziehen, nicht getroffen wurden. Auch ist davon auszugehen, dass der anwaltlich beratene Beschwerdeführer eine grobe Vorstellung über die Höhe der zu erwartenden Rechtsfolgen hat. Nach alledem überwiegt nach Auffassung der Kammer die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren stellen wird. Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist mithin nicht gegeben.

Schließlich ist die Anordnung der Untersuchungshaft auch nicht aufgrund von Wiederholungsgefahr gern. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO geboten. Die Wiederholungsgefahr muss durch bestimmte Tatsachen begründet sein, die eine so starke innere Neigung des Beschuldigten zu einschlägigen Straftaten erkennen lassen, dass die Gefahr besteht, er werde gleichartige Taten wie die Anlasstaten bis zur rechtskräftigen Verurteilung in der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens bildenden Sache begehen (KK-StPO/Graf, 8. Aufl, 2019, StPO § 112a Rn. 19). Erforderlich ist eine innere Neigung oder wenigstens Bereitschaft der Begehung von Straftaten, auf welche vor allem aus äußeren Tatsachen geschlossen werden kann. Insoweit sind auch Indiztatsachen zu berücksichtigen und zu würdigen, wie etwa die Vorstrafen des Beschuldigten und die zeitlichen Abstände zwischen ihnen sowie die Persönlichkeitsstruktur und die aktuellen Lebensumstände des Beschuldigten (BeckOK StPO/Krauß, 43. Ed. 1.4.2022, StPO § 112a Rn. 13). Solche Indiz-tatsachen, die die erforderliche Wiederholungsgefahr zu begründen geeignet wären, sind vorliegend nicht vorhanden. Der Beschwerdeführer ist bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Ebenfalls liegen keine Hinweise auf weitere sexualstrafrechtliche Verfehlungen des Beschwerdeführers vor. Daher besteht die erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung des strafbaren Verhaltens vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens nicht.“

Eine „schöne“ Entscheidung. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Ausführungen zur „Schwerkriminalität“. Denn es wird oft übersehen, dass auf diesen Haftgrund nur in den in § 112 Abs. 3 StPO enumerativ aufgezählten Fällen abgestellt werden kann/darf. Zudem ist die Regelung darüber hinaus verfassungskonform auszulegen. Denn der Haftgrund der Schwerkriminalität ist (nur) dann gegeben, wenn der Beschuldigte einer in § 112 Abs. 3 genannten Straftat – ungeachtet des im Einzelfall zu erwartenden Strafmaßes – dringend verdächtig ist und Umstände vorliegen, welche die Gefahr begründen, dass ohne seine Festnahme die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte; ausreichend ist dabei schon die zwar nicht mit bestimmten Tatsachen belegbare, aber nach den Umständen des Falls nicht auszuschließende Flucht- oder Verdunklungsgefahr (BVerfGE 19, 342, 350 f.; zuletzt BGH, Beschl. v. 13.7.2022 – StB 28/22 – m.w.N.).

U-Haft I: Meldeauflage erfüllt, keine Fluchtgefahr mehr, oder: Wenn die Vertreterin keinen Bock hat

Bild von Christian Dorn auf Pixabay

Heute dann mal wieder ein Hafttag. Den beginne ich mit einer Entscheidung des LG Paderborn, den mir der Kollege Urbanek auf Bielefeld geschickt hat.

Der Angeklagten wird Raub in Tateinheit mit Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklage wurde erhoben vor dem AG Lippstadt – Schöffengericht. Gegen die Angeklagte ist Haftbefehl erlassen worden, mit Beschluss vom 08.04.2022 den das LG unter Auflagen außer Vollzug gesetzt hat. U.a. wurde eine Meldeauflage gemacht.

Hauptverhandlungstermin war auf den 07.06.2022 bestimmt. Mit Schriftsatz vom 08.05.2022 beantragte der Verteidiger beim AG Lippstadt nach Rücklauf der Akten vom LG Paderborn Akteneinsicht. Gewährt wurde eine Akteneinsicht in der Folge nicht. Mit Schriftsatz vom 31.05.2022 beantragte der Verteidiger der daraufhin die Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 Abs. 1 StPO. Mit Verfügung vom 02.00.2022 wurde daraufhin der Hauptverhandlungstermin durch das AG aufgehoben. In der Folge wurde den Verteidigern Akteneinsicht gewahrt. Ein erneuter Hauptverhandlungstermin wurde nicht bestimmt.

Mit Eingang beim AG am 06.06.2022 beantragte die Angeklagte eine Aufhebung des Haftbefehls vom 03.03.2022, da mittlerweile von keiner Fluchtgefahr mehr auszugehen und zudem die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls unverhältnismäßig sei. Eine Entscheidung über den Antrag erging sodann zunächst nicht. Mit Schriftsatz eingegangen am 22.06.2022 erinnerte der Verteidiger an den Antrag vom 06.06.2022. Hierzu wurde durch das AG mitgeteilt, dass die Akte derzeit versendet sei.

Am 27.06.2022 erkundigte sich der Verteidiger zudem telefonisch nach dem Stand der Sache. Auf die Mitteilung, dass sich der zuständige Dezernent in Urlaub befände, bat er um eine Entscheidung im Vertretungswege. Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung. Nach Rückkehr des Dezernenten wurde der Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls mit Beschluss vom 08.07.2022 zurückgewiesen.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss hatte beim LG Erfolg. Das hat im LG Paderborn, Beschl. v. 19.07.2022 – 08 Qs-43 Js 301/21-32/22 – den Haftbefehl aufgehoben.

Das LG verneint Fluchtgefahr und begründet das u.a. damit, dass die Angeklagte längere Zeit die gemachten Meldeauflagen erfüllt hat. Insoweit bitte selbst lesen.

Hier stelle ich die Ausführungen des LG zur Verhältnismäßigkeit vor:

„2. Darüber hinaus war der Haftbefehl auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aufzuheben.

Aus rechtsstaatlichen Granden besteht auch bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen die Pflicht zu einer möglichst zügigen Bearbeitung. Die mit den Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundenen Beschränkungen sind auch in Ansehung der Belange einer funktionierenden Strafrechtspflege nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen (vgl. BVerfGE 53, 152 = NJW 1980, 1448).

Die an eine zügige Bearbeitung der Sache zu setzenden Maßstäbe sind durch das Amtsgericht Lippstadt – Schöffengericht – in einem solchen Umfang verletzt worden, dass eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig erscheint.

Hierfür dürfte bereits ausreichend sein, dass nach Aufhebung des für den 07.06.2022 bestimmten Hauptverhandlungstermins am 02.06.2022 bis zum Zeitpunkt dieser Kammerentscheidung kein erneuter Hauptverhandlungstermin bestimmt wurde und auch keine Bemühungen zur Bestimmung eines Hauptverhandlungstermins – wie etwa die Anfrage bezüglich einer Terminsabsprache mit den Verteidigern der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten – aus der Akte zu entnehmen sind. Außer der Gewährung von Akteneinsichten und der – ebenfalls nur verzögert erfolgten – Bearbeitung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Haftaufhebung vom 06.06.2022, finden sich insoweit keinerlei Hinweise auf verfahrensfördernde Bemühungen des Amtsgerichts.

Darüber hinaus beruht auch die Notwendigkeit der Aufhebung des Termins vom 07.06.2022 in vollem Umfang auf der fehlenden Verfahrensförderung durch das Amtsgericht Lippstadt – Schöffengericht -. Nachdem nämlich zuvor in berechtigter Weise beantragte Akteneinsichtsgesuche mehrerer Verteidiger nicht beschieden wurden, wurde eine Aufhebung des Termins notwendig, da eine Vorbereitung der Verteidiger in einer für die angemessene Vertretung der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten ohne vorherige Akteneinsicht nicht möglich war. Die hierdurch verursachte Notwendigkeit zur Aufhebung des Hauptverhandlungstermins wiegt umso schwerer, nachdem sich aus der Akte ergibt, dass mit Verfügung vom 02.05.2022 eine digitale Kopie der vollständigen Verfahrensakte durch die Staatsanwaltschaft P. gefertigt wurde, durch welche den Verteidigern zeitnah und parallel Akteneinsicht hätte gewährt werden können.

Schlussendlich konnte im Zusammenhang mit der zügigen Bearbeitung dieser Haftsache auch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch der Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung des Haftbefehls vom 06.06.2022 zunächst ohne erkennbaren Grund durch den zuständigen Dezernenten am 08.06.2022 auf den Zeitpunkt seiner Rückkehr aus dem anstehenden Urlaub verfristet wurde und durch seine Vertreterin auf entsprechende Nachfrage des Verteidigers der Beschwerdeführerin gemäß Vermerk vom 29.06.2022 als nicht eil- bzw. entscheidungsbedürftig angesehen wurde und ebenfalls auf die Rückkehr des zuständigen Dezernenten verfristet wurde.

Angesichts der hierdurch insgesamt für die Beschwerdeführerin eingetretenen Belastungen – auch unter Berücksichtigung, dass ihr gegenüber zuvor in der Zeit vom 04.03.2022 bis zum 08.04.2022 Untersuchungshaft vollzogen wurde – ist, nachdem insbesondere ein Hauptverhandlungstermin weiterhin nicht in Aussicht ist, eine weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls selbst nach Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig.“

Spätestens an der Stelle: „Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung.“ schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen und ist schon erstaunt, wie man beim AG Lippstadt mit Haftsachen umgeht.

StPO I: U-Haft und Einholung eines SV-Gutachtens, oder: Beschleunigungsgrundsatz verletzt?

© Dickov – Fotolia.com

Heute dann ein StPO-Tag, und zwar mit zwei OLG-Entscheidungen und einer LG-Entscheiudung zu Zwangsmaßnahmen. In allen geht es um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.

Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 06.07.2022 – 4 Ws 201/22 -, der sich mit U-Haft befasst. Der Angeklagte hatte gegen einen Haftbefehl Rechtsmittel eingelegt. Der Angeklagte wurde am 03.01.2022 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 04.01.2022 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Am 10. 06.2022 hat die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten begonnen; diese dauert weiter an.

In der Sitzung vom 29.06.2022 hat der Verteidiger des Angeklagten Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. In dieser Sitzung – dem dritten Termin zur Hauptverhandlung – hat sich der Angeklagte – wie auch der Mitangeklagte K. – erstmals eingelassen und insbesondere Angaben zu seinem Betäubungsmittelkonsum gemacht. Beide Angeklagte haben sich bereit erklärt, aktiv an einer Exploration mitzuwirken und die sie behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbunden. Daraufhin wurden weitere Hauptverhandlungstermine bis zum 06.09.2022 vereinbart und die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens „zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 21, 64 StGB“ beschlossen. Zur Sachverständigen wurde Frau Dr. R. bestellt, die das Gutachten nach Rücksprache mit ihrem Büro im Hauptverhandlungstermin vom 17.08.2022 erstatten soll. Mit der Beschwerde macht der Verteidiger insbesondere geltend, ein solches Gutachten habe bereits früher eingeholt werden müssen, weil Anhaltspunkte für eine Rauschmittelabhängigkeit des Angeklagten schon zuvor bestanden hätten. Mit ähnlicher Argumentation in Bezug auf seinen Mandanten hat der Verteidiger des Mitangeklagten – erfolglos – die Aufhebung des diesen betreffenden Haftbefehls beantragt.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg. Das OLG führt u.a. aus:

„3. Das Verfahren ist jederzeit mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden. Insbesondere ist es entgegen der Auffassung des Verteidigers nicht auf Versäumnisse der Ermittlungsbehörden zurückzuführen, dass entsprechend den unter I. geschilderten Abläufen erst während laufender Hauptverhandlung die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Frage einer etwaigen verminderten Schuldfähigkeit der Angeklagten (§ 21 StGB) und zu den Voraussetzungen ihrer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) veranlasst wurde und hierdurch eine – vergleichsweise geringfügige – Verzögerung des Verfahrensabschlusses eingetreten ist.

Zwar ist ein solches Gutachten stets zum frühestmöglichen Zeitpunkt einzuholen, nachdem die Ermittlungen hierzu Anlass geben. Bei der Einholung des Gutachtens ist es zur gebotenen Beschleunigung des Verfahrens zudem unerlässlich, auf eine zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstatten ist und ggfls. zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstattung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist. Der Gutachter ist auf die bestehende Haftsituation hinzuweisen. Gericht und Staatsanwaltschaft haben die zügige Gutachtenerstattung fortwährend zu kontrollieren und den Gutachter zur zügigen Bearbeitung anzuhalten. Es ist ferner zu beachten, dass in Fällen, in denen Entscheidungen wie die Anklageerhebung oder der Eröffnungsbeschluss nicht vom Ergebnis des Gutachtens abhängen, der Eingang des Gutachtens nicht unbedingt abgewartet werden muss, wenn z.B. offenkundig – wie hier – nur eine verminderte Schuldfähigkeit in Betracht kommt (Beschlüsse des 1. Strafsenats vom 18.03.2008 -1 Ws 8/08(H), 22.07.2009 –1 Ws 27/09(H), vom 02.06.2010 -1 Ws 15 und 16/10(H), vom 07.07.2010 – 1 Ws 20/10 (H) und vom 22.04.2015 – 1 Ws 7/15 (H) – juris).

Allerdings hat hinreichender Anlass zur Einholung eines Gutachtens bis zum Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2022 nicht bestanden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich keiner der Angeklagten eingelassen, so dass nähere Erkenntnisse zu ihrem Konsumverhalten in Bezug auf Drogen nicht vorgelegen haben. Auch war nicht damit zu rechnen, dass die gegenüber den Ermittlungsbehörden schweigenden Angeklagten einem Sachverständigen gegenüber Angaben machen würden, so dass für diesen als Anknüpfungstatsachen lediglich die Aktenlage zur Verfügung gestanden hätte. Danach war zwar davon auszugehen, dass die Angeklagten in größerem Umfang mit Betäubungsmitteln unterschiedlicher Art Handel getrieben haben; auch hatten die Polizeibeamten bei der Festnahme der Angeklagten den Eindruck, dass diese „augenscheinlich unter dem Einfluss von Betäubungsmitteln zu stehen schienen“ (Bl. 5 d.A.). Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten in einem Ausmaß den Hang haben könnten, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, der eine Maßregel nach § 64 StGB rechtfertigen könnte, bestanden aber zu keinem Zeitpunkt, zumal es aus Sicht des Senats keinen Erfahrungssatz gibt, wonach Personen, die mit Betäubungsmitteln Handel treiben, diese auch immer wieder im Sinne einer eingewurzelten intensiven Neigung in einem Umfang konsumieren, durch den Gesundheit und Leistungsfähigkeit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt werden (Hangbegriff, vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 64 Rn 7, 7a). Noch weniger Anlass bestand für die Annahme, die Angeklagten könnten infolge akuter Intoxikation in ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit beeinträchtigt gewesen sein, zumal insbesondere der Beschwerdeführer noch in der Lage war zu versuchen, Beweismittel vor den Polizeibeamten zu verbergen (vgl. Bl. 4 d.A. letzter Absatz). Eine einzige – vergleichsweise geringfügige – einschlägige Vorverurteilung des im Übrigen erheblich vorgeahndeten Angeklagten datiert aus dem Jahr 2005 und hat für das aktuelle Konsumverhalten keinerlei Aussagekraft. Unter diesen Umständen war weder die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren gehalten, ein Sachverständigengutachten zu den genannten Punkten in Auftrag zu geben, noch musste das Landgericht nach erfolgter Anklageerhebung vor dem Hauptverhandlungstermin vom 29.06.2022 und den darin erfolgten erstmaligen Einlassungen der Angeklagten im Sinne des § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO die Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt erwägen und deswegen einen Sachverständigen hierzu vernehmen, zumal diese Vorschrift (auch) der Vermeidung überflüssiger Begutachtungen durch – nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehende – forensisch erfahrene Sachverständige dient (vgl. BGH, Beschluss vom 23.03.2022 – 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432 m. Anm. Schneider).“.

 

U-Haft III: Keine „Aufschlusszeiten“ wegen Corona, oder: Interaktionsbedürfnis des U-Haft-Gefangenen

© jtanki – Fotolia.com

Und zum Schluss des Tages dann noch etwas aus dem U-Haft-Vollzug. der OLG Hamburg, Beschl. v. 12.07.2022 – 1 Ws 27/22 – hätte übrigens auch an einem „Corona-Tag“ vorgestellt werden können. Denn es geht um die Frage der Rechtmäßigkeit einer Streichung von sog. Aufschlusszeiten.

Der Beschuldigte war während seiner Unterbringung in der Untersuchungshaftanstalt auf einer offenen Station untergebracht, auf der er (zunächst) innerhalb der von der Anstalt vorgegebenen Zeiten – 08.30 Uhr bis 12:30 Uhr sowie 15:00 Uhr bis 18:00 Uhr – am Aufschluss teilnehmen und dadurch insbesondenre duschen, telefonieren, die Küche nutzen sowie sich mit Mitgefangenen unterhalten konnte. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen und Gefahren der Covid-1 B-Pandemie ordnete der Leiter der Untersuchungshaftanstalt am 03.12.2021 aus Gründen des Infektionsschutzes nach Rücksprache mit den in der Ambulanz der Anstalt tätigen Ärzten formlos – mitgeteilt über den hausinternen „Info-Pool“ – die Streichung sämtlicher Aufschlusszeiten an. Im Anschluss hieran wurde der Beschuldigte entsprechend dieser Regelung behandelt. Er hat vorgetragen, aufgrund dessen in der Regel 23 Stunden in seinem Haftraum eingeschlossen gewesen zu sein.

Das OLG Hamburg hat diese Maßnahme als rechtswidirig angesehen. Aus dem umfangreichen Beschluss hier nur folgende Passage:

„(2) Nach dieser Maßgabe hat die UHA das ihr in § 42 Abs. 6 HmbUVollzG eingeräumte Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt.

(a) Im Rahmen der ihr eingeräumten Ermessensspielräume hat die Justizvollzugsanstalt die Grundrechte und Bedürfnisse der Gefangenen, insbesondere nach Interaktion mit Mitgefangenen, und die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Justizvollzugsanstalt zu berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen (vgl. OLG Naumburg, Beschl. v. 29.08.2019 -1 Ws (s) 269/191 – juris, Rn. 16; OLG Celle, Beschl. v. 03.03.1981 – 3 Ws 410/80 -, NStZ 1981, 2218). Bei der Anwendung der Vorschriften des Untersuchungshaftrechts hat sie dabei stets der besonderen Stellung Untersuchungsgefangener und dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb lediglich unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.01 .2008 – 2 BvR 1229/07 -, juris; BVerfG, Beschl. v. 16.06.04.1976- 2 BvR 61/76-, NJW 1976, 1311 ; Beschl. v. 31 .08.1993- 2 BvR 1479/93 -, NStZ 1994, 52; Beschl. v. 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14-, NStZ-RR 2015, 79, 80).

Untersuchungsgefangene sind gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 HmbUVollzG so zu behandeln, dass der Anschein vermieden wird, sie würden zur Verbüßung einer Strafe festgehalten. Vor diesem Hintergrund erlangen die Grundrechte der Gefangenen ein erhöhtes Gewicht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.10.2012 – 2 BvR 737/11BVerfGK 20, 107, 113). Als Konsequenz hieraus hat die Justizvollzugsanstalt u.a. den in § 5 Abs. 1 S. 1 HmbUVollzG zum Ausdruck gebrachten Angleichungsgrundsatz zu beachten und möglichst darauf hinzuwirken, dass Untersuchungsgefangene eine angemessene Zeit des Tages außerhalb ihrer Hafträume verbringen können (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.10.2012- 2 BvR 736/11BVerfGK 20, 93, 101).

(b) Den vorgenannten Anforderungen hat die UHA nicht genügt. Die einschlägigen Rechte und Interessen der Gefangenen haben bei ihrer Entscheidung keine ausreichende Berücksichtigung gefunden.

(aa) Insoweit kann dahinstehen, auf welchen Zeitpunkt es bei der Prüfung der Ermessensentscheidung ankommt und ob und inwieweit die UHA im gerichtlichen Verfahren Gründe nachschieben kann.

(bb) Denn jedenfalls genügen die Erwägungen der UHA auch unter Berücksichtigung der erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens geäußerten Überlegungen nicht den Anforderungen an eine fehlerfreie und vollständige Ermessensentscheidung.

Der gebotenen Berücksichtigung des Bedürfnisses der Gefangenen an lnteraktion und internen Freiräumen kam im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zu. Die Auswirkungen der Anordnung für die Gefangenen ähnelten einer Einzelhaft, die als besondere Sicherungsmaßnahme in § 54 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 3 HmbUVollzG spezifisch geregelt ist und einen schweren Eingriff in Grundrechte bewirkt (vgl. BVerfGK 20, 93, 103).

Die deswegen gebotene hinreichende Abwägung mit den Interessen der Gefangenen hat ausweislich der von der UHA mitgeteilten Erwägungen nicht stattgefunden. Die Begründung der UHA erschöpft sich auch in den nachgeschobenen Erwägungen in der Rechtfertigung der Maßnahme mit dem Infektionsschutz und der sich aus § 36 Abs. 1 Nr. 6 lfSG ergebenden Pflicht der Behörde zur Festlegung innerbetrieblicher Verfahrensweisen zur Infektionshygiene. Zwar hat die Anstaltsleitung hierzu weiter ausgeführt und erläutert, warum nach ihrer Auffassung mildere Mittel nicht in Betracht kämen. Bezüglich der beeinträchtigten Rechte der Gefangenen hat sie dagegen lediglich pauschal darauf verwiesen, dass diese durch die Anordnung gewahrt seien.

Ihre Ausführungen lassen nicht erkennen, dass sie sich in ihrer Abwägung der entgegenstehenden Belange eingehend mit den konkret beeinträchtigten Grundrechten der Betroffenen und deren Gewicht auseinandergesetzt und hierbei insbesondere den Angleichungsgrundsatz und die Sonderstellung von Untersuchungsgefangenen berücksichtigt hat. Stattdessen waren die Überlegungen der UHA einseitig darauf ausgerichtet, dem Infektionsgeschehen entgegenzuwirken.

Wenngleich dies im Ansatz richtig und dem Sinne des Gesetzes entsprechend war, hätte die UHA in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund der besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffe erwägen müssen, ob und inwieweit zumindest in Grenzen eine Konkordanz mit den Rechten der Gefangenen möglich und vertretbar gewesen wäre. Die UHA hätte sich hierzu näher verhalten und zusätzlich prüfen müssen, ob alternative Konzepte umsetzbar gewesen wären, die zumindest einen kürzeren und eingeschränkten Kontakt zu anderen Gefangenen ermöglicht hätten und hierbei zu einem derart geringen Restrisiko für Belange des Gesundheitsschutzes geführt hätten, dass die rechtlichen geschützten Interessen der Gefangenen dessen Hinnahme als noch vertretbar und damit gerechtfertigt hätten erscheinen lassen.

Dies wäre, soweit ersichtlich, nach Lage der Dinge jedenfalls für geimpfte und genesene Gefangene wie den Beschwerdeführer nicht  ausgeschlossen gewesen. Den Versuch eines Interessenausgleichs hätte die UHA etwa durch die Prüfung der Frage unternehmen können, ob dem Grundbedürfnis an Kommunikation zumindest durch ein Minimum an zusätzlichen Freiräumen hätte entsprochen werden können. Zu denken gewesen wäre an deutlich verkürzte Öffnungszeiten, zu denen jeweils nur wenige Gefangene – bei Aufteilung in feste Gruppen – die Gelegenheit zu intern freier Bewegung gehabt hätten. Die Pflicht zur Tragung von Masken hätte in diesem verminderten Rahmen eher mit dem zur Verfügung stehenden Personal! überwacht werden können; ihre Durchsetzung hätte durch den Verlust der Vergünstigung im Falle eines Fehlverhaltens erfolgen können. Soweit die UHA in diesem Zusammenhang darauf verwiesen hat, dass eine unterschiedliche Behandlung von Gefangenen (,,Binnendifferenzierung“) die Einrichtung einer abgetrennten Station erfordert hätte und dies aufgrund der räumlichen Gegebenheiten nicht möglich gewesen wäre, weil dies dazu geführt hätte, dass Plätze auf dieser Station nicht voll hätten belegt werden können, falls nicht ausreichend geimpfte oder genesene Gefangene vorhanden gewesen wären, erscheinen die Überlegungen aus sich heraus nicht nachvollziehbar.

Insbesondere ist nicht erkennbar, warum nicht einzelne Gefangene auf einer sonst (zeitweise) geöffneten Station im Einschluss hätten verbleiben können. Ob die entsprechenden Überlegungen zu einem Interessenausgleich, wie von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten, notwendig zu Ausnahmen von der Einschlussregelung hätten führen müssen, weil letztere andernfalls unverhältnismäßig wäre, kann hier dahinstehen. Ein Ermessensfehler liegt alleine schon darin, dass die UHA das Gewicht der Gefangenenrechte und dementsprechend ihre Bedeutung bei der Ermessensausübung verkannt hat.“

U-Haft I: Mehr als 2 Jahren U-Haft noch verhältnismäßig, oder: Straferwartung nur noch mehrere Monaten

© cunaplus – Fotolia.com

Am heutigen Donnerstag mache ich dann mal einen Hafttag. Den hatten wir schon länger nicht mehr.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 20.04.2022 – StB 16/22. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten in einem Haftbefehl des OLG Stuttgart Unterstützung einer Vereinigung i.S. des § 129 Abs. 2 StGB), deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB), sowie tatmehrheitlich (§ 53 StGB) hierzu unerlaubt Munition und eine verbotene Hieb- und Stoßwaffe besessen (§ 52 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB) zur Last gelegt wird.

Der Angeklagte wurde am 14.02.2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15.02.2020 ununterbrochen in U-Haft. Der BGH hat im September und Dezember 2020 und dann noch einmal im März 2021 im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Anklage ich am 04.11.2020 erhoben worden. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13.04.2021 an.

Der Angeklagte hat jetzt durch seine Verteidiger beantragt, den Haftbefehl des OLG aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag hat das OLG abgelehnt. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Er wendet sich u.a. auch gegen die Annahme der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft. Das OLG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der BGH hat die Beschwerde verworfen. Er führt zur Verhältnismäßigkeit aus:

„4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung ist nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss – unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt unter anderem, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 Rn. 57 f.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).

b) An diesen Maßstäben gemessen, ist die weitere Inhaftierung des Angeklagten derzeit noch gerechtfertigt.

aa) Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind, wie vom Oberlandesgericht im Haftbefehl und im Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt, bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche (zu diesem Erfordernis s. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet.

bb) Die verbleibende Straferwartung beträgt immerhin noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. KG, Beschluss vom 31. August 2007 – 1 AR 1207/071 Ws 146/07, NStZ-RR 2008, 157; KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 mwN; MüKoStPO/Böhm, § 120 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 4).

Zudem hat der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421, 426).

Nach allem ist die Untersuchungshaft des Angeklagten trotz ihrer erheblichen Dauer von inzwischen über zwei Jahren derzeit noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht wird als das mit der Sache befasste Tatgericht jedoch im Blick behalten müssen, ab wann die Inhaftierung des Angeklagten die voraussichtlich von ihm zu verbüßende Haftzeit überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt stünde die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aller Voraussicht nach außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe. Das gilt besonders dann, wenn bis dahin der Abschluss des Verfahrens nicht absehbar sein sollte.“