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U-Haft I: Beschleunigungsgrundsatz nach Urteil, oder: Fehler bei der Protokollerstellung

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Heute dann der zweite „Hafttag“ in 2023, also noch einmal drei Entscheidungen zu Haftfragen.

Ich beginne mit dem OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2022 – 1 Ws 107/22. Das OLG hat Stellung genommen zur Untersuchungshaftfragen, insbesondere zum Beschleunigungsgrundsatz bei verzögerter Urteilszustellung wegen fehlender Protokollfertigstellung.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.12.2020 in Haft wegen der Vorwurfs eines BtM-Delikts. Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat das LG Bremen den Angeklagten nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- EUR angeordnet. Der weitere Vollzug der U-Haft wurde angeordnet.

Der Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Am 09.05.2022 hat die Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe, die am 27.04.2022 zur Geschäftsstelle gelangt sind, verfügt. Durch weitere Verfügung der Vorsitzenden vom 20.06.2022 wurde die Übersendung der Akten gemäß § 347 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft veranlasst. Dort wurde ausweislich einer Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 11.07.2022 festgestellt, dass die Teilprotokolle vom 20. und 29. Hauptverhandlungstag jeweils nicht von der eingesetzten Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet worden waren. Nachdem die fehlenden Unterschriften noch am 11.07.2022 nachgeholt worden waren, verfügte die Vorsitzende unter dem 14.07.2022 erneut die Zustellung des Urteils. Die Verfügung wurde am 20.07.2022 ausgeführt. Rechtsanwalt D. verweigerte seine Mitwirkung bei der Zustellung, indem er das Empfangsbekenntnis nicht abgab, was er damit begründete, dass das per EGVP an ihn übersendete Schriftstück, welches u.a. die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 Urteil A.“ enthalten hatte, nicht eindeutig identifizierbar bezeichnet worden sei. Nachdem die Akten der Vorsitzenden am 05.08.2022 erneut vorgelegt worden waren, verfügte sie noch am selben Tag abermals die Urteilszustellung an Rechtsanwalt D., die ausweislich des durch den Verteidiger nunmehr abgegebenen Empfangsbekenntnisses sodann am 08.08.2022 erfolgte.

Bereits mit Datum vom 17.06.2022 hatte Rechtsanwalt D. die für den Angeklagten eingelegte Revision mit einem insgesamt 2.877 Seiten umfassenden Schriftsatz begründet, die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt sowie die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 erklärte der Verteidiger, dass davon abgesehen werde, die Revisionsbegründungsschrift vom 17.06.2022 auf die erneute Urteilszustellung hin abermals zu übersenden; sie solle vielmehr „uneingeschränkt fortgelten“.

Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt D. ebenfalls vom 16.08.2022 wendete sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 11.02.2022 und beantragte, den Haftbefehl wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aufzuheben. Das hat die Kammer abgelehnt. Dagegen dann die Beschwerde zum OLG, die keinen Erfolg hatte. Das OLG hat seine Entscheidung umfassend begründet. Das hier im Einzelnen einzustellen, würde den Rahmen sprengen. Ich beschränke mich also auf die Leitsätze, die lauten:

1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.

2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.

3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.

4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.

Rest dann bitte im verlinkten Volltext lesen.

U-Haft II: Gemeinsame Haft Jugendlicher/Erwachsener, oder Nur mit Genehmigung des Gerichts

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In der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, dem LG Oldenburg, Beschl. v. 29.11.2022 – 6 Qs 60/22, geht es erneut um das Trennungsgebot betreffend jugendliche U-Haft-Gefangene. Ergangen ist der Beschluss ebenfalls in dem Verfahren, in dem auch der vorhin vorgestellte  LG Oldenburg, Beschl. v. 29.11.2022 – 6 Qs 62/22 – ergangen ist (vgl. dazu: U-Haft I: Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen, oder: Keine faktische Einzelhaft zur Organisation).

In dieser – zweiten –  Entscheidung geht es um die Frage der Rechtswidrigkeit der Unterbringung von jugendlichen U-Haft-Gefangenen zusammen mit Erwachsenen. Dazu meint das LG:

„Die gemäß § 167 NJVolIzG i.V.m. mit § 304 StPO zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Cloppenburg vom 12.10.2022 (BI. 102 Bd. II d.A.) ist begründet. Das für die Zulässigkeit eines Feststellungsantrags erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse liegt vor. Der Beschwerdeführer befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft, sodass im Falle einer erneuten Vorführung über die JVA Vechta eine mögliche Wiederholung des Verstoßes gegen den Trennungsgrundsatz droht.

Die gemeinsame Unterbringung mit erwachsenen Insassen ohne gerichtliche Zustimmung war rechtswidrig.

Die Ausgestaltung des Untersuchungshaftvollzugs für junge Gefangene ist in Niedersachsen im NJVoIIzG insbesondere in den §§ 157 ff. geregelt.

Gemäß § 170 Abs. 2 NJVollzG sind für die einzelnen Vollzugsarten (Freiheitsstrafe, Jugend-strafe, Untersuchungshaft an jungen Gefangenen und Untersuchungshaft an sonstigen Untersuchungsgefangenen), für den Vollzug an Frauen und Männern sowie für den Vollzug der Freiheitsstrafe an jungen Verurteilten jeweils gesonderte Anstalten oder Abteilungen einzurichten. Gemäß § 171 Abs. 2 S.1 NJVollzG sind die einzelnen Vollzugsarten jeweils in den dafür bestimmten gesonderten Anstalten oder Abteilungen zu vollziehen.

Der Vollzug einer Vollzugsart kann jedoch gemäß § 171 Abs. 2 S. 3 NJVollzG unter bestimmten Voraussetzungen in einer für eine andere Vollzugsart bestimmten Anstalt oder Abteilung erfolgen. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn es dringende Gründe der Vollzugsorganisation erfordern oder eine Zustimmung des Gefangenen vorliegt. Jedenfalls ist jedoch im Falle einer Abweichung vom Trennungsgrundsatz im Falle der Untersuchungshaft auch die Zustimmung des zuständigen Gerichts nach § 171 Abs. 2 S. 4 NJVollzG einzuholen.

Eine solche vorher erforderliche Zustimmung wurde erst mit Schreiben vom 03.11.2022 erteilt, sodass bereits aus formellen Gründen, die vorherige Aufhebung des Trennungsgrundsatzes rechtswidrig war.

Darüber hinaus sind auch der vorliegenden Stellungnahme der JVA Vechta keine dringenden Gründe der Vollzugsorganisation zu entnehmen, welche eine Abweichung vom Grundsatz des Trennungsgrundsatzes rechtfertigten.

Da es bereits gemäß den obigen Ausführungen an der im Vorhinein erklärten gerichtlichen Zustimmung zur Abweichung vom Trennungsgrundsatz mangelt, konnte davon abgesehen werden, eine weitere Stellungnahme der JA Hameln zur fehlenden Trennung auf dem Sammeltransport einzuholen, da auch für diesen eine vorherige Zustimmung des zuständigen Gerichts erforderlich gewesen wäre.“

U-Haft I: Trennung von Jugendlichen und Erwachsenen, oder: Keine faktische Einzelhaft zur Organisation

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Ich starte in die 2. KW. dann mit zwei Haftentscheidungen, und zwar zur Problematik der U-Haft von Jugendlichen. Ich beginne mit dem LG Oldenburg, Beschl. v. 29.11.2022 – 6 Qs 62/22 – zur Frage der Zulässigkeit von „Einzelhaft“ eines Jugendlichen.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung. In dem ist gegen den 16.jährigen Angeklagten Haftbefehl erlassen worden. Der ist im Rahmen der Vollstreckung des Haftbefehls zur Wahrung des Trennungsgebotes von anderen erwachsenen Untersuchungshäftlingen abgesondert worden. Er hat sich dann über seinen Verteidiger gegen diese „Maßnahme“ gewendet und die Feststellung begehrt, dass sein Einschluss von 23 Stunden täglich rechtswidrig sei. Mit Erfolg:

„Die gemäß § 167 NJVollzG i.V.m. mit § 304 StPO zulässige Beschwerde ist begründet.

Die Kammer hat das Begehren des Beschwerdeführers auf Feststellung der Rechtswidrigkeit seines Einschlusses über 23 Stunden täglich dahingehend ausgelegt, dass er auch die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner faktischen Einzelhaft durch Aussonderung aufgrund des Trennungsgrundsatzes begehrt.

Das für die Zulässigkeit eines Feststellungsantrags erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse liegt vor. Der Beschwerdeführer befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft und sein Strafverfahren wird vor dem Amtsgericht Cloppenburg fortgesetzt, sodass im Falle einer erneuten Vorführung über die JVA Vechta eine mögliche Wiederholung der Absonderung zur Wahrung des Trennungsgrundsatzes droht.

Diese von der Justizvollzuganstalt Vechta vorgenommene Absonderung des Beschwerdeführers zur Einhaltung des Trennungsgrundsatzes, die faktisch der Anordnung der Einzelhaft gegenüber einem Jugendlichen gleichkam, war rechtswidrig.

Eine gerichtliche Anordnung über eine Einzelhaft des Beschwerdeführers nach § 119 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 StPO im Rahmen einer haftgrundbezogenen Beschränkung lag nicht vor, sodass sich vorliegend die Zulässigkeit der Maßnahme nach dem NJVollzG richtet.

Auch die Vorschriften des NJVollzG rechtfertigen die vorgenommene Maßnahme nicht. Die Ausgestaltung der Untersuchungshaft von jungen Gefangenen richtet sich dort nach den § 157 ff. NJVollzG. Gemäß § 158 Abs.1 NJVollzG soll der Vollzug von jungen Untersuchungshaft-Häftlingen erzieherisch gestaltet werden. Der junge Gefangene soll in der Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie in der Bereitschaft zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Lebensführung in Achtung der Rechte anderer gefördert werden. Nach § 159 NJVollzG gilt für die Unterbringung des jungen Gefangenen § 120 NJVollzG entsprechend mit der Maßgabe, dass eine Unterbringung in einer Wohngruppe, eine gemeinschaftliche Unterbringung während der Arbeitszeit und Freizeit sowie eine gemeinsame Unterbringung während der Ruhezeit ausgeschlossen oder eingeschränkt werden können, wenn es der Zweck der Untersuchungshaft erfordert.

Eine faktische Einzelhaft aus organisatorischen Gründen ist jedoch von Seiten des Gesetzgebers weder normiert worden, noch war diese nach Auffassung der Kammer aus sonstigen Gründen im vorliegenden Fall zulässig.

Nach § 82 i.V.m. § 166 NJvollzG ist Einzelhaft, worunter die unausgesetzte Absonderung eines Gefangenen zu verstehen ist, nur zulässig, wenn dies aus Gründen, die in der Person des Gefangenen liegen, unerlässlich ist. Solche Gründe sind hier jedoch ersichtlich.

Vielmehr fand die Absonderung des Beschwerdeführers über einen längeren Zeitraum zur Gewährung des Trennungsgrundsatzes statt, dessen organisatorische Umsetzung dieser nicht zu vertreten hat. Hierbei ist zu beachten, dass die Einhaltung des Trennungsgrundsatzes gerade dem Schutz von insbesondere jugendlichen Untersuchungshäftlingen dient, die besonders haftempfindlich sind.

Soweit die JVA Vechta in ihrem Schreiben vom 04.11.2022 gegenüber dem Verteidiger des Beschwerdeführers ausführte, dass die Vollzugsbeamten sich speziell um solche Durchgangsgefangenen kümmerten, gerade damit diese nicht „vereinsamen“, ist diese allgemein gehaltene Ausführung nicht geeignet, darzulegen, in welchem Umfang durch welche Personen eine Betreuung des Beschwerdeführers stattfand.

Es kann zudem dahinstehen, ob dies nicht näher konkretisierte „Kümmern“ grundsätzlich ausreichend ist, um die Isolation des Beschwerdeführers durch Absonderung zu durchbrechen, da eine Einzelhaft aus organisatorischen Gründen jedenfalls unzulässig war.

Zudem erfordert aus Sicht der Kammer auch der gesetzlich normierte Erziehungsgedanke der Ausgestaltung der Untersuchungshaft, dass eine gemeinsame Unterbringung von jugendlichen Untersuchungshäftlingen stattfindet. Nur diese ermöglicht neben der täglichen Frei-stunde/Hofgang, dem Gemeinschaftsfernsehen und sonstigen Gemeinschaftsveranstaltungen die gemeinsame Unterhaltung oder Beschäftigung und wirkt den mit der Untersuchungshaft verbundenen psychischen Belastungen junger Inhaftierter entgegen.

Hierbei ist unerheblich, dass der Beschwerdeführer vorliegend die Wahl hatte, sich einer rechtswidrigen faktischen Einzelhaft durch eine Zustimmung zur Ausnahme vom Trennungsgrundsatz zu entziehen. Der Trennungsgrundsatz soll gerade dem Wohl des Jugendlichen dienen und dieser soll nicht durch die Vollstreckung von faktischer Einzelhaft durch Isolierung und Absonderung von anderen Häftlingen dazu gehalten werden, auf dieses günstige und schützende Recht zu verzichten.“

BVerfG II: Überwachung von Familientelefonaten, oder: Zur Begründung bitte mehr als Worthülsen

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 15.11.2022 – 2 BvR 1139/22 -, der sich zur Überwachung von Telefongesprächen (mit Familienangehörigen) während der U-Haft verhält.

Das AG hatte im Juni 2019 gegen den Angeklagten einen Haftbefehl wegen des Verdachts einer schweren Sexualstraftat erlassen und diesen auf Fluchtgefahr gestützt. Das AG hatte angeordnet, dass Telefonate mitgehört werden müssten. Da der Angeklagte wegen einer anderen Sache rechtskräftig gem. § 63 StGB in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden war, wurde der Haftbefehl in Überhaft vollstreckt. Um den Jahreswechsel 2019/2020 gestattete die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten, Telefonate mit seinen Eltern zu führen. Verfahrensrelevantes durfte nicht besprochen werden. Bei Gesprächen mit seiner aus Frankreich stammenden Mutter musste ein Dolmetscher mithören.

Im Sommer 2021 verurteilte dann das LG München I den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und ordnete Sicherungsverwahrung an. Die Verurteilung beruhte auf dem Geständnis des Angeklagten. Auf die Revision hat der BGH die LG-Entscheidung hinsichtlich der Rechtsfolge aufgehoben.

Der Angeklagte hat im Hinblick auf den somit rechtskräftigen Schuldspruch des LG die Aufhebung der Telefonüberwachung beantragt. Das LG München I und das OLG München haben das abgelehnt. Begründung: Da der Angeklagte eine Unterbringung nach § 63 StGB anstrebe, bestehe auch jetzt noch die Gefahr, dass er seine Eltern manipulieren könne, dieses Ziel durch Aussagen zu seiner psychischen Verfassung zur Tatzeit zu unterstützen. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg:

„2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Maßstäbe zur Beurteilung haftgrundbezogener Beschränkungen in der Untersuchungshaft sind in zahleichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt worden (vgl. zur Besuchsüberwachung BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris; zur Verweigerung von Telefonaten mit dem Verteidiger vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2012 – 2 BvR 988/10 -; zur Beschränkung des Besuchsverkehrs BVerfGE 34, 384 <395 ff.>; zur Postkontrolle BVerfGK 19, 140 <146 f.> m.w.N.). So hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die akustische Besuchsüberwachung einen erheblichen Eingriff in den persönlichen, durch Art. 2 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Lebensbereich sowohl des Gefangenen als auch des Besuchers darstellt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8). Nichts Anderes gilt für die akustische Überwachung der Telekommunikation, die gleichfalls die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes zwischen dem Untersuchungsgefangenen und seinen Gesprächspartnern berührt (vgl. Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn. 27; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 119 Rn. 38).

Die in der Literatur und Rechtsprechung geäußerte Auffassung, an die Verhältnismäßigkeit der Überwachung der Telekommunikation seien weniger strenge Anforderungen zu stellen als an die akustische Überwachung von Besuchen (vgl. dazu Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn. 27; Krauß, in: BeckOK StPO, § 119 Rn. 30 [Oktober 2022]; und OLG Hamm, Beschluss vom 9. Februar 2010 – 3 Ws 45/10 -, juris, Rn. 23), weil im ersteren Fall nicht einmal kontrolliert werden könne, mit wem diese Telefonate geführt würden, verfängt jedenfalls vorliegend nicht, da dem Beschwerdeführer – soweit ersichtlich – ohnehin lediglich die Erlaubnis zu Telefonaten mit seinen Eltern erteilt worden ist.

b) In Grundrechte darf nur auf gesetzlicher Grundlage eingegriffen werden. Dieser allgemeine rechtsstaatliche Grundsatz gilt auch für den Vollzug der Untersuchungshaft. Die Vorschrift des § 119 1 StPO bietet grundsätzlich eine zureichende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen und – gemäß § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO – auch des Strafgefangenen, für den die nach § 116b Satz 2 StPO nachrangig zu vollstreckende Untersuchungshaft angeordnet ist (vgl. BVerfGE 34, 369 <379>; 34, 384 <395>; 35, 307 <309>; 35, 311 <316>; 57, 170 <177>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -, Rn. 18). Die Auslegung der Vorschriften zur Untersuchungshaft hat allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfGE 15, 288 <295>; 34, 369 <379>; 42, 95 <100>; BVerfGK 13, 163 <165>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit prägt daher den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße (vgl. BVerfGE 34, 369 <380>; 35, 5 <9>; 35, 307 <309>).

Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten Haftzwecke (vgl. BVerfGE 15, 288 <295>; 34, 369 <380>), der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Das Gericht muss deshalb stets prüfen, ob für das Vorliegen einer solchen Gefahr im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; 42, 234 <236>; 57, 170 <177>). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung des § 119 Abs. 1 StPO nicht aus, um Beschränkungen anzuordnen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 -, juris, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008 – 2 BvR 1229/07 -, Rn. 17).

Stellt die einschränkende Maßnahme auch einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG dar, bedarf es einer besonders ernstlichen und eingehenden, auch die Dauer der Untersuchungshaft einbeziehenden und am Kriterium der Zumutbarkeit orientierten Prüfung, ob eine Besuchsbeschränkung unverzichtbar vom Zweck der Untersuchungshaft oder der Ordnung im Vollzug gefordert wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 15). Nichts anderes kann für eine Beschränkung der Telekommunikation mit engen Familienangehörigen gelten, wenn diese für den Betroffenen – wie hier – eine der wenigen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontakts mit seiner Familie darstellt. Bei der Anordnung von Beschränkungen in der Untersuchungshaft ist stets zu beachten, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen und der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen wertentscheidenden Norm im Haftvollzug besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 42, 95 <101 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 -, juris, Rn. 16).

c) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Begründungstiefe des landgerichtlichen Beschlusses, der vom Oberlandesgericht nicht beanstandet wurde, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen angesichts der insbesondere auf Grund der Anordnungsdauer der Beschränkungsmaßnahme schwerwiegend betroffenen Grundrechte des Beschwerdeführers nicht. Dies gilt unabhängig davon, ob die in Streit stehenden Beschränkungen der Untersuchungshaft auch in verfassungsgemäßer Weise hätten angeordnet werden können.

aa) Das Landgericht, das die vom Amtsgericht angeordnete Beschränkung mit einer den veränderten Umständen entsprechenden, modifizierten Begründung aufrechterhalten hat, führt nur unzureichend zur Gefährdung der Haftzwecke im Falle einer Aufhebung der Beschränkungsmaßnahme aus. Eine Gefährdung des Haftzwecks der Fluchtgefahr wird lediglich behauptet, die Annahme einer Verdunkelungsgefahr nicht hinreichend begründet. Konkrete Anhaltspunkte für letztere erblickt das Landgericht in einer möglichen Einwirkung des Beschwerdeführers auf seine Eltern, deren „Angaben zur psychischen Verfassung des Angeklagten vor und während der Tatzeit Bedeutung für das weitere Verfahren erlangen könnten“, und dem Umstand, dass er bereits angeordnete Überwachungsmaßnahmen erfolgreich umgangen habe. Angesichts des Umstands, dass die einmalige Umgehung der Überwachungsmaßnahme im Ermittlungsverfahren, als dem Beschwerdeführer der telefonische Kontakt zu seinen Eltern vollständig untersagt war, und vor Rechtskraft des Schuldspruchs erfolgte, hätte die Einschätzung, daraus unverändert eine grundsätzliche Bereitschaft des Beschwerdeführers zur gezielten Manipulation seiner Eltern abzuleiten, jedenfalls näherer Erläuterung bedurft. Zudem hat das Landgericht nicht plausibel dargelegt, inwiefern eine vom Beschwerdeführer beeinflusste Aussage der Eltern im jetzigen Verfahrensstadium eine substantielle Veränderung des Rechtsfolgenausspruchs hin zur Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB bewirken könnte. Der Schuldspruch ist nach einem Geständnis des Beschwerdeführers bereits rechtskräftig, und die Möglichkeit seiner Unterbringung nach § 63 StGB war bereits zu Verfahrensbeginn nicht zuletzt deswegen Gegenstand gutachterlicher Beurteilung, weil er derzeit nach § 63 StGB untergebracht ist. Ferner lässt die Befassung des Landgerichts mit den betroffenen Grundrechtspositionen des Beschwerdeführers keine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der in Art. 6 1 GG enthaltenen Wertentscheidung genügende Abwägung erkennen. Die betroffenen Grundrechte werden lediglich abstrakt benannt, ohne dass die familiäre Situation des Beschwerdeführers, die Haftbedingungen und insbesondere die Dauer der seit Dezember 2019 währenden Überwachung der Telefonate erkennbar näher gewürdigt worden wären. Die Feststellung, die angeordneten Beschränkungen erschienen „weiterhin als erforderlich und verhältnismäßig“, lässt nicht erkennen, ob das Landgericht sich der Dauer der angeordneten Beschränkungsmaßnahme bewusst war, und bezieht das insoweit zunehmende Gewicht des Eingriffs nur unzureichend ein.

bb) Durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist dieser Begründungsmangel nicht behoben worden. Die knappe Feststellung, „das durch Art. 2 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, bleibt hinsichtlich der abzuwägenden Grundrechtspositionen ebenfalls abstrakt und lässt eine substantielle Auseinandersetzung mit der Angemessenheit beziehungsweise Zumutbarkeit der Überwachung der Telefonate, insbesondere mit Blick auf die fortgeschrittene Dauer der Maßnahme, vermissen.“

Die Entscheidung zeigt mal wieder, was nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesem Verfahren schon zu ahnen war: Der Weg nach Karlsruhe kann sich lohnen, vor allem, wenn wie hier, es die vom BVerfG in Haftsachen immer wieder eingeforderte „Begründungstiefe“ der Entscheidungen der Fachgerichte fehlt. Damit hatte es schon beim LG gehapert und erst recht dann wohl beim OLG, das sich in seiner Begründung auf nur einen Satz beschränkt hatte. Selbst wenn der Angeklagte die „Früchte“ dieser BVerfG-Entscheidung möglicherweise nicht mehr lange wird genießen können, weil der BGH im zweiten Rechtsgang entschieden haben wird, sind solche Entscheidungen nicht nutzlos, sondern haben einen erzieherischen Effekt im Hinblick darauf, dass die Fachgerichte sich dann vielleicht doch mehr Mühe geben.

Aber: Mehr als hoffen kann man nicht. Denn, wenn man die Begründungen des LG und des OLG liest, dann ist man schon erstaunt, was man dort offenbar unter „Begründungstiefe“ versteht. Und das der OLG-Satz: „das durch Art. 2 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, nichts mit Begründungstiefe und Einzelfallabwägung zu tun hat, liegt m.E. klar auf der Hand. Der Satz enthält nichts anderes als Worthülsen und fordert eine solche Entscheidung des BVerfG geradezu heraus. Die Quittung hat man dann bekommen. Hoffen wir, dass es hilft…….

U-Haft III: Geringe Terminsdichte verzögert 7 Monate, oder: Warum meldet sich der Verteidiger nicht mal?

In der dritten Entscheidung des Tages, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.10.2022 – 1 Ws 184/22 – geht es u.a. auch um die Terminsdichte.

Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 13.03.2020 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhob unter dem 27.07.2020 Anklage zur Jugendkammer des LG. Die Anklageschrift, beim LG am 10.08.2020 eingegangen, wurde dem Angeklagten, seiner ihn gesetzlich vertretenden Mutter und dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt pp. aufgrund Verfügung des Vorsitzenden vom gleichen Tag zugestellt. Am 11.08.2020 wurden mit der Kanzlei des Verteidigers telefonisch Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung abgestimmt. Mit Beschluss vom 21.08.2020 ordnete der Vorsitzende der Jugendkammer Rechtsanwalt pp. als weiteren Pflichtverteidiger bei. Mit Beschluss vom 07.09.2020 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Zugleich wurde der Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses neu gefasst und Haftfortdauer angeordnet. Mit Verfügung vom 08.09.2020 bestimmte der Vorsitzende der Jugendkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den 21.09.2020 sowie abgestimmte 13 Fortsetzungstermine bis 28.01.2021.

Die Hauptverhandlung fand schließlich zwischen dem 21.09.2020 und dem 02.08.2022 an insgesamt 57 Verhandlungstagen statt. Mit Urteil vom 02.08.2022 wurde der Angeklagte wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Frankenthal legten Revision gegen das Urteil ein.

Der Angeklagte wendet sich mit seiner am 04.08.2022 erhobenen Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung unter Verweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Die Jugendkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Beschwerde hatte dann aber beim OLG Erfolg.

Das OLG nimmt zum Beschleunigungsgrundsazu auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung Stellung und legt da, dass er hier irreparabel verletzt ist, was zur Aufhebung des Haftbefehls führe:

„2. Das Verfahren ist gemessen an diesen Grundsätzen nicht mit der für Haftsachen erforderlichen Beschleunigung betrieben worden.

Bis zum Beginn der Hauptverhandlung ist zwar keine Verzögerung eingetreten. Auch hat die Hauptverhandlung bereits sechs Wochen nach Eingang der Anklageschrift begonnen. Die Planung und Durchführung der Hauptverhandlung ist aber dem Gebot einer vorausschauenden, auch größere Zeiträume umfassenden Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 52, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 –, Rn. 52, juris), nicht gerecht geworden.

Bereits terminiert wurde mit einer Frequenz von durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstag pro Woche. In der mehr als 22 Monate dauernden Hauptverhandlung wurde dann gerade einmal an 57 Tagen tatsächlich verhandelt, darunter waren zehn Kurztermine von unter einer halben Stunde. Selbst bei Berücksichtigung dieser Kurztermine (vgl. hierzu BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, Rn. 52; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, Rn. 102) ergibt dies eine durchschnittliche wöchentliche Sitzungsdichte von 0,59 Tagen, die damit deutlich unter den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts liegt. Auch bei der Terminierung ab Februar 2021, mithin mehr als vier Monate nach Beginn der Hauptverhandlung, ist weiterhin mit durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstermin pro Woche geplant worden. Insbesondere mit fortschreitender Dauer der Untersuchungshaft wäre jedoch eine Verdichtung der Termine – gegebenenfalls auch nur unter Teilnahme des Sicherungsverteidigers – zwingend erforderlich gewesen. Hier hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass sich der Angeklagte im März 2021 bereits ein Jahr in Untersuchungshaft befand und dies nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung finden kann. Bis zum Ende der annähernd zwei Jahre dauernden Hauptverhandlung fand keine erkennbare Verdichtung der Termine statt.

Erkrankungen von Verfahrensbeteiligten können als schicksalhafte Ereignisse die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz objektiv feststehender Verzögerung rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.12.1973 – 2 BvR 558/73, juris Rn. 27; Beschluss vom 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17, juris Rn. 18; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, juris Rn. 30; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, juris Rn. 70). Der Senat hat deshalb berücksichtigt, dass es zu Terminsaufhebungen wegen Krankheit, auch COVID-19-Erkrankungen sowie in diesem Zusammenhang erforderlichen Quarantänezeiten auf Seiten des Gerichts sowie weiterer Verfahrensbeteiligter gekommen ist.

Die für die 28.01.2021, 19.07.2021, 05.01.2022, 10.01.2022, 14.01.2022, 26.01.2022, 17.03.2022, 21.03.2022, 12.05.2022 und 19.07.2022 bestimmten Termine konnten aufgrund Erkrankung auf Seiten des Gerichts, des Sachverständigen, des Angeklagten oder der Verteidigung nicht stattfinden. Der Termin vom 06.12.2021 wurde wegen Verdachts einer COVID-19 Erkrankung aufgehoben. Zudem waren Termine am 08.10.2020, 21.01.2021, 24.01.2022 und 11.02.2022 aufgrund Erkrankung eines Sachverständigen nur als Kurztermine wahrnehmbar, da die eigentlich vorgesehene Beweisaufnahme nicht stattfinden konnte.

Es kann auch offen bleiben, ob sich die Zeiträume, in denen wegen Urlaubs der Kammermitglieder keine Termine stattfanden, in angemessenem Rahmen gehalten haben. Denn selbst bei Berücksichtigung aller Zeiten, in denen sowohl durch Urlaub von Kammermitgliedern als auch der Verteidigung eine Terminierung nicht möglich war, sowie der Termine, die infolge Krankheit auf Seiten des Gerichts und der weiteren notwendigen Verfahrensbeteiligten aufgehoben werden mussten, ergibt sich lediglich eine durchschnittliche wöchentliche Verhandlungsdichte von 0,86 Tagen.

Die Terminsdichte ist auch unabhängig von der Frage des Umfangs der durchzuführenden Beweisaufnahme sowie deren Komplexität, der Anzahl von – hier nicht relevanten – gestellten Verfahrens- und Befangenheitsanträge und der hierdurch bewirkten Verfahrensverzögerung zu beurteilen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 55 m.w.N., juris). Solche Gesichtspunkte können lediglich die Dauer der Hauptverhandlung, nicht aber die geringe Terminsdichte erklären. Besonderheiten, die zu der geringen Terminsdichte geführt haben, etwa die Durchführung weiterer Ermittlungen, die Suche nach erst während der Hauptverhandlung bekannt gewordenen Zeugen oder die Ladung von Auslandszeugen, sind nicht erkennbar und von dem Vorsitzenden in seiner dienstlichen Erklärung auch nicht angeführt worden.

Soweit die geringe Terminsdichte auf von der Verteidigung geltend gemachte Terminkollisionen zurückzuführen ist, führt dies nicht grundsätzlich dazu, dass der Justiz die Verfahrensverzögerung nicht anzulasten ist. Dies gilt auch dann, wenn derartige Terminkollisionen durch eine vorausschauende, weit in die Zukunft reichende Terminplanung wegen der Terminsbelastung des Verteidigers und des Sicherungsverteidigers nicht vermieden werden können. Die Strafkammer darf nicht ausnahmslos auf Terminkollisionen der Verteidiger Rücksicht nehmen. Vielmehr stellt sich dann die Frage, ob nicht bereits vor Beginn der Hauptverhandlung andere Pflichtverteidiger hätten bestellt werden müssen oder inwieweit die Verteidiger in der laufenden Hauptverhandlung mit Blick auf das Beschleunigungsgebot hätten verpflichtet werden können, andere – weniger dringliche – Termine zu verschieben, um eine Beschleunigung einer bereits lang dauernden Hauptverhandlung zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.07.2006 – 2 BvR 1190/06 –, juris).

Das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann entsprechend den einfachgesetzlichen Vorschriften der § 142 Abs. 5 Satz 3, § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO durch wichtige Gründe begrenzt sein (vgl. BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243 m.w.N.; siehe auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.09.2001 – 2 BvR 1152/01 –, NStZ 2002, S. 99 f.). Ein solcher Grund kann in bestimmten Konstellationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein. Es ist deshalb von vornherein verfehlt, bei der Terminierung jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen. Vielmehr muss zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass der Vollzug von Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Die Terminslage des Verteidigers kann angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15.02.2007 – 2 BvR 2563/06 –, BVerfGK 10, 294-308, Rn. 37 f.).

Soweit sich aus der Akte ergibt, dass der Pflichtverteidiger bereits bei der ersten Absprache der Termine dargestellt hatte, dass er nicht an einer an den dargelegten Voraussetzungen zu messenden Terminsfrequenz zur Verfügung stehen könne, hätte folglich der Austausch des Pflichtverteidigers nahe gelegen.

Ob eine Terminsverdichtung auch mit Blick auf weitere Haftsachen der Kammer nicht erfolgt ist, kann offen bleiben. Die außerordentliche Belastung der Jugendkammer des Landgerichts kann eine Verfahrensverzögerung nicht rechtfertigen. Eine Überlastung der Kammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen.

3. Damit ist die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig.

Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung befand sich der Angeklagte seit über 28 Monaten in Untersuchungshaft. Bereits die ursprüngliche Terminsbestimmung blieb mit 14 Verhandlungstagen in 19 Wochen hinter den Anforderungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zurück. Auch die weitere Planung der Hauptverhandlung wurde diesen Vorgaben mit 68 Verhandlungstagen in (mehr als) 97 Wochen nicht gerecht, zumal verschiedene Termine lediglich als Ersatztermine für ausgefallene Verhandlungstage bestimmt wurden. Tatsächlich wurde in dem genannten Zeitraum dann lediglich an 57 Tagen verhandelt. An 20 dieser Verhandlungstage wurde weniger als zwei Stunden verhandelt. Im Durchschnitt ist in dem Verhandlungszeitraum nur etwas mehr als 1 1/2 Stunden pro Woche verhandelt worden. Da es sich bei dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten zunächst noch um einen Jugendlichen, später Heranwachsenden handelte, war dem Beschleunigungsgebot auch gem. § 72 Abs. 5 JGG besonders Rechnung zu tragen (Pfälzisches OLG Zweibrücken, Beschluss vom 09.04.2002 – 1 HPL 12/02 –, juris).

Der Angeklagte ist wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Zu Recht führt die Generalstaatsanwaltschaft dazu aus, der Angeklagte sei wegen schwerster Straftaten schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt worden, die gegen einen Jugendlichen nach dem Jugendgerichtsgesetz verhängt werden kann.Das Verfahren war schon aufgrund der Tatvorwürfe auch durchaus komplex. Die Hauptverhandlungstermine bedurften nicht nur der Abstimmung mit den Verteidigern, sondern auch mit weiteren Rechtsanwälten, mehreren Sachverständigen und vier Schöffen; allerdings ist insoweit zu beachten, dass von den Sachverständigen allenfalls der psychiatrische Sachverständige während der gesamten Beweisaufnahme anwesend sein musste und eine Verhinderung der anwaltlichen Vertreter der Nebenkläger gem. § 398 StPO der Terminierung nicht entgegenstand. Schließlich gestaltete sich die Vernehmung der Nebenklägerinnen schon im Hinblick auf die Tatvorwürfe sicherlich ausgesprochen schwierig, bedurfte deshalb einer entsprechenden organisatorischen Vorbereitung und konnte auch nicht unter Zeitdruck durchgeführt werden.

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs durch die Verurteilung des Angeklagten ganz erheblich vergrößert hat.

Die durch die geringe Terminsdichte eingetretene Verzögerung beträgt mehr als sieben Monate (32 Wochen). Der Senat ist bei dieser Schätzung davon ausgegangen, dass die tatsächlich für die Hauptverhandlung benötigten 57 Verhandlungstage regelmäßig in weniger als 57 Wochen stattfinden müssen. Die 20 Sitzungstage mit einer Dauer von unter zwei Stunden hat der Senat lediglich als halbe Verhandlungstage berücksichtigt mit der Folge, dass sich die an sich notwendige Verhandlungsdauer auf 47 Wochen reduziert. Danach hat der Senat die von dem Vorsitzenden genannten Urlaubszeiten der Richter und Verfahrensbeteiligten (in den Kalenderwochen 42, 43, 44, 52 sowie 53 im Jahr 2020 und in den Kalenderwochen 13, 14, 21, 22, 31, 32, 33, 34, 41 und 42 im Jahr 2021) sowie die Krankheitszeiten (in den Kalenderwochen 3, 4 und 29 im Jahr 2021) hinzugerechnet. Mithin hätte die Hauptverhandlung nach 65 Wochen beendet sein müssen, hat sich aber tatsächlich 97 Wochen hingezogen. Allerdings wurde mit dem besonders zügigen Beginn der Hauptverhandlung ein Zeitraum von sechs Wochen kompensiert, was die Verzögerung auf knapp sechs Monate (26 Wochen) zurückführt. Eine weitere Kompensation der Verzögerung im Revisionsverfahren ist nicht mehr zu erwarten. Dies ist zwar – etwa durch eine besonders beschleunigte Absetzung der Urteilsgründe – theoretisch möglich; auf die entsprechende Anfrage hat der Vorsitzende der Strafkammer allerdings am 22.09.2022 mitgeteilt, dass die Urteilsgründe noch nicht abgesetzt sind.

Die schon von ihrer Dauer her erhebliche Verzögerung wiegt im vorliegenden Fall besonders schwer, weil sie nicht durch schicksalhafte Ereignisse eingetreten ist, sondern bereits durch die unzureichende Terminierung angelegt war. Hinzukommt, dass nicht nur an zu wenigen Tagen in dem langen Zeitraum der Hauptverhandlung verhandelt worden ist, sondern auch noch die tatsächlich stattgefundenen Verhandlungstage mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von knapp drei Stunden nur unzureichend genutzt worden sind. Ein Bemühen, die Verhandlungsdichte im Laufe der Hauptverhandlung zu irgendeinem Zeitpunkt zu erhöhen, ist nicht erkennbar. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Senat bei der Schätzung des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung lediglich eine Terminsdichte zugrunde gelegt hat, bei der das Landgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben gerade noch eingehalten gehabt hätte.

Dieser krasse Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist auch vor dem Hintergrund des hohen Gewichts des Strafanspruchs im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der Überlegung, dass nach einer Verurteilung Verfahrensverzögerungen geringeres Gewicht beizumessen ist, nicht hinnehmbar.

Dass die Verteidigung während der annähernd zwei Jahre laufenden Hauptverhandlung zu keinem Zeitpunkt eine Verzögerung des Verfahrens gerügt hat, ist befremdlich, aber unerheblich und macht lediglich deutlich, dass eine Rücksichtnahme auf stark ausgelastete Verteidiger und die Bestellung eines Sicherungsverteidigers, der regelmäßig mit demselben (Haupt-)Verteidiger die Verteidigung übernimmt, mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigungsmaxime nur schwer vereinbar ist….“

Warum sich der Verteidiger beim dem Ablauf nicht mal „gemeldet“ hat, erschließt sich mir (auch) nicht.