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BVerfG II: Überwachung von Familientelefonaten, oder: Zur Begründung bitte mehr als Worthülsen

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um den BVerfG, Beschl. v. 15.11.2022 – 2 BvR 1139/22 -, der sich zur Überwachung von Telefongesprächen (mit Familienangehörigen) während der U-Haft verhält.

Das AG hatte im Juni 2019 gegen den Angeklagten einen Haftbefehl wegen des Verdachts einer schweren Sexualstraftat erlassen und diesen auf Fluchtgefahr gestützt. Das AG hatte angeordnet, dass Telefonate mitgehört werden müssten. Da der Angeklagte wegen einer anderen Sache rechtskräftig gem. § 63 StGB in einer psychiatrischen Klinik untergebracht worden war, wurde der Haftbefehl in Überhaft vollstreckt. Um den Jahreswechsel 2019/2020 gestattete die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten, Telefonate mit seinen Eltern zu führen. Verfahrensrelevantes durfte nicht besprochen werden. Bei Gesprächen mit seiner aus Frankreich stammenden Mutter musste ein Dolmetscher mithören.

Im Sommer 2021 verurteilte dann das LG München I den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und ordnete Sicherungsverwahrung an. Die Verurteilung beruhte auf dem Geständnis des Angeklagten. Auf die Revision hat der BGH die LG-Entscheidung hinsichtlich der Rechtsfolge aufgehoben.

Der Angeklagte hat im Hinblick auf den somit rechtskräftigen Schuldspruch des LG die Aufhebung der Telefonüberwachung beantragt. Das LG München I und das OLG München haben das abgelehnt. Begründung: Da der Angeklagte eine Unterbringung nach § 63 StGB anstrebe, bestehe auch jetzt noch die Gefahr, dass er seine Eltern manipulieren könne, dieses Ziel durch Aussagen zu seiner psychischen Verfassung zur Tatzeit zu unterstützen. Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg:

„2. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (vgl. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

a) Die Maßstäbe zur Beurteilung haftgrundbezogener Beschränkungen in der Untersuchungshaft sind in zahleichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt worden (vgl. zur Besuchsüberwachung BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris; zur Verweigerung von Telefonaten mit dem Verteidiger vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 7. März 2012 – 2 BvR 988/10 -; zur Beschränkung des Besuchsverkehrs BVerfGE 34, 384 <395 ff.>; zur Postkontrolle BVerfGK 19, 140 <146 f.> m.w.N.). So hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die akustische Besuchsüberwachung einen erheblichen Eingriff in den persönlichen, durch Art. 2 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Lebensbereich sowohl des Gefangenen als auch des Besuchers darstellt (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 12; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8). Nichts Anderes gilt für die akustische Überwachung der Telekommunikation, die gleichfalls die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes zwischen dem Untersuchungsgefangenen und seinen Gesprächspartnern berührt (vgl. Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn. 27; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 119 Rn. 38).

Die in der Literatur und Rechtsprechung geäußerte Auffassung, an die Verhältnismäßigkeit der Überwachung der Telekommunikation seien weniger strenge Anforderungen zu stellen als an die akustische Überwachung von Besuchen (vgl. dazu Schultheis, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 119 Rn. 27; Krauß, in: BeckOK StPO, § 119 Rn. 30 [Oktober 2022]; und OLG Hamm, Beschluss vom 9. Februar 2010 – 3 Ws 45/10 -, juris, Rn. 23), weil im ersteren Fall nicht einmal kontrolliert werden könne, mit wem diese Telefonate geführt würden, verfängt jedenfalls vorliegend nicht, da dem Beschwerdeführer – soweit ersichtlich – ohnehin lediglich die Erlaubnis zu Telefonaten mit seinen Eltern erteilt worden ist.

b) In Grundrechte darf nur auf gesetzlicher Grundlage eingegriffen werden. Dieser allgemeine rechtsstaatliche Grundsatz gilt auch für den Vollzug der Untersuchungshaft. Die Vorschrift des § 119 1 StPO bietet grundsätzlich eine zureichende gesetzliche Grundlage für Einschränkungen grundrechtlicher Freiheiten des Untersuchungsgefangenen und – gemäß § 119 Abs. 6 Satz 1 StPO – auch des Strafgefangenen, für den die nach § 116b Satz 2 StPO nachrangig zu vollstreckende Untersuchungshaft angeordnet ist (vgl. BVerfGE 34, 369 <379>; 34, 384 <395>; 35, 307 <309>; 35, 311 <316>; 57, 170 <177>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Oktober 2014 – 2 BvR 1513/14 -, Rn. 18). Die Auslegung der Vorschriften zur Untersuchungshaft hat allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf (vgl. BVerfGE 15, 288 <295>; 34, 369 <379>; 42, 95 <100>; BVerfGK 13, 163 <165>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit prägt daher den Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße (vgl. BVerfGE 34, 369 <380>; 35, 5 <9>; 35, 307 <309>).

Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten Haftzwecke (vgl. BVerfGE 15, 288 <295>; 34, 369 <380>), der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann. Das Gericht muss deshalb stets prüfen, ob für das Vorliegen einer solchen Gefahr im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; 42, 234 <236>; 57, 170 <177>). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht bei einer den Grundrechten Rechnung tragenden Auslegung des § 119 Abs. 1 StPO nicht aus, um Beschränkungen anzuordnen (vgl. BVerfGE 35, 5 <10>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 -, juris, Rn. 23; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Juni 1996 – 2 BvR 634/96 -, juris, Rn. 8; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2008 – 2 BvR 1229/07 -, Rn. 17).

Stellt die einschränkende Maßnahme auch einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG dar, bedarf es einer besonders ernstlichen und eingehenden, auch die Dauer der Untersuchungshaft einbeziehenden und am Kriterium der Zumutbarkeit orientierten Prüfung, ob eine Besuchsbeschränkung unverzichtbar vom Zweck der Untersuchungshaft oder der Ordnung im Vollzug gefordert wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 – 2 BvR 1479/93 -, juris, Rn. 15). Nichts anderes kann für eine Beschränkung der Telekommunikation mit engen Familienangehörigen gelten, wenn diese für den Betroffenen – wie hier – eine der wenigen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontakts mit seiner Familie darstellt. Bei der Anordnung von Beschränkungen in der Untersuchungshaft ist stets zu beachten, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen und der in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenen wertentscheidenden Norm im Haftvollzug besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfGE 42, 95 <101 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Juli 1994 – 2 BvR 806/94 -, juris, Rn. 16).

c) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Die Begründungstiefe des landgerichtlichen Beschlusses, der vom Oberlandesgericht nicht beanstandet wurde, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen angesichts der insbesondere auf Grund der Anordnungsdauer der Beschränkungsmaßnahme schwerwiegend betroffenen Grundrechte des Beschwerdeführers nicht. Dies gilt unabhängig davon, ob die in Streit stehenden Beschränkungen der Untersuchungshaft auch in verfassungsgemäßer Weise hätten angeordnet werden können.

aa) Das Landgericht, das die vom Amtsgericht angeordnete Beschränkung mit einer den veränderten Umständen entsprechenden, modifizierten Begründung aufrechterhalten hat, führt nur unzureichend zur Gefährdung der Haftzwecke im Falle einer Aufhebung der Beschränkungsmaßnahme aus. Eine Gefährdung des Haftzwecks der Fluchtgefahr wird lediglich behauptet, die Annahme einer Verdunkelungsgefahr nicht hinreichend begründet. Konkrete Anhaltspunkte für letztere erblickt das Landgericht in einer möglichen Einwirkung des Beschwerdeführers auf seine Eltern, deren „Angaben zur psychischen Verfassung des Angeklagten vor und während der Tatzeit Bedeutung für das weitere Verfahren erlangen könnten“, und dem Umstand, dass er bereits angeordnete Überwachungsmaßnahmen erfolgreich umgangen habe. Angesichts des Umstands, dass die einmalige Umgehung der Überwachungsmaßnahme im Ermittlungsverfahren, als dem Beschwerdeführer der telefonische Kontakt zu seinen Eltern vollständig untersagt war, und vor Rechtskraft des Schuldspruchs erfolgte, hätte die Einschätzung, daraus unverändert eine grundsätzliche Bereitschaft des Beschwerdeführers zur gezielten Manipulation seiner Eltern abzuleiten, jedenfalls näherer Erläuterung bedurft. Zudem hat das Landgericht nicht plausibel dargelegt, inwiefern eine vom Beschwerdeführer beeinflusste Aussage der Eltern im jetzigen Verfahrensstadium eine substantielle Veränderung des Rechtsfolgenausspruchs hin zur Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB bewirken könnte. Der Schuldspruch ist nach einem Geständnis des Beschwerdeführers bereits rechtskräftig, und die Möglichkeit seiner Unterbringung nach § 63 StGB war bereits zu Verfahrensbeginn nicht zuletzt deswegen Gegenstand gutachterlicher Beurteilung, weil er derzeit nach § 63 StGB untergebracht ist. Ferner lässt die Befassung des Landgerichts mit den betroffenen Grundrechtspositionen des Beschwerdeführers keine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der in Art. 6 1 GG enthaltenen Wertentscheidung genügende Abwägung erkennen. Die betroffenen Grundrechte werden lediglich abstrakt benannt, ohne dass die familiäre Situation des Beschwerdeführers, die Haftbedingungen und insbesondere die Dauer der seit Dezember 2019 währenden Überwachung der Telefonate erkennbar näher gewürdigt worden wären. Die Feststellung, die angeordneten Beschränkungen erschienen „weiterhin als erforderlich und verhältnismäßig“, lässt nicht erkennen, ob das Landgericht sich der Dauer der angeordneten Beschränkungsmaßnahme bewusst war, und bezieht das insoweit zunehmende Gewicht des Eingriffs nur unzureichend ein.

bb) Durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts ist dieser Begründungsmangel nicht behoben worden. Die knappe Feststellung, „das durch Art. 2 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, bleibt hinsichtlich der abzuwägenden Grundrechtspositionen ebenfalls abstrakt und lässt eine substantielle Auseinandersetzung mit der Angemessenheit beziehungsweise Zumutbarkeit der Überwachung der Telefonate, insbesondere mit Blick auf die fortgeschrittene Dauer der Maßnahme, vermissen.“

Die Entscheidung zeigt mal wieder, was nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung in diesem Verfahren schon zu ahnen war: Der Weg nach Karlsruhe kann sich lohnen, vor allem, wenn wie hier, es die vom BVerfG in Haftsachen immer wieder eingeforderte „Begründungstiefe“ der Entscheidungen der Fachgerichte fehlt. Damit hatte es schon beim LG gehapert und erst recht dann wohl beim OLG, das sich in seiner Begründung auf nur einen Satz beschränkt hatte. Selbst wenn der Angeklagte die „Früchte“ dieser BVerfG-Entscheidung möglicherweise nicht mehr lange wird genießen können, weil der BGH im zweiten Rechtsgang entschieden haben wird, sind solche Entscheidungen nicht nutzlos, sondern haben einen erzieherischen Effekt im Hinblick darauf, dass die Fachgerichte sich dann vielleicht doch mehr Mühe geben.

Aber: Mehr als hoffen kann man nicht. Denn, wenn man die Begründungen des LG und des OLG liest, dann ist man schon erstaunt, was man dort offenbar unter „Begründungstiefe“ versteht. Und das der OLG-Satz: „das durch Art. 2 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation [habe] unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen“, nichts mit Begründungstiefe und Einzelfallabwägung zu tun hat, liegt m.E. klar auf der Hand. Der Satz enthält nichts anderes als Worthülsen und fordert eine solche Entscheidung des BVerfG geradezu heraus. Die Quittung hat man dann bekommen. Hoffen wir, dass es hilft…….

U-Haft III: Geringe Terminsdichte verzögert 7 Monate, oder: Warum meldet sich der Verteidiger nicht mal?

In der dritten Entscheidung des Tages, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 06.10.2022 – 1 Ws 184/22 – geht es u.a. auch um die Terminsdichte.

Der Angeklagte befindet sich in dieser Sache seit dem 13.03.2020 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft erhob unter dem 27.07.2020 Anklage zur Jugendkammer des LG. Die Anklageschrift, beim LG am 10.08.2020 eingegangen, wurde dem Angeklagten, seiner ihn gesetzlich vertretenden Mutter und dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt pp. aufgrund Verfügung des Vorsitzenden vom gleichen Tag zugestellt. Am 11.08.2020 wurden mit der Kanzlei des Verteidigers telefonisch Termine zur Durchführung der Hauptverhandlung abgestimmt. Mit Beschluss vom 21.08.2020 ordnete der Vorsitzende der Jugendkammer Rechtsanwalt pp. als weiteren Pflichtverteidiger bei. Mit Beschluss vom 07.09.2020 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Zugleich wurde der Haftbefehl nach Maßgabe der Anklageschrift und des Eröffnungsbeschlusses neu gefasst und Haftfortdauer angeordnet. Mit Verfügung vom 08.09.2020 bestimmte der Vorsitzende der Jugendkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den 21.09.2020 sowie abgestimmte 13 Fortsetzungstermine bis 28.01.2021.

Die Hauptverhandlung fand schließlich zwischen dem 21.09.2020 und dem 02.08.2022 an insgesamt 57 Verhandlungstagen statt. Mit Urteil vom 02.08.2022 wurde der Angeklagte wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt und im Übrigen freigesprochen. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Frankenthal legten Revision gegen das Urteil ein.

Der Angeklagte wendet sich mit seiner am 04.08.2022 erhobenen Beschwerde gegen die Haftfortdauerentscheidung unter Verweis auf eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes. Die Jugendkammer hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Beschwerde hatte dann aber beim OLG Erfolg.

Das OLG nimmt zum Beschleunigungsgrundsazu auf der Grundlage der obergerichtlichen Rechtsprechung Stellung und legt da, dass er hier irreparabel verletzt ist, was zur Aufhebung des Haftbefehls führe:

„2. Das Verfahren ist gemessen an diesen Grundsätzen nicht mit der für Haftsachen erforderlichen Beschleunigung betrieben worden.

Bis zum Beginn der Hauptverhandlung ist zwar keine Verzögerung eingetreten. Auch hat die Hauptverhandlung bereits sechs Wochen nach Eingang der Anklageschrift begonnen. Die Planung und Durchführung der Hauptverhandlung ist aber dem Gebot einer vorausschauenden, auch größere Zeiträume umfassenden Hauptverhandlungsplanung mit mehr als einem Hauptverhandlungstag pro Woche (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 52, juris; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12 –, Rn. 52, juris), nicht gerecht geworden.

Bereits terminiert wurde mit einer Frequenz von durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstag pro Woche. In der mehr als 22 Monate dauernden Hauptverhandlung wurde dann gerade einmal an 57 Tagen tatsächlich verhandelt, darunter waren zehn Kurztermine von unter einer halben Stunde. Selbst bei Berücksichtigung dieser Kurztermine (vgl. hierzu BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, Rn. 52; BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, Rn. 102) ergibt dies eine durchschnittliche wöchentliche Sitzungsdichte von 0,59 Tagen, die damit deutlich unter den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts liegt. Auch bei der Terminierung ab Februar 2021, mithin mehr als vier Monate nach Beginn der Hauptverhandlung, ist weiterhin mit durchschnittlich weniger als einem Verhandlungstermin pro Woche geplant worden. Insbesondere mit fortschreitender Dauer der Untersuchungshaft wäre jedoch eine Verdichtung der Termine – gegebenenfalls auch nur unter Teilnahme des Sicherungsverteidigers – zwingend erforderlich gewesen. Hier hätte das Landgericht berücksichtigen müssen, dass sich der Angeklagte im März 2021 bereits ein Jahr in Untersuchungshaft befand und dies nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung finden kann. Bis zum Ende der annähernd zwei Jahre dauernden Hauptverhandlung fand keine erkennbare Verdichtung der Termine statt.

Erkrankungen von Verfahrensbeteiligten können als schicksalhafte Ereignisse die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz objektiv feststehender Verzögerung rechtfertigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.12.1973 – 2 BvR 558/73, juris Rn. 27; Beschluss vom 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17, juris Rn. 18; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, juris Rn. 30; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, juris Rn. 70). Der Senat hat deshalb berücksichtigt, dass es zu Terminsaufhebungen wegen Krankheit, auch COVID-19-Erkrankungen sowie in diesem Zusammenhang erforderlichen Quarantänezeiten auf Seiten des Gerichts sowie weiterer Verfahrensbeteiligter gekommen ist.

Die für die 28.01.2021, 19.07.2021, 05.01.2022, 10.01.2022, 14.01.2022, 26.01.2022, 17.03.2022, 21.03.2022, 12.05.2022 und 19.07.2022 bestimmten Termine konnten aufgrund Erkrankung auf Seiten des Gerichts, des Sachverständigen, des Angeklagten oder der Verteidigung nicht stattfinden. Der Termin vom 06.12.2021 wurde wegen Verdachts einer COVID-19 Erkrankung aufgehoben. Zudem waren Termine am 08.10.2020, 21.01.2021, 24.01.2022 und 11.02.2022 aufgrund Erkrankung eines Sachverständigen nur als Kurztermine wahrnehmbar, da die eigentlich vorgesehene Beweisaufnahme nicht stattfinden konnte.

Es kann auch offen bleiben, ob sich die Zeiträume, in denen wegen Urlaubs der Kammermitglieder keine Termine stattfanden, in angemessenem Rahmen gehalten haben. Denn selbst bei Berücksichtigung aller Zeiten, in denen sowohl durch Urlaub von Kammermitgliedern als auch der Verteidigung eine Terminierung nicht möglich war, sowie der Termine, die infolge Krankheit auf Seiten des Gerichts und der weiteren notwendigen Verfahrensbeteiligten aufgehoben werden mussten, ergibt sich lediglich eine durchschnittliche wöchentliche Verhandlungsdichte von 0,86 Tagen.

Die Terminsdichte ist auch unabhängig von der Frage des Umfangs der durchzuführenden Beweisaufnahme sowie deren Komplexität, der Anzahl von – hier nicht relevanten – gestellten Verfahrens- und Befangenheitsanträge und der hierdurch bewirkten Verfahrensverzögerung zu beurteilen (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07 –, Rn. 55 m.w.N., juris). Solche Gesichtspunkte können lediglich die Dauer der Hauptverhandlung, nicht aber die geringe Terminsdichte erklären. Besonderheiten, die zu der geringen Terminsdichte geführt haben, etwa die Durchführung weiterer Ermittlungen, die Suche nach erst während der Hauptverhandlung bekannt gewordenen Zeugen oder die Ladung von Auslandszeugen, sind nicht erkennbar und von dem Vorsitzenden in seiner dienstlichen Erklärung auch nicht angeführt worden.

Soweit die geringe Terminsdichte auf von der Verteidigung geltend gemachte Terminkollisionen zurückzuführen ist, führt dies nicht grundsätzlich dazu, dass der Justiz die Verfahrensverzögerung nicht anzulasten ist. Dies gilt auch dann, wenn derartige Terminkollisionen durch eine vorausschauende, weit in die Zukunft reichende Terminplanung wegen der Terminsbelastung des Verteidigers und des Sicherungsverteidigers nicht vermieden werden können. Die Strafkammer darf nicht ausnahmslos auf Terminkollisionen der Verteidiger Rücksicht nehmen. Vielmehr stellt sich dann die Frage, ob nicht bereits vor Beginn der Hauptverhandlung andere Pflichtverteidiger hätten bestellt werden müssen oder inwieweit die Verteidiger in der laufenden Hauptverhandlung mit Blick auf das Beschleunigungsgebot hätten verpflichtet werden können, andere – weniger dringliche – Termine zu verschieben, um eine Beschleunigung einer bereits lang dauernden Hauptverhandlung zu erreichen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17.07.2006 – 2 BvR 1190/06 –, juris).

Das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seiner Wahl und seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann entsprechend den einfachgesetzlichen Vorschriften der § 142 Abs. 5 Satz 3, § 145 Abs. 1 Satz 1 StPO durch wichtige Gründe begrenzt sein (vgl. BVerfGE 9, 36, 38; 39, 238, 243 m.w.N.; siehe auch Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25.09.2001 – 2 BvR 1152/01 –, NStZ 2002, S. 99 f.). Ein solcher Grund kann in bestimmten Konstellationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein. Es ist deshalb von vornherein verfehlt, bei der Terminierung jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen. Vielmehr muss zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass der Vollzug von Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Die Terminslage des Verteidigers kann angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15.02.2007 – 2 BvR 2563/06 –, BVerfGK 10, 294-308, Rn. 37 f.).

Soweit sich aus der Akte ergibt, dass der Pflichtverteidiger bereits bei der ersten Absprache der Termine dargestellt hatte, dass er nicht an einer an den dargelegten Voraussetzungen zu messenden Terminsfrequenz zur Verfügung stehen könne, hätte folglich der Austausch des Pflichtverteidigers nahe gelegen.

Ob eine Terminsverdichtung auch mit Blick auf weitere Haftsachen der Kammer nicht erfolgt ist, kann offen bleiben. Die außerordentliche Belastung der Jugendkammer des Landgerichts kann eine Verfahrensverzögerung nicht rechtfertigen. Eine Überlastung der Kammer ist allein der Sphäre des Gerichts und nicht der des Angeklagten zuzurechnen.

3. Damit ist die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr verhältnismäßig.

Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung befand sich der Angeklagte seit über 28 Monaten in Untersuchungshaft. Bereits die ursprüngliche Terminsbestimmung blieb mit 14 Verhandlungstagen in 19 Wochen hinter den Anforderungen der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zurück. Auch die weitere Planung der Hauptverhandlung wurde diesen Vorgaben mit 68 Verhandlungstagen in (mehr als) 97 Wochen nicht gerecht, zumal verschiedene Termine lediglich als Ersatztermine für ausgefallene Verhandlungstage bestimmt wurden. Tatsächlich wurde in dem genannten Zeitraum dann lediglich an 57 Tagen verhandelt. An 20 dieser Verhandlungstage wurde weniger als zwei Stunden verhandelt. Im Durchschnitt ist in dem Verhandlungszeitraum nur etwas mehr als 1 1/2 Stunden pro Woche verhandelt worden. Da es sich bei dem in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten zunächst noch um einen Jugendlichen, später Heranwachsenden handelte, war dem Beschleunigungsgebot auch gem. § 72 Abs. 5 JGG besonders Rechnung zu tragen (Pfälzisches OLG Zweibrücken, Beschluss vom 09.04.2002 – 1 HPL 12/02 –, juris).

Der Angeklagte ist wegen Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung mit Todesfolge und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von 10 Jahren verurteilt worden. Zu Recht führt die Generalstaatsanwaltschaft dazu aus, der Angeklagte sei wegen schwerster Straftaten schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt worden, die gegen einen Jugendlichen nach dem Jugendgerichtsgesetz verhängt werden kann.Das Verfahren war schon aufgrund der Tatvorwürfe auch durchaus komplex. Die Hauptverhandlungstermine bedurften nicht nur der Abstimmung mit den Verteidigern, sondern auch mit weiteren Rechtsanwälten, mehreren Sachverständigen und vier Schöffen; allerdings ist insoweit zu beachten, dass von den Sachverständigen allenfalls der psychiatrische Sachverständige während der gesamten Beweisaufnahme anwesend sein musste und eine Verhinderung der anwaltlichen Vertreter der Nebenkläger gem. § 398 StPO der Terminierung nicht entgegenstand. Schließlich gestaltete sich die Vernehmung der Nebenklägerinnen schon im Hinblick auf die Tatvorwürfe sicherlich ausgesprochen schwierig, bedurfte deshalb einer entsprechenden organisatorischen Vorbereitung und konnte auch nicht unter Zeitdruck durchgeführt werden.

Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsrecht des Einzelnen und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates ist zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs durch die Verurteilung des Angeklagten ganz erheblich vergrößert hat.

Die durch die geringe Terminsdichte eingetretene Verzögerung beträgt mehr als sieben Monate (32 Wochen). Der Senat ist bei dieser Schätzung davon ausgegangen, dass die tatsächlich für die Hauptverhandlung benötigten 57 Verhandlungstage regelmäßig in weniger als 57 Wochen stattfinden müssen. Die 20 Sitzungstage mit einer Dauer von unter zwei Stunden hat der Senat lediglich als halbe Verhandlungstage berücksichtigt mit der Folge, dass sich die an sich notwendige Verhandlungsdauer auf 47 Wochen reduziert. Danach hat der Senat die von dem Vorsitzenden genannten Urlaubszeiten der Richter und Verfahrensbeteiligten (in den Kalenderwochen 42, 43, 44, 52 sowie 53 im Jahr 2020 und in den Kalenderwochen 13, 14, 21, 22, 31, 32, 33, 34, 41 und 42 im Jahr 2021) sowie die Krankheitszeiten (in den Kalenderwochen 3, 4 und 29 im Jahr 2021) hinzugerechnet. Mithin hätte die Hauptverhandlung nach 65 Wochen beendet sein müssen, hat sich aber tatsächlich 97 Wochen hingezogen. Allerdings wurde mit dem besonders zügigen Beginn der Hauptverhandlung ein Zeitraum von sechs Wochen kompensiert, was die Verzögerung auf knapp sechs Monate (26 Wochen) zurückführt. Eine weitere Kompensation der Verzögerung im Revisionsverfahren ist nicht mehr zu erwarten. Dies ist zwar – etwa durch eine besonders beschleunigte Absetzung der Urteilsgründe – theoretisch möglich; auf die entsprechende Anfrage hat der Vorsitzende der Strafkammer allerdings am 22.09.2022 mitgeteilt, dass die Urteilsgründe noch nicht abgesetzt sind.

Die schon von ihrer Dauer her erhebliche Verzögerung wiegt im vorliegenden Fall besonders schwer, weil sie nicht durch schicksalhafte Ereignisse eingetreten ist, sondern bereits durch die unzureichende Terminierung angelegt war. Hinzukommt, dass nicht nur an zu wenigen Tagen in dem langen Zeitraum der Hauptverhandlung verhandelt worden ist, sondern auch noch die tatsächlich stattgefundenen Verhandlungstage mit einer durchschnittlichen Verhandlungsdauer von knapp drei Stunden nur unzureichend genutzt worden sind. Ein Bemühen, die Verhandlungsdichte im Laufe der Hauptverhandlung zu irgendeinem Zeitpunkt zu erhöhen, ist nicht erkennbar. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der Senat bei der Schätzung des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung lediglich eine Terminsdichte zugrunde gelegt hat, bei der das Landgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben gerade noch eingehalten gehabt hätte.

Dieser krasse Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist auch vor dem Hintergrund des hohen Gewichts des Strafanspruchs im vorliegenden Fall und unter Berücksichtigung der Überlegung, dass nach einer Verurteilung Verfahrensverzögerungen geringeres Gewicht beizumessen ist, nicht hinnehmbar.

Dass die Verteidigung während der annähernd zwei Jahre laufenden Hauptverhandlung zu keinem Zeitpunkt eine Verzögerung des Verfahrens gerügt hat, ist befremdlich, aber unerheblich und macht lediglich deutlich, dass eine Rücksichtnahme auf stark ausgelastete Verteidiger und die Bestellung eines Sicherungsverteidigers, der regelmäßig mit demselben (Haupt-)Verteidiger die Verteidigung übernimmt, mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigungsmaxime nur schwer vereinbar ist….“

Warum sich der Verteidiger beim dem Ablauf nicht mal „gemeldet“ hat, erschließt sich mir (auch) nicht.

U-Haft III: Laptop zur Verteidigung in der U-Haft, oder: Wann ist die „Durchsicht“ erlaubt?

Und dann stelle ich noch den KG, Beschl. v. 23.12.2021 – 5 Ws 261/21 – vor. Schon etwas älter, aber eine interessante Frage. Es geht nämlich um die Zulässigkeit der Durchsicht eines im Haftraum eines Untersuchungshäftlings befindlichen, zu Verteidigungszwecken überlassenen Laptops.

Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeklagten einen mittäterschaftlich begangenen Mord zur Last. Der Angeklagte befindet sich seit dem 17. Januar 2014 in Untersuchungshaft. Die Schwurgerichtskammer hat am 20.11.2014 beschlossen, „dass wegen des erheblichen Akten- und Datenumfangs die Anschaffung eines […] Laptops“ für den jeweils Inhaftierten „zur Einsicht in der Haftanstalt […] erforderlich [sei], um im weiteren Verfahren eine sachgerechte Verteidigung zu gewährleisten“. Die Beschaffung der (fabrikneuen und nicht internetfähigen) Laptops wurde den Verteidigern übertragen, seitens des Landgerichts Berlin wurde die digitalisierten Akten einschließlich der Video- und Audiodateien auf die Laptops aufgespielt und an die Justizvollzugsanstalt M. übergeben, die ihrerseits die Sperrung der USB-Anschlüsse der Laptops vornahm und diese sodann an die Angeklagten aushändigte. Am 01.10.2019 hat das LG Berlin – Schwurgericht – den Angeklagten nach 300 Hauptverhandlungstagen wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen die Revision sowohl des Angeklagten als auch die Staatsanwaltschaft, über die im Dezember 2021 noch nicht entschieden war.

Wegen des gegen einen ebenfalls inhaftierten Mitangeklagten bestehenden Verdachts der Bedrohung im Zusammenhang mit der Nutzung sozialer Netzwerke war dessen Laptop untersucht und an diesem ein internetfähiger Zugang festgestellt worden. Dies hat die JVA zum Anlass genommen, auch die den weiteren inhaftierten Mittätern überlassenen Laptops aus den Hafträumen herauszunehmen und diese ebenfalls auf die manipulative Schaffung eines Internetzugangs zu überprüfen. Dabei wurden am 22.10.2020 betreffend den Laptop des Angeklagten ein freier Zugang zum Internet und auf dem Gerät gespeicherte private Fotos festgestellt. Das LG Berlin hat dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft die vorläufige Sicherstellung u.a. des aus dem Haftraum des Angeklagten entnommenen Laptops zur Auswertung angeordnet, „um die als Beweismittel im hiesigen Verfahren […] in Betracht kommenden Laptops durch das Landeskriminalamt inhaltlich darauf untersuchen zu lassen, ob eine richterliche Beschlagnahme (einzelner beweiserheblicher Daten) zu beantragen oder gegebenenfalls die Rückgabe zu veranlassen ist“.

Dagegen das Rechtsmittel des Angeklagten, das keinen Erfolg hatte. Hier die (amtlichen) Leitsätze der KG-Entscheidung:

    1. Das Sichtungsverfahren gemäß § 110 StPO wird zwar noch der Durchsuchung zugerechnet, ist jedoch angesichts der fortdauernden Besitzentziehung in seiner Wirkung für den Betroffenen der Beschlagnahme angenähert. Die Beschlagnahme oder Maßnahmen nach § 110 StPO sind, sofern Daten betroffen sind, am Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG zu messen.
    2. Da das Verfahren im Stadium der Durchsicht gemäß § 110 StPO einen Teil der Durchsuchung nach § 102 StPO oder § 103 StPO bildet, kommt es für die Rechtmäßigkeit der Durchsicht nach § 110 StPO darauf an, ob die Voraussetzungen für eine Durchsuchung zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung vorlagen. Maßstab ist insoweit, wenn die Suche im Haftraum eines Untersuchungshäftlings Beweismitteln oder der Einziehung unterliegenden Gegenständen gilt, nicht § 44 UVollzG Berlin, sondern die §§ 102 ff. StPO.
    3. Das Recht auf eine effektive Verteidigung als Ausprägung des Anspruchs auf ein faires Verfahren gebietet es, dass – über den Wortlaut des § 97 Abs. 1 StPO hinaus – Unterlagen, die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren anfertigt, weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürfen.
    4. Allein die naheliegende Möglichkeit, dass sich auf dem durchzusehenden Datenträger auch beschlagnahmefreie Gegenstände befinden, macht die Durchsicht und die hierzu erforderliche vorläufige Sicherstellung nicht rechtswidrig. Ist nicht sofort feststellbar, ob einzelne Aufzeichnungen der Verteidigung dienen, so können sie vorläufig sichergestellt werden. Eine Pflicht zur sofortigen ungelesenen Herausgabe besteht nur dann, wenn die Eigenschaft als Verteidigungsunterlage offensichtlich ist.

U-Haft III: Telefonat mit Ehegatte im Ausland erlaubt?, oder: Großzügiger Maßstab

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In der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, geht es auch um die Frage der/einer Telefonerlaubnis. Es geht um die Frage, ob der Angeklagte mit seiner in Bulgarien lebenden Ehefrau telefonieren darf. Das AG hatte die Frage verneint.. Das LG bejaht sie dann im LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.08.2022 – 16 Qs 27/22:

„Der Beschluss war aufzuheben, da er nicht der Sach- und Rechtslage entspricht.

Nach § 119 Abs. 1 StPO dürfen derartige Beschränkungen, wie hier konkret bezüglich eines gestatteten Telefonats, nur auferlegt werden, sofern dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunklungs- oder Wiederholungsgefahr erforderlich ist. Das bedeutet, dass das Gericht, das für Entscheidungen nach § 119 Abs. 1 StPO zuständig ist. nur solche Argumente für Beschränkungen heranziehen darf, die aus Haftgründen. wenn auch aus solchen. die nicht im konkreten Haftbefehl aufgeführt sind. Berücksichtigung finden dürfen (AG Nürnberg, Beschluss vom 10.02.2022, Az. 57 Gs 1224/22; OLG Nürnberg. Beschluss vom 22.05.2014. Az. 1 Ws 153/14, 1 Ws 154/14).

Vorliegend ist nicht erkennbar, weshalb ein Telefonat mit der im Ausland lebenden Ehefrau, die in keinerlei Verbindung zur verfahrensgegenständlichen Tat steht, dem Zweck der Untersuchungshaft widersprechen soll bzw. wie durch das Telefonat das vorliegende Verfahren beeinträchtigt werden könnte.

Das Amtsgericht hat hierzu in der Begründung des angegriffenen Beschlusses auch keine näheren Ausführungen gemacht. Gründe der Anstaltsordnung haben bei der grundsätzlichen Frage von Genehmigungen von Telefonaten außer Acht zu bleiben, weil § 119 StPO die Erteilung von Beschränkungen nur gestattet, soweit diese haftgrundbezogen sind. Die Wahrung der Anstaltsordnung im Rahmen der Vorschriften des BayUVollzG ist ausschließlich Sache der Justizvollzugsanstalt, nicht der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts.

Im Übrigen ist bei Telefonaten mit nahen Familienangehörigen im Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG ein großzügigerer Maßstab angezeigt (OLG Nürnberg a.a.O.).“

U-Haft I: Überwachung von Telefongesprächen, oder: Auch noch, wenn es nur noch um die Rechtsfolgen geht

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Heute dann noch einmal Entscheidungen, die mit U-Haft zu tun haben. Allerdings nicht mit der Anordnung von U-Haft, sondern mit deren Vollzug, vor allem also mit U-Haft-Beschränkungen.

Und den Opener mache ich mit dem OLG München, Beschl. v. 25.05.2022 – 2 Ws 283/22 – zur Aufrechterhaltung von Haftbeschränkungen zur Abwendung von Verdunkelungsgefahr auch noch in einem Verfahren, in dem nur noch über den Rechtsfolgenausspruch zu verhandeln ist. Der Angeklagte befindet sich seit dem 28.06.2019 in U-Haft/Unterbringung wegen des dringenden Verdachts der Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes und Nötigung. Es ist u.a. bestimmt, dass Telekommunikation des Angeklagten der Erlaubnis bedarf und ggf. zu überwachen ist. In der Folge Erlaubnisse wurden für Telefonate zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern Erlaubnisse erteilt.

Am 13.07.2021 ist der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung und Nötigung schuldig gesprochen worden, gegen ihn wurde eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren verhängt und die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Haftbefehl ist nach Maßgabe des Urteils aufrecht erhalten worden.

Auf Revision des Angeklagten hat der BGH das Urteil am 22.03.2022 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Inzwischen befinden sich die Akten wieder „in der Instanz“.

Der Verteidiger des Angeklagten hat beantragt, die Anordnung über die akustische Überwachung der Telefonate zwischen dem Angeklagten und dessen Eltern aufzuheben. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Denn die Voraussetzungen für eine Überwachung der Telekommunikation des Angeklagten mit seinen Eltern liegen weiterhin vor.

Gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 2 StPO kann das Haftgericht anordnen, dass Telekommunikation eines Untersuchungsgefangenen überwacht wird, soweit dies unter anderem zur Abwehr von Verdunkelungsgefahr erforderlich ist. Das gilt auch dann, wenn sich der Haftbefehl – wie hier – auf einen anderen Haftgrund stützt (Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, 2019, § 119, Rn 16).

Im vorliegenden Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Angeklagte unüberwachte Telefonate mit seinen Eltern zu Verdunkelungshandlungen missbrauchen würde. Dass er die verfahrensgegenständliche Tat eingeräumt hat und der gegen ihn ergangene Schuldspruch rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Denn aufgrund der Teilaufhebung des Urteils ist über den Rechtsfolgenausspruch neu zu verhandeln, und aus in dem Urteil wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten gegenüber seinen Therapeuten ergibt sich, dass er mit Nachdruck eine Unterbringungsanordnung gemäß § 63 StGB auch im vorliegenden Verfahren anstrebt (vgl. insbesondere Bl. 51 der Urteilsgründe, sechster Absatz). Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Angeklagte einen Wegfall der Telekommunikationsüberwachung zu nutzen versuchen würde, um in Telefonaten mit seinen Eltern manipulativ darauf hinzuwirken, dass diese in der neuen Verhandlung als Zeugen Angaben zu seiner psychischen Verfassung vor der Tat machen, die geeignet wären, den Rechtsfolgenausspruch im erläuterten Sinne zu seinen Gunsten zu beeinflussen (gemäß § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO stünde das Verschlechterungsverbot der Anordnung einer Unterbringungsmaßregel gemäß § 63 StGB in der neuen Verhandlung nicht entgegen).

Konkreter Anhalt dafür, dass der Angeklagte eine Aufhebung der Telekommunikationsüberwachungsanordnung zu entsprechenden Verdunkelungshandlungen nutzen würde, resultiert daraus, dass er im Ermittlungsverfahren gezielt eine angeordnete Haftbeschränkung umging: Aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen im vorletzten Absatz auf Seite 3 des Nichtabhilfebeschlusses hat der Senat die seinerzeitige Berichterstatterin des Hauptsachverfahrens vor der 20. Strafkammer des Landgerichts München I, Frau Richterin am Landgericht P., zu dem konkreten Hintergrund des dort erwähnten Vorfalls befragt. Diese erklärte, dass eine als sachverständige Zeugin vernommene Ärztin des BKH S. im Hauptverhandlungstermin vom 14.04.2021 ausgesagt habe, der Angeklagte sei zu einem Zeitpunkt, zu dem ihm die erforderliche Erlaubnis, Telefonate zu führen, noch nicht vorlag, an einen im Besitz einer Telefonkarte befindlichen Mitpatienten herangetreten und habe diesen dazu überredet, ihm – dem Angeklagten – die Telefonkarte vorübergehend zu überlassen, um damit ein unüberwachtes Telefonat mit seinen Eltern zu führen. Der Senat hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass Frau Richterin am Landgericht P. die Aussage der Ärztin zutreffend wiedergegeben hat. Dass deren Angaben nicht den Tatsachen entsprechen, sondern gleichsam aus der Luft gegriffen sind, ist auszuschließen. Der Senat teilt die Bewertung des Landgerichts, wonach aus jenem Vorfall eine grundsätzliche Bereitschaft des Angeklagten zu einer Gefährdung der Haftzwecke mittels gezielter Manipulationen abzuleiten ist.

Da mildere Mittel zur Verhinderung einer manipulativen Einflussnahme des Angeklagten auf seine in der neuen Verhandlung als Zeugen in Betracht kommenden Eltern nicht gegeben sind, ist die Aufrechterhaltung der beschwerdegegenständlichen Anordnung auch nicht unverhältnismäßig. Das durch Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistete Interesse des Angeklagten an vertraulicher innerfamiliärer Kommunikation hat unter den gegebenen Umständen hinter dem staatlichen Interesse an einer Meidung missbräuchlicher Einwirkungen auf die neue Verhandlung über den Rechtsfolgenausspruch zurückzustehen.“