Ich eröffne die 24. KW./2020 mit zwei Haftentscheidungen
Den Anfang mache ich mit dem BVerfG, Beschl. v. 01.04.2020 – 2 BvR 225/20, über den auch u.a. schon HRRS berichtet hat. Entschieden hat das BVerfG in einem Verfahren, in dem die Untersuchungshaft bereits über ein Jahr gdauert hat. Das BVerfg geht von folgendem Sachverhalt aus:
„1. a) Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 4. Februar 2019 – zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts München vom selben Tag – in Untersuchungshaft. Am 22. Juli 2019 erhob die Staatsanwaltschaft München II Anklage unter anderem gegen den Beschwerdeführer zum Landgericht München II. Am 15. Oktober 2019 erließ die – wegen einer heranwachsenden Mitangeklagten zuständige – Jugendkammer auf Grundlage der Anklageschrift vom 22. Juli 2019 einen neuen Haftbefehl, der dem Beschwerdeführer am 23. Oktober 2019 eröffnet wurde. Hiernach wird dem Beschwerdeführer unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit mittäterschaftlich begangenem unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, räuberische Erpressung und gewerbsmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in drei Fällen zur Last gelegt. Der Beschwerdeführer soll insgesamt 1,3 Kilogramm Marihuana gewinnbringend verkauft und rund 2 Kilogramm Kokaingemisch überwiegend zur gewinnbringenden Weiterveräußerung aufbewahrt haben. Zudem soll der Beschwerdeführer einen anderweitig Verfolgten bedroht haben, um Schulden aus einem Betäubungsmittelgeschäft einzutreiben. Der Haftbefehl nimmt den Haftgrund der Fluchtgefahr an.
b) Im Anschluss an die Eröffnung des neuen Haftbefehls fand am 23. Oktober 2019 ein Erörterungsgespräch in Anwesenheit der Berufsrichter der Jugendkammer, des sachbearbeitenden Staatsanwalts sowie eines der beiden Verteidiger des Beschwerdeführers statt. Ausweislich des von der Kammer erstellten Vermerks teilte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit, dass der Beschwerdeführer die angeklagten Taten mit Ausnahme der räuberischen Erpressung einräumen würde. Der Staatsanwalt wies darauf hin, dass selbst bei einer Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) eine Freiheitsstrafe ohne Vorwegvollzug aufgrund der vorliegenden Mengen an Betäubungsmitteln wohl nicht denkbar sei. Die Vorsitzende erläuterte, dass je nach Verhalten des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb bis siebeneinhalb Jahren vorstellbar wäre. Der Staatsanwalt und der Verteidiger erklärten, dass ein solcher Strafrahmen annehmbar wäre. Der Verteidiger wies darauf hin, dass dies nur vorbehaltlich einer Rücksprache mit dem Beschwerdeführer und dessen weiterem Verteidiger gelte. Als mögliche Hauptverhandlungstermine wurden in dem Erörterungsgespräch der 20. und 23. Dezember 2019, der 20. und 28. Januar 2020 und der 16. und 17. März 2020 angedacht. Andere Termine seien aufgrund der terminlichen Auslastung der Verteidigung und der Kammer nicht möglich.
c) Mit Beschluss vom 20. November 2019 ließ die Jugendkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Sie bestimmte Termine zur Hauptverhandlung für den 20. und 23. Dezember 2019 und lud hierfür 14 Zeugen und Sachverständige.
d) Die Hauptverhandlung begann am 20. Dezember 2019. Der Beschwerdeführer äußerte sich zu seinen persönlichen Verhältnissen. Zum Tatvorwurf befragt, räumte er lediglich den Besitz der 2 Kilogramm Kokaingemisch, also lediglich eine der angeklagten Taten, ein; im Übrigen machte er keine Angaben. Daraufhin setzte die Jugendkammer das Verfahren aus und bestimmte fünf neue Termine zur Hauptverhandlung ab dem 16. Juli 2020.“
Der Angeklagte hat Haftbeschwerde eingelegt, die beim OLG München keinen Erfolg hate (warum wundert mich das nicht ?). Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde. Ich beschränke mich dann hier auf die Leitsätze zu dem recht umfangreichen Beschluss. Die habe ich mir bei HRRS „geklaut“. Sie geben sehr schön wieder, womit sich das BVerfG befasst.
„1. Eine Haftfortdauerentscheidung genügt den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen nicht, wenn das Gericht eine durch eine Aussetzung der Hauptverhandlung und eine Neuterminierung erst auf einen etwa sieben Monate später liegenden Zeitpunkt bedingte Verzögerung unter Hinweis auf das Verteidigungsverhalten des Angeklagten als gerechtfertigt ansieht, obwohl weder erkennbar ist, weshalb die Strafkammer darauf hätte vertrauen können, der Angeklagte werde ein umfassendees Geständnis ablegen, noch, weshalb sie die Hauptverhandlung nach der nur teilgeständigen Einlassung des Angeklagten sogleich ausgesetzt hat, ohne die erschienenen Zeugen zu vernehmen und ohne sich um weitere Fortsetzungstermine zu bemühen.
2. Eine im Zwischenverfahren in Abwesenheit und ohne Zustimmung des Angeklagten zwischen den Berufsrichtern, dem Staatsanwalt und zwei von drei Verteidigern vereinbarte Verfahrensverständigung entfaltet für den Angeklagten keine Bindungswirkung dahingehend, dass er sich daran festhalten lassen muss, es sei ein umfassendes Geständnis in Aussicht gestellt worden. Dies gilt erst recht, wenn die Verteidiger einen Vorbehalt hinsichtlich des angesprochenen Strafrahmens angemeldet haben, der als Bestandteil einer Verständigung in einer synallagmatischen Verknüpfung mit dem Einlassungsverhalten des Angeklagten steht.
3. Hat der Angeklagte sich bei dem vorgesehenen (Neu-)Beginn der Hauptverhandlung bereits ein Jahr und fünf Monate in Untersuchungshaft befunden, ist dies verfassungsrechtlich nur ausnahmsweise hinnehmbar, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen. Die Terminslage eines Verteidigers – bei der es sich nicht um einen verfahrensimmanenten Umstand handelt – kann dabei allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Die Strafkammer hat gegebenenfalls die Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung in Betracht zu ziehen.
4. Die Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist wegen der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig, wenn die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung den Freiheitsanspruch des Beschuldigten überwiegen. Bei der Abwägung ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen.
5. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse. Damit steigen die Anforderungen sowohl an die Zügigkeit der Bearbeitung der Haftsache als auch an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund. Der Vollzug der Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils wird dabei nur in ganz besonderen Ausnahmefällen zu rechtfertigen sein.
6. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um mit der gebotenen Schnelligkeit eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. Bei absehbar umfangreicheren Verfahren ist stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlung mit mehr als einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche notwendig.
7. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.
8. Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts kann die Haftfortdauer niemals rechtfertigen. Dies gilt selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen lässt.
9. Haftfortdauerentscheidungen unterliegen von Verfassungs wegen einer erhöhten Begründungstiefe und erfordern regelmäßig schlüssige und nachvollziehbare Ausführungen zum Fortbestehen der Voraussetzungen der Untersuchungshaft, zur Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit.“
Eien kurze Passage aus dem Beschluss will ich dann aber doch anführen, und zwar:
„(2) Vor diesem Hintergrund hätte sich das Oberlandesgericht zu einer näheren Begründung gedrängt sehen müssen, warum die Belastungssituation der Jugendkammer „in der Gesamtbetrachtung nicht ins Gewicht“ falle. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass die Jugendkammer selbst bereits im Verständigungsgespräch vom 23. Oktober 2019 und vor allem im Vermerk der Vorsitzenden vom 17. Januar 2020 auf ihre terminliche Auslastung deutlich hingewiesen hat. Insoweit hätte es weiterer Darlegungen bedurft, ob es sich dabei um eine kurzfristige, nicht vorhersehbare Belastungssituation handelt, der auch durch Maßnahmen der Justizverwaltung nicht begegnet werden kann, oder ob die Jugendkammer strukturell und dauerhaft überlastet ist.
Der Hinweis des Oberlandesgerichts, von der Justizverwaltung könne nicht gefordert werden, dass Richter und Kammern vorgehalten würden, um auf „jedes denkbare Verteidigungsverhalten unmittelbar eingehen zu können“, da dies zu „Leerläufen“ führen würde und „dem Steuerzahler nicht vermittelbar“ sei, ist nicht geeignet, eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung des Beschleunigungsgebots im Einzelfall zu rechtfertigen. Die Justizverwaltung darf ihre Personalplanung jedenfalls nicht auf die Erwartung stützen, dass auf jede – wirksame – Verständigung tatsächlich ein Geständnis folgt und das Verfahren dann stets auch ohne eine umfangreiche Beweisaufnahme zum Abschluss gebracht werden kann. Wie der Generalbundesanwalt schließlich zutreffend anmerkt, handelt es sich bei der Entscheidung, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung letztlich doch kein umfassendes Geständnis ablegt, nicht um eine außergewöhnliche Verteidigungsstrategie.“
Auf das Argument mit dem „Steuerzahler“ muss man erst mal kommen.