Ich eröffne den samstäglichen Reigen von Entscheidungen – na ja, bei zwei Entscheidungen/Samstag passt „Reigen“ vielleicht nicht so 🙂 – mit dem VG Würzburg, Beschl. v. 16.09.2019 – W 6 S 19.1103. Damit kommt seit längerem mal wieder etwas zur Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem StVG, und zwar:
Die Staatsanwaltschaft hatte dem Landratsamt mitgeteilt, dass ein Verfahren gegen den Beschuldigten/Antragsteller im Verwaltungsverfahren wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde. Dem Antragsteller sei zur Last gelegt worden, einen Verkehrsunfall verursacht zu haben, bei dem der Pkw einer anderen Person beschädigt worden sei (Schaden 1.928,45 EUR), und sich anschließend vom Unfallort entfernt zu haben, ohne die notwendigen Feststellungen zu ermöglichen. Der Antragsteller bestreite, den Unfall bemerkt zu haben. Diese Einlassung habe nicht widerlegt werden können. Das technische Sachverständigengutachten komme zu dem Ergebnis, dass weder eine optische, noch eine taktile Wahrnehmbarkeit habe nachgewiesen werden können. Zwar sei eine Wahrnehmbarkeit für normal wahrnehmende Personen gegeben, jedoch habe der Antragsteller durch Vorlage entsprechender ärztlicher Atteste glaubhaft dargelegt, dass seine Hörfähigkeit deutlich eingeschränkt sei, dies insbesondere dann, wenn sich eine Trennscheibe zwischen ihm und der Geräuschquelle befinde.
Unter Bezugnahme auf die Mitteilung der Staatsanwaltschaft bat das Landratsamt dann den Antragsteller schriftlich zu seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen im Hinblick auf seine Schwerhörigkeit Stellung zu nehmen sowie ein ärztliches Attest vorzulegen, aus dem der prozentuale Hörverlust, bestimmt nach der Tabelle nach ROESER (1973), hervorgeht.
Es geht dann ein wenig hin und her, es werden verschiedene Atteste vorgelegt und dann schließlich der Antragsteller auf Grundlage von § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1, 2 und 3 Nr. 5 i.V.m. Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV aufgefordert bis zum 25. Juni 2019 ein ärztliches Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung vorzulegen, das zu folgenden Fragestellungen Stellung nimmt: „Ist Herr S. trotz des Vorliegens einer Erkrankung, die nach Nr. 2 der Anlage 4 FeV die Fahreignung in Frage stellt, in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen A, A1, AM, B, BE, C1, C1E, CE, L und T vollständig gerecht zu werden? Liegt eine ausreichende Adhärenz (Compliance, regelmäßig/überwachte Medikamenteneinnahme, etc.) vor? Sind darüber hinaus Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich, um den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeuges der o.g. Klassen weiterhin gerecht zu werden? Sind insbesondere fachlich einzelfallbegründete Auflagen nach Anlage 4 (z.B. ärztliche Kontrollen, Nachuntersuchungen) erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand und wie lange? Was soll regelmäßig kontrolliert und attestiert werden? Sind die Ereignisse der Fahrerlaubnisbehörde vorzulegen und wenn ja, warum? Ist eine fachlich einzelfallbegründete (je Fahrerlaubnisgruppe) Nachuntersuchung i.S. einer erneuten Nachuntersuchung erforderlich? Wenn ja, in welchem zeitlichen Abstand?“. Die Anordnung wurde dem Antragsteller am 27. April 2019 zugestellt.
Das Gutachten wird nicht termingerecht vorgelegt, es geht wieder hin und her und schließlich wird dem Antragsteller mit Bescheid vom 02.08.2019 die Fahrerlaubnis aller Klassen entzogen. Der Antragsteller gibt die Fahrerlaubnis ab, legt Widerspruch ein und stellt einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Und der hat beim VG Erfolg:
2.2.1 Die Entziehung der Fahrerlaubnis aller Klassen in Ziffer 1 des Bescheides ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV. Erweist sich danach der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV ist bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit (Hörverlust von 60% und mehr), ein- oder beidseitig sowie bei Gehörlosigkeit ein- oder beidseitig eine Fahreignung für Fahrerlaubnisinhaber sowohl der Gruppe 1 als auch der Gruppe 2 gegeben, wenn nicht gleichzeitig andere schwerwiegende Mängel (z. B. Sehstörungen, Gleichgewichtsstörungen) vorliegen. Damit gelten selbst eine hochgradige Schwerhörigkeit oder gar Gehörlosigkeit nicht als Mangel, der den Betroffenen generell für sich allein für das Führen von Fahrzeugen ungeeignet macht.
Die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Bericht der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 115, gültig ab 1.5.2014) führen unter Ziffer 3.2 hierzu aus, hochgradige Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit ist definiert als „besseres Ohr: Hörverlust > 60%“. Das Ton- und das Sprachaudiogramm stellen die Grundlage der Begutachtung dar. Die Bestimmung des prozentualen Hörverlustes erfolgt anhand der Vierfrequenztabelle nach ROESER (1973) aus der Luftleitungskurve des Tonaudiogramms, ausgehend von den Hörverlusten in dB bei 500, 1000, 2000 und 4000 Hz im schallisolierten Raum. Dementsprechend ist auch in der Kommentierung der Begutachtungsleitlinien als Leitsatz formuliert, dass für die Fahreignung erst ein Hörverlust von 60% oder mehr auf dem besseren Ohr von Relevanz ist (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar, 3. Auflage, S. 113).
2.2.1.1 Hiervon ausgehend besteht beim Antragsteller bereits keine hochgradige Schwerhörigkeit i.S.d. Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV, weshalb die Hörminderdung des Antragstellers nicht zur Ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen führen kann.
Keinem der vorliegend ärztlichen Atteste kann entnommen werden, dass beim Antragsteller ein Hörverlust 60% oder mehr auf dem besseren Ohr gegeben ist. Aus dem aktuellsten fachärztlichen Attest von Dr. med. Z., Arzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, vom 13. April 2019 ergibt sich zwar, dass beim Antragsteller nach der Vierfrequenztabelle (Röser 1973) ein prozentualer Hörverlust auf dem linken Ohr von 85% vorhanden ist. Allerdings besteht auf dem rechten Ohr ausweislich der ärztlichen Stellungnahme nur ein prozentualer Hörverlust von 2%. Damit besteht auf dem besseren Ohr kein Hörverlust von 60% oder mehr, weshalb beim Antragsteller schon keine für die Fahreignung relevante hochgradige Schwerhörigkeit gegeben ist.
Die hier vertretene Ansicht, dass für die Fahreignung erst ein Hörverlust von 60% oder mehr auf dem besseren Ohr für die Fahreignung von Relevanz ist, steht auch nicht zum Wortlaut der Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV in Widerspruch. Dort ist ausgeführt, dass eine „hochgradige Schwerhörigkeit (Hörverlust von 60% und mehr) ein- oder beidseitig“ für die Fahreignung von Relevanz sein kann. Dieser Formulierung lässt sich nicht (eindeutig) entnehmen, dass ein für die Fahreignung relevanter Hörverlust schon dann gegeben ist, wenn nur auf einem Ohr ein Hörverlust von 60% und mehr vorliegt. Zwar mag der Hinweis auf die Relevanz von „ein- oder beidseitiger Schwerhörigkeit“ dafür sprechen, dass auch schon ein Hörverlust von 60% auf nur einem Ohr für die Fahreignung von Bedeutung sein kann. Allerdings ist zu beachten, dass der Klammerzusatz, der einen Hörverlust von 60% oder mehr fordert, auf den Terminus „hochgradige Schwerhörigkeit“ bezogen ist. Dies lässt die hier vertretene Interpretation zu, dass eine hochgradige Schwerhörigkeit nur vorhanden ist, wenn insgesamt und damit bezogen auf beide Ohren ein Hörverlust 60% oder mehr bei einer Person festgestellt werden kann. Außerdem ist festzuhalten, dass eine einseitige hochgradige Schwerhörigkeit bei der hier vertretenen Lesart möglich ist. So kann auch in dem Fall, dass auf beiden Ohren ein Hörverlust von 60% und mehr gegeben ist, der Hörverlust auf dem einen Ohr größer sein als auf dem anderen. Jedenfalls wurde in der Neufassung der Begutachtungsleitlinien in Ziffer 3.2 am 1. Mai 2014 klargestellt, dass ein hochgradiger Hörverlust i.S.d. Nr. 2 der Anlage 4 zur FeV, der die Anwendbarkeit der dort aufgestellten Anforderungen eröffnet, nur dann gegeben ist, wenn auf beiden Ohren ein Hörverlust von 60% oder mehr gegeben ist, was der hier vertretenen Auslegung der Nr. 2 zur Anlage 4 der FeV entspricht….“