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Klartext – Munition im Kampf um die nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung

Im Recht der notwendigen Verteidigung ist die Frage der nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers einer der Hauptstreitpunkte. Häufig/nicht selten werden Anträge rechtzeitig gestellt und dann nicht oder so knapp beschieden, dass ein Rechtsmittel vor Abschluss des Verfahrens nicht mehr möglich ist. Der Bestellung nach Rechtskraft wird dann entgegengehalten: Geht nicht mehr.

In dem Streit bietet jetzt die Entscheidung/Verfügung des OLG Stuttgart v. 28. 6. 2010 – 4 Ss 313/10, die mir der Verteidiger in dem Verfahren hat zukommen lassen, eine mehr als gute Argumentationshilfe. Das OLG sagt:

„Stellt ein/e Rechtsanwalt/in namens eines/r Angeklagten oder Betroffenen einen Antrag auf Bestellung zum/r Pflichtverteidiger/in, so entsteht daraus ein Anspruch auf eine zeitnahe Bescheidung. Das Gericht bzw. der/die Vorsitzende kann dem Antrag stattgeben oder ihn ablehnen. In jedem Fall muss ohne Verzögerung eine Entscheidung getroffen werden. Unterlässt der/die Vorsitzende eine solche Entscheidung und entscheidet dann dennoch den Rechtszug abschließend in der Hauptsache, so kann dies einen Verstoß gegen den Grundsatz des „fair trial“ (Art. 20 Absatz 3 GG, Art. 6 Absatz 1 Satz 1 EMRK) darstellen.“

Sehr deutlich auch der Hinweis:

„Der Senat ist der Auffassung, dass dadurch ein Verstoß gegen den Grundsatz des „fair-trial“ entstehen kann, der nicht bedenkenlos hingenommen werden kann. Es könnte in manchen Fällen sogar der Verdacht eines willkürlichen Handelns bzw. „Nichthandelns“ auftauchen.“

Man könnte auch sagen: Manipulation.

Es bewegt sich also endlich was. Und das OLG gibt die Richtung vor: Nämlich in Richtung der nachträglichen Bestellung

Neues aus Hamm zur Vorlagepflicht an den BGH bei Sicherungsverwahrung

In seinem Beschl. v. 22.07.2010 – III-4 Ws 180/10 hat das OLG Hamm seine Rechtsauffassung aus seiner grundlegenden Entscheidung in III-4 Ws 157/10 bestätigt. Danach ist die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009, die seit dem 10.05.2010 rechtskräftig ist, dahin auszulegen, dass der Wegfall der 10-Jahres-Frist in § 67 d Abs. 1 a.F. keine Rückwirkung haben darf, so dass auf Straftaten, die vor dem 31.01.1998 begangen wurden, die alte Norm Anwendung finden muss und die Sicherungsverwahrung ggf. für erledigt zu erklären ist. Insoweit also nichts Neues aus Hamm, aber:

Das OLG hat zugleich auch zur Vorlagepflicht an den BGH Stellung genommen und darauf hingewiesen:

„Der Senat ist auch nicht verpflichtet, die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen. Zum einen befindet sich die Änderung des § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG noch im Gesetz­gebungsverfahren. Eine Verkündung ist bislang nicht erfolgt. Selbst wenn das Ge­setz in Kraft getreten wäre, bestünde eine Vorlagepflicht des Senats nicht. Zwar weicht der Senat mit seiner Entscheidung von Rechtsansichten der Oberlandesge­richte Celle, Stuttgart, Koblenz und Nürnberg ab. Jedoch wird die Rechtsauffassung des Senats gestützt von der Entscheidung des 4. Senats des Bundesgerichtshofs vom 12. Mai 2010 (4 StR 577/09). In einem solchen Fall besteht eine Vorlagepflicht des Senats nicht (vgl. KK-Hanich, 6. Aufl., 2008, § 121 GVG Rn. 26).“

Insoweit also doch etwas Neues aus Hamm. Interessant, dass der Senat damit schon mal vorab etwas zur Auslegung des neuen § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG, der heute in Kraft tritt, gesagt hat (vgl. dazu auch hier).

Sicherungsverwahrte bleiben drin (II) – gut so, meint Herr Busemann

Heute ist ja schon in mehreren Blogs über die Entscheidung des BVerfG zur Fortdauer der Sicherungsverwahrung für einen Sexualstraftäter berichtet worden (vgl. hier, hier und hier). Zu dieser Entscheidung (vgl. hier) meldet sich dann natürlich auch die Politik zu Wort. Vorneweg der JM Busemann aus Niedersachsen. In seiner PM heißt es:

„Das höchste deutsche Gericht gibt uns mit dieser Entscheidung einen wichtigen Hinweis für die gesetzliche Neuregelung der Sicherungsverwahrung“, hat der Niedersächsische Justizminister Bernd Busemann den am Dienstag (13.07.2010) vom Bundesverfassungsgericht veröffentlichten Beschluss vom 30. Juni 2010 begrüßt.

Dabei ging es um einen Antrag auf einstweilige Anordnung der Entlassung eines wegen Missbrauchs von Kindern und Vergewaltigung vorbestraften Sexualstraftäters aus der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung. Weil das Bundesverfassungsgericht erneut das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit höher bewertete als das Interesse des Sicherungsverwahrten an seiner persönlichen Freiheit, wurde der Antrag abgewiesen. Der als gefährlich eingestufte Sexualstraftäter bleibt in Verwahrung.

„Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung erneut nicht infrage gestellt. Im Gegenteil: Der Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichen Gewalttätern ist Verpflichtung des Staates. Deshalb ist es weder richtig noch nachzuvollziehen, warum ohne Not auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung verzichtet werden sollte“, sagte Busemann. Für die Rechtspolitik müsse es vielmehr darum gehen, bestehende Schutzlücken zu schließen. „Die Sicherheit der Bevölkerung muss den höchsten Stellenwert haben „, machte Busemann deutlich.“

In meinen Augen reiner Populismus. Ich sehe auch nicht ganz, wo man in den paar Zeilen die Hinweise für den Gesetzgeber sieht.

Und: Wie heißt es so schön in einem Kommentar zu meinem Posting:

„Vielleicht hat das BVerfG die Entscheidung des EGMR nicht verstanden: Sicherungsverwahrung ist als Strafe im Sinne der Konvention anzusehen, für die das Rückwirkungsverbot gilt. Eine Folgenabwägung oder Verhältnismäßigkeitserwägungen sind daher überhaupt nicht zulässig und schon vom Ansatz her falsch.“

Vielleicht hat Herr Busemann die Entscheidung des EGMR v. 17.12.2009 auch nicht verstanden. Würde mich nicht überraschen.

Noch druckfrisch: Hier das OLG Hamm vom heutigen (!!) Tage zur Sicherungsverwahrung nach der Entscheidung des EGMR – mit Hieb auf den Gesetzgeber

Schneller geht es – glaube ich – nun wirklich kaum noch.

Die (ehemaligen) Kollegen in Hamm haben heute zur Anwendung/Auswirkung der Entscheidung des EGMR v. 17.12.2009 auf die nach altem Recht in Sicherungsverwahrung Untergebrachten entschieden (vgl. Beschl. v. 06.07.2010 – 4 Ws 157/10) und mir den Beschluss freundlicher Weise übersandt (geht also doch noch :-).

Der 4. Strafsenat des OLG hat sich dafür entschieden, die Vorschrift des § 2 Abs. 6 StGB  mit Blick auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009, die seit dem 10.05.2010 rechtskräftig ist, dahin auszulegen, dass der Wegfall der 10-Jahres-Frist in § 67 d Abs. 1 a.F. keine Rückwirkung haben darf, so dass auf Straftaten, die vor dem 31.01.1998 begangen wurden, die alte Norm Anwendung finden muss und die Sicherungsverwahrung ggf. für erledigt zu erklären ist.

Ebenso haben bereits entschieden:

  • BGH, Beschluss vom 12.05.2010 – 4 StR 577/09 für den parallel gelagerten Fall der nachträglichen Sicherungsverwahrung;
  • OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.06.2010 – 3 Ws 485/10;
  • LG Koblenz, Beschluss vom 19.05. 2010 – 7 StVK 139/10;
  • LG Marburg, Beschluss vom 17.05.2010 – 7 StVK 220/10;
  • LG Kassel, Beschluss vom 15.06.2010 – 34 StVK 162/10;
  • sowie Grabenwarter in seinem Rechtsgutachten für die Bundesregierung zu den Rechtsfolgen der Entschei­dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 42 ff.).

Anderer Auffassung sind das

  • OLG Celle (Beschluss vom 25.05.2010, 2 Ws 169 u. 170/2010) und das
  • OLG Stuttgart (Beschluss vom 01.06.2010, 1 Ws 57/10).

Einen Hieb auf den Gesetzgeber hat sich das OLG dann nicht verkneifen können, wenn es im Beschluss heißt:

Der Gesetzgeber ist allerdings bislang nicht tätig geworden. Soweit es den Äußerungen der Bundesjustizministerin zu entnehmen ist, soll die Verantwortung auf die Gerichte abgeschoben werden.

EGMR: Deutsches Recht zur Sicherungsverwahrung verstößt gegen EMRK

Der EGMR hat heute ein Urteil über die Verlängerung der Sicherungsverwahrung von Straftätern verkündet. Der EGMR beanstandet darin, dass der deutsche Gesetzgeber die ursprünglich vorgesehene Höchstfrist der Sicherungsverwahrung von 10 Jahren auch für solche Straftäter aufgehoben hat, die ihre Tat schon vor dem Zeitpunkt der Gesetzesänderung begangen hatten. Der EGMR sieht darin einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Urteil vom 05.02.2004 (2 BvR 2029/01) die Vereinbarkeit der Aufhebung der Höchstfrist auch für solche „Altfälle“ mit dem Grundgesetz bestätigt.

Das BMJ teilt dazu u.a. mit:

Da das Urteil des EGMR nach dem Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention zu einem anderen Ergebnis kommt, bedarf seine Begründung einer ausführlichen Analyse und einer sorgfältigen rechtlichen Bewertung. Tragfähige Schlüsse auf mögliche Konsequenzen für das deutsche System der Sicherungsverwahrung können erst nach Abschluss dieser Prüfung gezogen werden.

Das Urteil des EGMR ist zunächst nicht endgültig und daher nicht unmittelbar verbindlich. Die Bundesregierung erwägt, gemäß Art. 43 EMRK die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des EGMR zu beantragen. Im Lichte des endgültigen und für die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Urteils wird dann entschieden, auf welche Weise der festgestellte konventionswidrige Zustand beendet werden kann.

Eine zentrale Rolle wird auch die Frage spielen, wie auf rechtsstaatlicher Grundlage der notwendige Schutz der Bevölkerung vor notorisch gefährlichen Straftätern mit dem unbedingten Ausnahmecharakter der Sicherungsverwahrung sachgerecht zum Ausgleich gebracht werden kann.

vgl. PM vom heutigen Tage.

Ich frage mich: Was muss man denn da groß prüfen und analysieren. Der EGMR hat doch gesagt: Gewogen und zu leicht befunden.

EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04