Sachen gibt es, von denen man an sich glaubt, dass es sie nicht gibt. Jedenfalls: Sollte es nicht geben. Es gibt sie aber doch. Und so wird es dann kurios, was der BGH im BGH, Beschl. v. 10.09.2015 – 4 StR 24/15 – zu entscheiden hatte. Nach dem BGH-Beschluss folgender Sachverhalt:
„Die vom Berichterstatter der Strafkammer des Landgerichts auf der Grundlage der Beratung verfasste, fünfzehn Seiten umfassende und zur Zustellung an die Verfahrensbeteiligten bestimmte Urteilsurkunde wurde von den berufsrichterlichen Mitgliedern der Strafkammer unterschrieben und gelangte am 26. November 2014 und damit rechtzeitig zur Geschäftsstelle. Aus nicht mehr aufklärbaren Gründen verblieb neben dieser Urteilsfassung auch ein lediglich neun Seiten umfassender – nicht handschriftlich unterschriebener – Urteilsentwurf im Protokoll- und Urteilsband der Sachakten. Entgegen der Zustellungsverfügung des Vorsitzenden vom 26. November 2014 wurde dem Verteidiger nicht die fünfzehnseitige Urteilsurkunde, sondern der neunseitige Urteilsentwurf, der als Ausfertigung nicht als Entwurf erkennbar war, zugestellt. Nach Eingang der Revisionsbegründung, mit der der Verteidiger sachlich-rechtliche Fehler des ihm zugestellten „Urteils“ beanstandete, gelangte – aus ebenfalls nicht mehr aufklärbaren Gründen – auch nur die neunseitige Fassung als „beglaubigte Ab-lichtung“, versehen mit den Unterschriften der mitwirkenden Berufsrichter in Maschinenschrift, zum Senatsheft sowie zu den Handakten des Generalbundesanwalts. Auf dieser Grundlage stellte der Generalbundesanwalt seinen auf § 349 Abs. 4 StPO gestützten Aufhebungsantrag, dem der Senat gefolgt ist.
Eine nachträgliche Überprüfung beim Landgericht ergab ausweislich eines Vermerks des Vorsitzenden der Strafkammer vom 29. April 2015, dass in dem von den Gerichten in Nordrhein-Westfalen benutzten Textverarbeitungssystem „Judica“ lediglich der erwähnte Urteilsentwurf, nicht jedoch die unterschriebene Endfassung des Urteils abgespeichert war, weshalb versehentlich der Urteilsentwurf und nicht das Originalurteil zur Zustellung gelangte und zur Grundlage der Revisionsakten wurde.“
Und nun? Der GBA meint: Das war es. Aufgehoben ist aufgehoben. Der BGH sieht es anders und hebt seinen Aufhebungsbeschluss auf und setzt das Verfahren fort:
„2. Im vorliegenden Fall hat der Senat über das Rechtsmittel des Angeklagten weder in Verkennung der prozessualen Lage noch aus Rechtsirrtum entschieden, sondern auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage, die ihren Grund allein in einer Unregelmäßigkeit im Geschäftsgang des Landgerichts hatte. Denn die dem Senat vorliegende Urteilsfassung, die lediglich einen Entwurf darstellte und die sich – anders als die Endfassung – auch im gerichtlichen Textverarbeitungssystem befand, wurde aus letztlich ungeklärten, im Geschäftsablauf des Landgerichts zu suchenden Gründen – entgegen der Anordnung des Vorsitzenden – dem Verteidiger des Angeklagten zugestellt, zu den Senatsakten genommen und so zur Grundlage der Senatsentscheidung.
3. Der Senat hat daher seinen Beschluss vom 24. März 2015 aufgehoben. Da die Zustellung der neunseitigen Entwurfsfassung des landgerichtlichen Urteils an die Verfahrensbeteiligten die Revisionsbegründungsfrist nicht in Lauf setzen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 1981 – 4 StR 13/81, StV 1981, 170), ist dem Verfahren nunmehr durch Zustellung der richtigen Fassung Fortgang zu geben.“
Wegen der sich ergebenden Fragen siehe hier: Fragen und Antworten zu: Kurios, der BGH entscheidet über einen Urteilsentwurf, oder: Neue Technik