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Unfallschadenregulierung: Wann ist anwaltliche Hilfe gegenüber dem eigenen Unfallversicherer erforderlich?

Der Kollege Gratz vom VerkehrsrechtsBlog hat gestern bereits über das das OLG Saarbrücken, Urt. v. 19.07.2018 – 4 U 26/17 – berichtet. Ich greife, da ich derzeit wenig „gebührenrechtliches“ Material habe, den „Hinweis“ auf und stelle die Entscheidung heute dann auch vor. Ist für den Verkehrsrechtler vielleicht ganz interessant, wenn auch nicht positiv.

Entschieden hat das OLG über den Ersatz von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren nach einem Verkehrsunfall. Es hat den Ersatz der für die Meldung von Ansprüchen gegenüber dem eigenen privaten Unfallversicherer angefallenen Rechtsanwaltsgebühren verneint.

Datzu führt das OLG aus:

„4. Die Berufung beanstandet allerdings mit Recht, dass das Landgericht die Beklagte auch zur Erstattung der im Zusammenhang mit der Anmeldung von Ansprüchen gegenüber dem privaten Unfallversicherer angefallenen Anwaltskosten des Klägers verurteilt hat.

a) Zu den ersatzpflichtigen Aufwendungen des Geschädigten zählen grundsätzlich die durch das Schadensereignis erforderlich gewordenen und adäquat verursachten Rechtsverfolgungskosten (BGH NJW 2006, 1065 Rn. 5). Teil der Schadensabwicklung ist auch die Entscheidung, den Schadensfall einem Versicherer zu melden. Die für die Anmeldung des Versicherungsfalls bei dem eigenen Versicherer anfallenden Rechtsverfolgungskosten können daher ersatzfähig sein, wenn sie adäquat kausal auf dem Schadensereignis beruhen und die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe unter den Umständen des Falls aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig war (BGH NJW 2006, 1065 Rn. 6; 2017, 3527, 3528 Rn. 10). Maßgeblich ist die ex-ante-Sicht einer vernünftigen, wirtschaftlich denkenden Person. Dabei sind keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Es kommt darauf an, wie sich die voraussichtliche Abwicklung des Schadensfalls aus der Sicht des Geschädigten darstellt (BGHZ 127, 348, 351; BGH NJW 2015, 3793, 3794 Rn. 8).

aa) Die Anwaltskosten des Geschädigten für die Geltendmachung des Schadens bei seinem Kaskoversicherer sind nicht erstattungsfähig, wenn es sich um einen einfach gelagerten Fall handelt, der Geschädigte die ihm entstandenen Schäden gegenüber dem beklagten Haftpflichtversicherer zunächst selbst und ohne Einschaltung eines Rechtsanwalts geltend gemacht hat und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kaskoversicherer seine Leistungspflicht aus dem Versicherungsvertrag in Abrede stellen würde (BGH NJW 2012, 2194 Rn. 10). Allein der Umstand, dass bei der späteren Regulierung durch den Kaskoversicherer auch ein Quotenvorrecht des Geschädigten zu berücksichtigen sein kann, reicht nicht aus, um aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten die Erforderlichkeit der anwaltlichen Vertretung schon bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem Kaskoversicherer zu begründen (BGH NJW 2017, 3527, 3528 Rn. 13).

bb) Im Falle der Verletzung einer Person ist die Grenze der Ersatzpflicht dort zu ziehen, wo die Aufwendungen des Geschädigten nicht mehr allein der Wiederherstellung der Gesundheit, dem Ersatz entgangenen Gewinns oder der Befriedigung vermehrter Bedürfnisse dienen. Dies kann der Fall sein, wenn der Geschädigte Kosten aufwendet, um von seinem privaten Unfallversicherer Leistungen zu erhalten, die den von dem Schädiger zu erbringenden Ersatzleistungen weder ganz noch teilweise entsprechen. Das ist zu erwägen, wenn dem Geschädigten nach den Vertragsbedingungen seiner Unfallversicherung ein Anspruch auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung zusteht, insoweit ein Ersatzanspruch – etwa unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs vermehrter Bedürfnisse – gegen den Schädiger nach Lage des Falles aber nicht besteht (BGH NJW 2006, 1065 Rn. 7). Eine Erstattungsfähigkeit der Anwaltskosten kann im Einzelfall aber auch dann in Betracht kommen, wenn es an einer derartigen Entsprechung zwischen der Leistung des eigenen Versicherers und dem vom Schädiger zu ersetzenden Schaden fehlt. Ein solcher Fall kann gegeben sein, wenn der Geschädigte etwa aus Mangel an geschäftlicher Gewandtheit oder sonstigen Gründen wie Krankheit oder Abwesenheit nicht in der Lage ist, den Schaden bei seinem Versicherer selbst anzumelden (BGH NJW 2006, 1065 Rn. 8). Das ist im Einzelfall zu bejahen, wenn der Geschädigte auf unbestimmte Zeit nicht in der Lage gewesen ist, sich selbst um die Geltendmachung und Wahrung seiner Ansprüche zu kümmern, weil er sich für längere Zeit in stationärer Krankenhausbehandlung befand (vgl. BGH NJW 2006, 1065, 1066 Rn. 9).

b) Nach diesen Grundsätzen besteht entgegen der Auffassung des Landgerichts kein Erstattungsanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten.

aa) Dass dem Kläger nach den Vertragsbedingungen seiner Unfallversicherung ein Anspruch auf Zahlung einer Invaliditätsentschädigung zusteht, insoweit ein Ersatzanspruch – etwa unter dem Gesichtspunkt des Ausgleichs vermehrter Bedürfnisse – gegen die Beklagte nach Lage des Falles aber nicht besteht, hat das Landgericht nicht feststellen können. Es hat zutreffend ausgeführt, dass insoweit nichts vorgetragen sei (Bd. I Bl. 167 d. A. unten). Die Berufungserwiderung (und Anschlussberufung) bringt dagegen nichts vor (vgl. Bd. II Bl. 227 d. A.).

bb) Auch die zweite Alternative, nämlich dass der Kläger auf Grund von Krankheit oder Abwesenheit nicht in der Lage gewesen wäre, den Schaden bei seinem Versicherer selbst anzumelden, ist nicht gegeben.

(1) Das Landgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass der Kläger aus Gründen der Krankheit bzw. Abwesenheit nicht in der Lage gewesen sei, den Schaden bei seinem Versicherer anzumelden. Zudem sei auf Grund des Gutachtens des Universitätsklinikums in Homburg vom 16.03.2015 und der Parteianhörung des Klägers von einer Arbeitsunfähigkeit bis zum Oktober 2012 auszugehen. Es erscheine durchaus nachvollziehbar, dass der Kläger sich schon auf Grund seiner Krankenhausaufenthalte veranlasst gesehen habe, sich anwaltlicher Hilfe zur Geltendmachung seiner Ansprüche gegenüber der Unfallversicherung zu bedienen, zumal es sich um für einen versicherungsrechtlichen Laien nicht unmittelbar durchschaubare Ansprüche gehandelt habe, was z. B. die Berechnung von Ansprüchen nach der Gliedertaxe angehe. Außerdem seien Fristen zu beachten. Die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe erscheine daher sinnvoll (Bd. I Bl. 168 d. A.).

(2) Dem folgt der Senat nicht.

(2.1) Entgegen dem Schlusssatz des Landgerichts kommt es bei der Prüfung der Ersatzpflicht des Schädigers bzw. des gegnerischen Haftpflichtversicherers nicht darauf an, ob die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe sinnvoll erscheint, sondern ob sie in der ex-ante-Sicht notwendig ist. Letzteres ist hier zu verneinen. Der Kläger erlitt unfallbedingt eine mehrfragmentäre Femurfraktur (d. h. Oberschenkelbruch) linksseitig und befand sich seit dem Unfallzeitpunkt am 17.05.2012 in stationärer Krankenhausbehandlung (Bd. I Bl. 132 d. A.). Er wurde nach regelrechtem postoperativem Verlauf am 01.06.2012 in die weitere Behandlung mit anschließender Rehabilitation entlassen (Bd. I Bl. 132 d. A.). In dem Aufforderungsschreiben an die Beklagte vom 03.06.2015 heißt es, dass die Mandatsanzeige und Anmeldung gegenüber dem Unfallversicherer mit Schreiben vom 01.06.2012 erfolgt sei (Bd. I Bl. 52 d. A.). Die Anspruchsanmeldung gegenüber dem Unfallversicherer hätte der soeben aus der stationären Behandlung entlassene Kläger in diesem Zeitpunkt also ohne Weiteres selbst fernmündlich, in elektronischer oder schriftlicher Form bewirken können.

(2.2) Aus dem Anwaltsschreiben an den privaten Unfallversicherer vom 01.06.2012 geht hervor, dass der Kläger seinem Anwalt offenbar einen mit Schreiben des Unfallversicherers vom 24.05.2012 übermittelten Fragebogen zur Erledigung übersandt hatte (Bd. I Bl. 47 d. A.). Das Ausfüllen eines bloßen Fragebogens hätte der beinverletzte Kläger aber ohne Weiteres selbst übernehmen können.

(2.3) Auch den vom Landgericht herangezogenen Erklärungen des Klägers im Rahmen der Parteianhörung lässt sich nichts entnehmen, was ihn daran gehindert hätte, ab dem 01.06.2012 seine Ansprüche gegenüber dem privaten Unfallversicherer selbst anzumelden (Bd. I Bl. 152 f. d. A.). Auf die infolge der Rehabilitationsphase nach dem Oberschenkelbruch attestierte Arbeitsunfähigkeit bis Oktober 2012 kommt es entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht entscheidend an; denn dieser Gesundheitszustand hinderte den Kläger offensichtlich nicht am Telefonieren oder Schreiben.

(2.4) Auf die Berechnung von Ansprüchen nach der Gliedertaxe oder die Einhaltung von Fristen kam es im Zeitpunkt der bloßen Anmeldung von Ansprüchen gegenüber dem Unfallversicherer nicht an. Zur Ersatzfähigkeit der Anwaltskosten für die Inanspruchnahme des eigenen Kaskoversicherers hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass allein der Umstand, dass bei der späteren Regulierung durch den Kaskoversicherer auch ein Quotenvorrecht des Geschädigten zu berücksichtigen sein kann, nicht ausreicht, um aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten die Erforderlichkeit der anwaltlichen Vertretung schon bei der ersten Kontaktaufnahme mit dem Kaskoversicherer zu begründen, wenn diese erste Tätigkeit lediglich in der Übersendung bereits vorhandener Unterlagen bestanden hat (BGH NJW 2017, 3527, 3528 Rn. 13). Wird in einem solchen Fall eine Vertretung durch einen Rechtsanwalt im späteren Verlauf erforderlich, führt die zu frühe Einschaltung des Rechtsanwalts – für sich genommen – nicht notwendig zu einem vollständigen Ausschluss des gemäß § 287 ZPO frei zu schätzenden Schadens wegen der Rechtsverfolgungskosten (BGH NJW 2017, 3527, 3528 Rn. 14). Auch für ein späteres Erforderlichwerden der Beauftragung eines Rechtsanwalts gegenüber dem Unfallversicherer ist hier nichts ersichtlich. In dem weiteren Aufforderungsschreiben an die Beklagte vom 03.06.2015 heißt es, dass von Seiten des Unfallversicherers Leistungen im Rahmen der bestehenden Versicherung gewährt worden seien (Bd. I Bl. 52 d. A.). Auch wenn das dort als Anlage erwähnte Schreiben der … pp. Versicherung AG vom 22.04.2015 im vorliegenden Rechtsstreit nicht eingereicht worden ist, kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass und aus welchen Gründen die spätere Einschaltung eines Rechtsanwalts zur Durchsetzung von Ansprüchen aus der privaten Unfallversicherung erforderlich geworden wäre.“

Liegestütze auf dem Altar der Basilika, oder: Beschimpfender Unfug, nicht durch die Kunstfreiheit gedeckt

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Und als zweite Entscheidung dann heute eine weitere aus dem Saarland, ebenfalls mit „kirchlichem Bezug“. 🙂 Es handelt sich um den OLG Saarbrücken, Beschl. v. 15.05.2018 – Ss 104/2017 (4/18), Ss 104/17 (4/18). In ihm beantwortet das OLG die Frage: Sind Liegestütze, die der Angeklagte auf dem Altar der katholische Basilika St. Johann in Saarbrücken gemacht hat, (nur) als Hausfriedensbruch oder auch als Störung der Religionsausübung (§ 167 Abs. 1 StGB) anzusehen und schließt ggf. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG eine Bestrafung aus?

Ausgangspunkt der Entscheidung ist in etwa folgender Sachverhalt – entnommen der PM zu der Entscheidung:

„Nach den vom Oberlandesgericht zugrunde zu legenden Feststellungen des Landgerichts begab sich der Angeklagte im Januar 2016 in den mittels einer Balustrade und einer Kordel abgesperrten Altarraum der katholischen Basilika St. Johann in Saarbrücken, kletterte auf den dortigen Altar, führte auf diesem 26 Liegestützen aus und legte sich anschließend für wenige Sekunden mit in den Armen versenktem Kopf flach auf den Altar, um sich von der Anstrengung zu erholen. Ein Gottesdienst fand währenddessen nicht statt. Das Geschehen zeichnete er auf einer Videokamera auf. Hieraus erstellte er eine Videoinstallation mit dem Titel „pressure to perform“, die er in einer Endlosschleife auf einem Bildschirmgerät – zunächst im Schaufenster eines Anwesens in der Nauwieserstraße und später im Schaufenster eines Künstlerhauses in der Mainzer Straße in Saarbrücken – präsentierte. Mit der Videoinstallation wollte der Angeklagte seine kritische Haltung gegenüber dem Druck der Leistungsgesellschaft, der nichts mehr heilig sei, zum Ausdruck bringen. Um seinem Werk einen besonderen Charakter zu verleihen und auch die Produktionskosten zu minimieren, kam es ihm dabei auf die Benutzung des Altars einer geweihten Kirche an.“

Das OLG sagt: Auch Störung der Religionsausübung in der Tatbestandsalternative des § 167 Abs. 1 Nr. 2 StGB:

„bb) Das Verhalten des Angeklagten stellte entgegen der Auffassung des Landgerichts auch einen beschimpfenden Unfug i. S. des § 167 Abs. 1 Nr. 2 StGB dar………..

bbb) Ausgehend von diesen Maßstäben verübte der Angeklagte dadurch, dass er auf den Altar der katholischen Basilika St. Johann kletterte, dort Liegestützen ausführte und sich anschließend für wenige Sekunden mit in den Armen versenktem Kopf flach auf den Altar legte, beschimpfenden Unfug.

(1) Der Angeklagte hat durch dieses Verhalten aus der Sicht eines hypothetischen besonnenen Beobachters in einer besonders rohen und drastischen Art und Weise die Missachtung der religiösen Bedeutung des Altars zum Ausdruck gebracht. Dass der Angeklagte hierbei – wie das Landgericht gemeint hat – zurückhaltend ans Werk ging (angemessene Bekleidung, Betreten und Verlassen des Altarraums ruhigen Schrittes, Glattstreichen der Altardecke), rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn dies ändert nichts daran, dass der Angeklagte seine Leibesübungen nicht etwa in dem Besuchern frei zugänglichen Bereich des Hauptschiffs der Kirche ausgeführt hat, sondern er sich hierzu in den für Kirchenbesucher abgesperrten Altarbereich begeben, er den Altar einer geweihten römisch-katholischen Kirche – den zentralen Ort der christlichen Eucharistiefeier, auf dem die Gaben (Brot und Wein) dargebracht werden und von dem aus der Gemeinde anschließend die Kommunion gereicht wird, der zugleich das Symbol des Leibes Christi darstellen soll und Inbegriff christlicher Glaubensvorstellungen ist (https://de.wikipedia.org/wiki/Altar; vgl. zur Berücksichtigung offenkundiger Tatsachen durch das Revisionsgericht aus allgemein zugänglichen zuverlässigen Quellen: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 244 Rn. 51, § 337 Rn. 25) – buchstäblich mit Füßen getreten und auf diesem, den Altar gleichsam als Unterlage für seine Leibesübungen benutzend, Liegestützen ausgeführt hat. Über einen bloßen Verstoß gegen gutes Benehmen oder eine bloße Ungehörigkeit geht das Verhalten des Angeklagten daher auch in Ansehung des Umstands, dass keine weiteren, religiöse Inhalte verhöhnenden Provokationen wie etwa sexuelle Handlungen, Beschädigungen oder politische Parolen hinzutraten, bei Weitem hinaus. Hinzu kommt – wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend ausgeführt hat -, dass der Angeklagte sein Verhalten mit einer von ihm eigens hierzu im Hauptschiff der Kirche aufgestellten Videokamera aufzeichnete, er den Altarraum quasi als Filmset nutzte und er die objektiv durch sein Handeln zum Ausdruck gebrachte Missachtung der religiösen Bedeutung des Ortes durch die Videoaufzeichnung noch perpetuierte.

(2) Der vom Landgericht angeführte Umstand, dass das Verhalten des Angeklagten Teil eines künstlerischen Schaffensprozesses gewesen sei, bei dem der Altar zu einem wesentlichen Element des von ihm erstellten Kunstwerks erhoben worden sei, ist für die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens schon deshalb ohne Bedeutung, weil dieser Aspekt aus der Sicht eines hypothetischen besonnenen Beobachters in dem Verhalten des Angeklagten in der Basilika St. Johann keinen Ausdruck fand (vgl. zur Ermittlung des Sinngehalts von Aussagen in künstlerischen Ausdrucksformen bei Beleidigungsdelikten: LK-Hilgendorf, a. a. O., § 185 Rn. 22; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, a. a. O., § 185 Rn. 8a; vgl. auch zu höheren Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal des Beschimpfens in § 166 StGB bei künstlerischen Äußerungen: LK-Dippel, a. a. O., § 166 Rn. 40). Denn das Geschehen ging – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hat – wortlos und ohne sonstige Kundgabe eines Gedankens des Angeklagten vonstatten, ohne dass sich einem um Verständnis bemühten Betrachter nach den Gesamtumständen erschlossen hätte, dass es sich bei den Handlungen des Angeklagten um eine künstlerische Betätigung handelte……

(3) Die Annahme des Landgerichts, dem Verhalten des Angeklagten den Ausdruck roher Gesinnung beizumessen sei schon deshalb ausgeschlossen, weil es vom Schutzbereich der verfassungsrechtlich gewährten Kunstfreiheit erfasst gewesen sei, geht fehl. Träfe dies zu, wäre jedem als beschimpfender Unfug an geheiligten Orten allgemein anerkannten Verhalten wie etwa der Ausübung sexueller Handlungen in einer Kirche oder dem Beschmieren von Kirchenwänden mit Hakenkreuzen die Tatbestandsmäßigkeit nach § 167 Abs. 1 Nr. 2 StGB abzusprechen, wenn es nur in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fiele. Richtig ist vielmehr, dass – worauf sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen haben – dem Aspekt der Freiheit der Kunst regelmäßig – und so auch hier – nicht bereits im Rahmen der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens Rechnung zu tragen ist, sondern erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit, nämlich bei der Prüfung der Frage, ob ein tatbestandsmäßiges Verhalten durch die Wahrnehmung des Grundrechts der Freiheit der Kunst gerechtfertigt gewesen ist (vgl. Fischer, a. a. O., § 166 Rn. 16, § 193 Rn. 36; LK-Dippel, a. a. O., § 166 Rn. 33 mit Fußn. 83, Rn. 107; Schönke/Schröder/Lenckner/Eisele, a. a. O., § 185 Rn. 8a, § 193 Rn. 19).“

Und: Das Verhalten des Angeklagten war nicht durch die Wahrnehmung seines Grundrechts der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) gerechtfertigt:

„cc) Die Kunstfreiheit ist indes in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos gewährleistet. Die Schranken ergeben sich insbesondere aus den Grundrechten anderer Rechtsträger, aber auch aus sonstigen Rechtsgütern mit Verfassungsrang (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.02.2018 – 1 BvR 2112/15, juris Rn. 18 m. w. N.). Im vorliegenden Fall kollidiert das von dem Angeklagten wahrgenommene Recht der Kunstfreiheit mit dem ebenfalls nicht unter Gesetzesvorbehalt stehenden Recht der katholischen Kirchengemeinde St. Johann, ihrer Mitglieder sowie der ihre Kirche besuchenden Gläubigen auf ungestörte Religionsausübung nach Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG, dessen Schutz § 167 StGB dient (vgl. Fischer, a. a. O., § 167 Rn. 1; MünchKomm.StGB/ Hörnle, a. a. O., § 167 Rn. 1). Das den Tatbestand des § 167 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllende Verhalten des Angeklagten wäre daher nur dann durch die Wahrnehmung seines Rechts der Kunstfreiheit gerechtfertigt, wenn diesem aufgrund einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Interessen der Vorrang vor dem Recht auf ungestörte Religionsausübung gebührte (vgl. BVerfGE 75, 369 ff. – juris Rn. 24; 81, 278 ff. – juris Rn. 49; LK-Rönnau, a. a. O., Vor § 32 Rn. 138; LK-Dippel, a. a. O., § 166 Rn. 41, 107; Fischer, a. a. O., § 166 Rn. 16). Das ist nicht der Fall.

aaa) Der Angeklagte hat dadurch, dass er auf den Altar der geweihten katholischen Basilika St. Johann stieg und auf diesem Liegestützen ausführte, in schwerwiegender Weise in das Recht auf ungestörte Religionsausübung eingegriffen. Denn ungeachtet seiner im Übrigen zurückhaltenden Vorgehensweise hat er durch diese Handlung den Altar als für den christlichen Glauben besonders bedeutsamen und dessen Ausübung zentralen Gegenstand in einer mit christlichen Wertvorstellungen nicht vereinbaren Weise für die Herstellung seiner Kunst zweckentfremdet und hat damit in den Kern der durch Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung eingegriffen.

bbb) Die mit dem Verbot dieses Verhaltens verbundene Beschränkung der Kunstfreiheit des Angeklagten wiegt demgegenüber deutlich weniger schwer. Er ist hierdurch nur in einem marginalen Teil seines Rechts auf freie Ausübung der Kunst betroffen. Von dem Verbot ist nur die Herstellung der Videoinstallation auf die von dem Angeklagten bevorzugte, durch andere Handlungsmodalitäten ersetzbare Weise erfasst (vgl. Thüringer OLG NJW 2006, 1892 ff. – juris Rn. 14, 23). Seiner mit der Videoinstallation verfolgten Absicht, seine kritische Haltung gegenüber dem Druck der Leistungsgesellschaft, der nichts mehr heilig sei, zum Ausdruck zu bringen und dem Betrachter vor Augen zu führen, wie sich Menschen unnatürlich in Situationen verhalten, in denen sie viel Druck von außen spüren, hätte der Angeklagte ohne Weiteres auch dann Ausdruck verleihen können, wenn er seine Liegestützenperformance auf dem Altar einer entweihten Kirche oder auf einem nachgebauten Altar ausgeführt hätte.“

Bisschen viel Text. Aber am Samstag ist ja Zeit zum Lesen ….

Akteneinsicht: „Nächster Akt im Trauerspiel“ beim OLG Saarbrücken

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Und als letzte Entscheidung dann der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 09.11.2017 – Ss 39/17. Der gehört auch in die Reihe der (Akten)Einsichtsentscheidungen, ist aber leider nicht positiv (wer hätte das auch von einem OLG erwartet). Man darf also nicht euphorisch werden. Es geht um rechtliches Gehör und den formellen Aktenbegriff. Dazu dann (nur) der Leitsatz zu der Entscheidung:

„Es liegt keine Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) vor, wenn sich nicht bei der Akte befindende Messunter­lagen und Messdaten nicht überlassen werden, sich das Gericht nicht mit allen Argumenten eines entsprechenden Antrags auseinandersetzt und einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Fehlerhaftigkeit der Messung ablehnt, wenn dies nicht objektiv willkürlich ist, weil das Gericht von der Ordnungsmäßigkeit der Messung beim standardisierten Messverfahren nach durchgeführter Beweisaufnahme überzeugt ist.

Der Leitsatz stammt vom Kollegen Deutscher, der die Entscheidung für den VRR aufbereitet hat. Und ich zitiere – ein bisschen Werbung für den VRR muss auch mal sein, aus der Bewertung des Kollegen, der auch Mitautor im Owi-Handbuch ist:

„Der nächste Akt im Trauerspiel. Das OLG Saarbrücken hat auf der Linie der meisten OLG den Teufelskreis für den Betroffenen bei dem erforderlichen Vorbringen von konkreten Fehlern der Messtechnik und der Messung als solcher beim standardisierten Messverfahren zementiert, hier sub specie „Rechtliches Gehör“ (zum fairen Verfahren insoweit mit weitgehend identischer Argumentation OLG Bamberg DAR 2016, 337 = StRR 8/2016, 16/VRR 7/2016, 19 [jew. Deutscher]; jüngst StRR 11/2017, 19/VRR 11/2017, 14 [jew. Deutscher]). Auch wenn das OLG es abtut: Die Entscheidungen OLG Oldenburg (DAR 2015, 406 m. Anm. Deutscher = StRR 2015, 274/VRR 7/2015, 13 [jew. Burhoff] und OLG Jena (NJW 2016, 1457 = DAR 2016, 399 = StRR 4/2016, 20/VRR 4/2016, 16 [jew. Burhoff] weichen von dieser Grundhaltung deutlich ab. Wann endlich hat ein OLG den Mut, diesen Fragenkomplex dem BGH zur abschließenden Beurteilung nach § 121 Abs. 2 GVG vorzulegen? Wie man es besser machen kann, hat das LG Trier jüngst gezeigt (Beschl. v. 14.9.2017, 1 Qs 46/17, in DAR Heft12/2017 m. Anm. Deutscher). Dort wurde einer Beschwerde gegen die Ablehnung eines Antrags auf Beziehung und Herausgabe von Datensätzen der gesamten Messserie, Lebensakte u. a. mit überzeugender Begründung stattgegeben.“

Dem trete ich bei…

Parkplatzunfall, oder: Nach dem Pläuschchen unaufmerksam….

entnommen wikimedia.org Autor: Urheber Mediatus

Und noch ein Parkplatzunfall am Samstag, nämlich das schon etwas ältere OLG Saarbrücken, Urt. v. 02.02.2017 – 4 U 148/15.

Mal wieder ein Unfall auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Der Kläger ist dort mit seinem Pkw mit einer Geschwindigkeit von max. 10 km/h auf der Fahrgasse gefahren. Die Beklagte hielt ein „Pläuschchen“ und hatte dafür ihren Pkw quer über zwei Parktaschen parallel zur Fahrgasse abgestellt, um sich so mit einer Bekannten unterhalten zu können. Als man durch war, ist sie schräg in die Fahrgasse eingefahren. Es kam zum Zusammenstoß. Das OLG sagt:  80 % sind bei der Beklagten und nur 20 % beim Kläger:

„Im Rahmen der hiernach gemäß § 17 Abs. 1 und 2, § 18 Abs. 3 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und Verschuldensanteile ist das Landgericht ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass neben der beiderseitigen Betriebsgefahr zu Lasten der Beklagten zudem ein unfallursächliches Verschulden der Beklagten zu 2) nach § 1 Abs. 2 StVO in die Haftungsabwägung einzustellen ist, während ein unfallursächliches Verschulden des Klägers hingegen nicht nachgewiesen ist.

a) Gemäß 17 Abs. 1, 2, § 18 Abs. 3 StVG hängt im Verhältnis der beteiligten Fahrzeughalter und -führer zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Nach anerkannten Rechtsgrundsätzen sind bei der Abwägung der beiderseitigen Verursacherbeiträge nur solche Umstände einzubeziehen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind (st. Rspr., BGH, Urteil vom 21.11.2006 – VI ZR 115/05, Rn. 15 bei Juris; Senat, Urteil vom 1.12.2016 – 4 U 109/15, bei Juris Rn. 30; Urteil vom 9.10.2014 – 4 U 46/14, NJW-RR 2015, 223 Rn. 31). Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen nach Grund und Gewicht feststehen, d. h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage haben außer Betracht zu bleiben (Senat, Urteil vom 9.10.2014 – 4 U 46/14, aaO Rn. 31).

b) In Anwendung dieser Grundsätze ist das Landgericht in nicht zu beanstandender Weise und von der Berufung unangegriffen auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme davon ausgegangen, dass den Beklagten außer der Betriebsgefahr des Pkw Seat Seat das unfallursächliche pflichtwidrige Verhalten der Beklagten zu 2 als Fahrerin zur Last fällt.

aa) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht angenommen, dass die Beklagte zu 2 vorliegend an der Unfallstelle zwar nicht gegen das Gefährdungsverbot aus 10 Satz 1 StVO verstoßen hat, ihr aber ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aus § 1 Abs. 2 StVO zur Last fällt.

(1) Nach § 10 Satz 1 StVO hat u.a. derjenige, der von anderen Straßenteilen auf die Fahrbahn einfahren oder vom Fahrbahnrand anfahren will, sich so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Nach wohl vorherrschender Auffassung kommt eine unmittelbare oder zumindest eine analoge Anwendung von § 10 Satz 1 StVO auf einem – wie hier – öffentlichen Parkplatz nur dort in Betracht, wo verschiedene Bereiche des Parkplatzes sich im Verhältnis zueinander nach dem objektiven Erscheinungsbild als über- und untergeordnete Verkehrsflächen darstellen; verleiht die bauliche Gestaltung oder Markierung einer bestimmten Teilfläche – etwa einem Zu- und Abfahrtsweg – einen eindeutigen Straßencharakter, dann sind die angrenzenden Teilflächen – etwa die einzelnen Parkgassen – als (insoweit untergeordnete) „andere Straßenteile“ einzustufen (OLG Nürnberg, Urteil vom 28.7.2014 – 14 U 2515/13, bei Juris Rn. 15; OLG Köln, MDR 1999, 675 – bei Juris Rn. 4; OLG Celle, DAR 2000, 216 – bei Juris Rn. 4 ff.; OLG Hamm, RuS 1994, 52 – bei Juris Rn. 6). Handelt es sich bei einem bzw. mehreren der Zufahrtswege um eine gegenüber den Durchfahrtsgassen zwischen den Parkplätzen nochmals baulich größer und breiter ausgestalteten Zufahrtsstraße, so kann § 10 StVO, ob unmittelbar oder analog zur Anwendung kommen (OLG Hamm, NJW 2015, 413 Rn. 14; OLG Düsseldorf, Urteil vom 23.3.2010 – 1 U 156/09, bei Juris Rn. 21; KG, Beschluss vom 12.10.2009 – 12 U 233/08, bei Juris Rn. 7 f.; OLG Sachsen-Anhalt, SVR 2007, 61 – bei Juris Rn. 32 ff.; vgl. auch: JurisPK-StrVerkR/Scholten, 1. Aufl., § 10 Rn. 36).

(2) Ausgehend hiervon ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass der Kläger vorliegend im Verhältnis zu der Beklagten zu 2 nicht nach § 10 Satz 1 StVO bevorrechtigt war, weil es sich bei der hier interessierenden Fahrgasse, auf der sich der Unfall ereignet hat, ausweislich der Luftbildaufnahmen in dem gerichtlichen Sachverständigengutachten des Sachverständigen Dr. P. vom 7.7.2015 um eine Durchfahrtsgasse zwischen zwei Parkplatzreihen handelt, die ausgehend ihrer baulichen Anlage und von der fehlenden Mittelstreifenmarkierung keinen eindeutigen Straßencharakter aufweist, sondern nach dem objektiven Erscheinungsbild dem Parkplatzsucherverkehr und der Ermöglichung des Ein- und Ausparkens diente und nicht dem fließenden Verkehr.

bb) Die Beklagte zu 2 hat jedoch gegen 1 Abs. 2 StVO verstoßen.

(1) Das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme verlangt von einem Verkehrsteilnehmer, sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Wiewohl Parkplätze dem ruhenden Verkehr dienen und der Ein- und Ausparkende in der Regel nicht auf fließenden Verkehr, sondern auf Benutzer der Parkplatzfahrbahn trifft, weshalb im Grundsatz auf öffentlichen Parkplätzen die gegenseitigen Rücksichtspflichten einander angenähert sind (vgl. OLG Hamm, NJW 2015, 413 Rn. 16), können auch hier je nach Fallgestaltung die strengen Sorgfaltsmaßstäbe, die im fließenden Verkehr gelten, im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung aus § 1 Abs. 2 StVO jedenfalls sinngemäß herangezogen werden, sofern sich in einem bestimmten Verkehrsverhalten die besondere Gefährlichkeit gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern niederschlagen kann (vgl. BGH, Urteil vom 15.12.2015 – VI ZR 6/16, bei Juris Rn. 11; Senat, Urteil vom 9.10.2014 – 4 U 46/14, bei Juris Rn. 35 f.; LG Saarbrücken, NJW-RR 2012, 476 Rn. 11 jeweils zur Wertung aus § 9 Abs. 5 StVO; LG Saarbrücken, NJW-RR 2016, 354 Rn. 13 und NJW-RR 2009, 1250 Rn. 8 zur Wertung aus § 14 StVO).

(2) So liegt es auch hier. Die ohnehin von der Beklagten zu 2 zu fordernde erhöhte Aufmerksamkeit und Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf Parkplätzen (vgl. nachfolgend unter c), bb), (1)) war unter den im Streitfall vorliegenden Umständen noch dadurch gesteigert, dass sie aus Sicht der auf der Fahrgasse herannahenden Verkehrsteilnehmer kein aus- oder einparkendes Fahrzeug darstellte, sondern ein quer auf zwei Parktaschen nicht verkehrsbedingt anhaltendes Fahrzeug, deren Insassin sich mit einer neben dem Fahrzeug stehenden Fußgängerin unterhielt. Der Gefährlichkeit des eigenen Anfahrens auf die Fahrgasse aus dieser Situation heraus für die auf der Fahrgasse herannahenden Verkehrsteilnehmer hätte die Beklagte zu 2 entsprechend der Wertung des § 10 Satz 1 StVO durch ihr eigenes Fahrverhalten Rechnung tragen und so vorsichtig fahren müssen, dass sie kein plötzliches Hindernis für andere Verkehrsteilnehmer bildet. Die Beklagte zu 2 hätte deshalb nicht quer vorwärts in die Fahrgasse einfahren dürfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass der sich von hinten annähernde Kläger, den die Beklagte zu 2 nach ihren eigenen Angaben in der informatorischen Anhörung noch vor Beginn ihres Anfahrvorgangs wahrgenommen hatte, sich auf das Fahrverhalten der Beklagten zu 2 einstellen und ihr den Vortritt auf der Fahrgasse lassen würde. Im Zweifel hätte die Beklagte zu 2 den eigenen Anfahrvorgang zurückstellen müssen.

(3) Nach den von der Berufung nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts (LGU 8/9) hat die Beklagte zu 2 den Unfall durch einen Verstoß gegen diese Sorgfaltsanforderungen verursacht.

c) Vergeblich wendet sich die Berufung gegen die Auffassung des Landgerichts, zu Lasten des Klägers sei lediglich die Betriebsgefahr des gefahrenen PkW Ford Focus zu berücksichtigen und ein darüber hinaus gehender unfallursächlicher Verstoß des Klägers gegen 1 Abs. 2 StVO lasse sich nicht nachweisen……………

bb) Entgegen der Auffassung der Berufung genügen weder eine Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers von 10 km/h noch eine Kollisionsgeschwindigkeit in gleicher Höhe, um einen unfallursächlichen Verstoß des Klägers gegen 1 Abs. 2 StVO zu bejahen.

(1) Im rechtlichen Ansatz trifft es zwar zu, dass wegen der oft unübersichtlichen Verkehrsverhältnisse auf Parkplätzen im Allgemeinen von allen Parkplatzbenutzern eine erhöhte Aufmerksamkeit und gegenseitige Bereitschaft zur Rücksichtnahme zu fordern ist (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 28.7.2014 – 14 U 2515/13, bei Juris Rn. 17; OLG Sachsen-Anhalt, SVR 2007, 61 – bei Juris Rn. 38; KG, NZV 2010, 461 – bei Juris Rn. 7; OLG Koblenz, VersR 2001, 349 – bei Juris Rn. 9; KG, NZV 2003, 381 – bei Juris Rn. 8; OLG Köln, MDR 1999, 675 – bei Juris Rn. 3), und ausgehend hiervon der die Fahrgasse zwischen den Parktaschen Befahrende mit Rücksicht auf Rangierende stets langsam bei ständiger Bremsbereitschaft fahren muss (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. § 8 StVO Rn. 31a).

(2) Die dem Kläger nachweisbare Ausgangsgeschwindigkeit von 10 km/h war in der konkreten Situation und angesichts der örtlichen Gegebenheiten indes nicht zu schnell. Aufgrund des insoweit unstreitig gebliebenen Vorbringens des Klägers, § 138 Abs. 3 ZPO, ist davon auszugehen, dass der Bereich des Parkplatzes, in dem sich der Unfall ereignet hat, zum Unfallzeitpunkt weitgehend leer war, weshalb die Tatsache, dass der Kläger nur geringfügig über Schrittgeschwindigkeit (5-7 km/h, vgl.: Senat, Urteil vom 21.11.2014 – 4 U 21/14, bei Juris Rn. 91; Urteil vom 9.10.2014 – 4 U 46/14, bei Juris Rn. 52) gefahren ist, noch keinen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO rechtfertigt.

(3) Auch eine unter § 1 Abs. 2 StVO zu fassende Reaktionsverzögerung ist dem Kläger nicht anzulasten. Die vage Aussage des Sachverständigen, im Hinblick darauf, dass beide Fahrzeuge zum Zeitpunkt der Kollision in Bewegung gewesen seien, sei aus technischer Sicht von einer Vermeidbarkeit für beide Beteiligte bei entsprechend angepasster Fahrgeschwindigkeit und entsprechender Aufmerksamkeit bzw. Beobachtung des jeweils gegnerischen Fahrzeugs auszugehen (Sachverständigengutachten Seiten 32 und 34, GA 150 und GA 152), genügt nicht, um den von den Beklagten zu führenden Nachweis einer schuldhaften Reaktionsverzögerung des Klägers als geführt anzusehen. Der Kläger selbst hat geltend gemacht, die Beklagte zu 2 sei unmittelbar in dem Moment, in dem er im Begriff gewesen sei anzuhalten, um nach links in eine dort gelegene Parktasche abzubiegen, für ihn völlig überraschend in die Fahrgasse eingefahren und mit seinem Fahrzeug kollidiert. In Ermangelung von tatsächlichen Anknüpfungspunkten dazu, wann eine Reaktionsaufforderung an den Kläger ergangen ist, ist offen, ob dieser die Anfahrabsicht der Beklagten zu 2 in die Fahrgasse so frühzeitig erkennen konnte, dass er sein eigenes Fahrzeug noch so rechtzeitig vor dem Beklagtenfahrzeug hätte abbremsen können, um hierdurch den Unfall zu vermeiden. Für einen – vom Landgericht gar nicht in Betracht gezogenen – Anscheinsbeweis ist kein Raum. Es gibt keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass derjenige, der beim Vorwärtsfahren auf der Fahrgasse eines Parkplatzes mit einem vorwärts seitlich auf die Fahrgasse auffahrenden Pkw kollidiert, mit zu hoher Geschwindigkeit oder unaufmerksam gefahren ist und verspätet reagiert hat (in Fortführung von Senat, Urteil vom 9.10.2014 – 4 U 46/14, bei Juris Rn. 49 und in Abgrenzung zu LG Saarbrücken, NJW-RR 2012, 476 Rn. 12)………“

Mofaunfall, oder: Ein 15-jähriger Mofafahrer haftet wie ein „alter“

entnommen wikimedia.org
By Schauff – Schauff, CC BY-SA 3.0

Eine in meinen Augen interessante Frage behandelt das OLG Saarbrücken, Urt. v. 03.08.2017 – 4 U 156/16. Es geht um die Sorgfaltsanforderungen, die an einen Minderjährigen zu stellen sind und dabei um die Frage: Sind sie gemindert: Geklagt hatte ein zum Unfallzeitpunkt 15 Jahre alter Mofafahrer. Der war mit seinem Mofa aus der Zuwegung eines Hauseingangs in Richtung Straße gefahren. Dort kam es auf Grund einer Unvorsichtigkeit des Klägers zum Zusammenstoß mit dem auf der Straße fahrenden Pkw des Beklagten. Das OLG Saarbrücken ist von der Alleinhaftung des Klägers auf Grund seines Verstoßes gegen § 10 Satz 1 StVO ausgegangen:

„b) Diesen gesteigerten Sorgfaltsanforderungen ist der Kläger, der im Unfallzeitpunkt das 15. Lebensjahr vollendet hatte und dessen Einsichtsfähigkeit gemäß § 828 Abs. 3 BGB zu vermuten ist, schuldhaft nicht gerecht geworden.

aa) Insoweit gelten im Straßenverkehr für einen minderjährigen Mofa-Fahrer nicht etwa geringere Sorgfaltsanforderungen. Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf zwar gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV keiner Fahrerlaubnis, wenn es sich – wie das hier offenkundig der Fall ist – um einspurige Fahrräder mit Hilfsmotor – auch ohne Tretkurbeln – handelt, deren Bauart Gewähr dafür bietet, dass die Höchstgeschwindigkeit auf ebener Bahn nicht mehr als 25 km/h beträgt (Mofas). Indessen muss schon bei der Bewerbung um die Mofa-Prüfbescheinigung eine theoretische und praktische Ausbildung durchlaufen werden. Dabei ist es laut Ziffer 1.5 Anlage 1 FeV in der hier noch anzuwendenden Fassung vom 26.06.2012 Ziel der theoretischen Ausbildung, verkehrsgerechtes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr zu erreichen (Satz 1). Die theoretische Ausbildung soll beim Kursteilnehmer zu sicherheitsbetonten Einstellungen und Verhaltensweisen führen, verantwortungsbewusstes Handeln im Straßenverkehr fördern und das Entstehen verkehrsgefährdender Verhaltensweisen verhindern. Schließlich muss, wer auf öffentlichen Straßen ein Mofa (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FeV) führt, in einer Prüfung nachgewiesen haben, dass er ausreichende Kenntnisse der für das Führen eines Kraftfahrzeugs maßgebenden gesetzlichen Vorschriften hat (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FeV) und mit den Gefahren des Straßenverkehrs und den zu ihrer Abwehr erforderlichen Verhaltensweisen vertraut ist (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV). Da der Kläger ausweislich der Verkehrsunfallanzeige Inhaber einer entsprechenden Prüfbescheinigung des TÜV in St. Ingbert vom 10.12.2013 war (Beiakte Bl. 2), ist davon auszugehen, dass er vor dem Verkehrsunfall vom 22.07.2014 die theoretische Ausbildung mit dem Ziel, verkehrsgerechtes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr zu erreichen und das Entstehen verkehrsgefährdender Verhaltensweisen zu verhindern, durchlaufen hat.“

Ich weiß: Die Dame auf dem Bild dürfte etwas älter als 15 sein 🙂 .