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OWi I: Beiziehung des Passfotos vom Einwohnermeldeamt, oder: Zulässig und kein Verwertungsverbot

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Und ich mache dann heute noch einen OWi-Tag, und zwar mit verfahrensrechtlichen Entscheidungen.

In dem Zusammenhnag stelle ich zunächst den OLG Koblenz, Beschl. v. 02.10.2020 – 3 OWi 6 SsBs 258/20 – vor. Mit ihm wird über die Rechtsbeschwerde eines Betroffenen gegen eine Verurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung entschieden. Der Betroffene hatte geltend gemacht, dass die Verwaltungsbehörde vor Erlass des Bußgeldbescheides sein Personalausweisfoto zur Fahreridentifizierung beim Einwohnermeldeamt angefordert habe. Die hierauf erfolgte Herausgabe des Personalausweisfotos verstoße gegen das Gesetz, weshalb das Verfahren einzustellen sei.

Das hat das OLG Koblenz anders gesehen:

2. Der als Verfahrensrüge zu behandelnde Einwand, die Verwaltungsbehörde habe gegen § 24 Abs. 2 und 3 PAuswG verstoßen und damit einen Verfahrensverstoß begangen, der die Einstellung des Verfahrens gebiete, ist nicht geeignet, der Rechtsbeschwerde zum Erfolg zu verhelfen.

Denn das Beschaffen des Personalausweisfotos des Betroffenen durch die Bußgeldbehörde beim zuständigen Einwohnermeldeamt stellt keinen Verstoß gegen das PAuswG dar.

Gemäß § 24 Abs. 2 PAuswG, der § 22 Abs. 2 Passgesetz entspricht, dürfen Personalausweisbehörden anderen Behörden auf deren Ersuchen Daten aus dem Personalausweisregister übermitteln, wenn 1. die ersuchende Behörde aufgrund von Gesetz oder Rechtsverordnung berechtigt ist, solche Daten zu erhalten, 2. die ersuchende Behörde ohne Kenntnis der Daten nicht in der Lage wäre, eine ihr obliegende Aufgabe zu erfüllen und 3. die ersuchende Behörde die Daten bei dem Betroffenen nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand erheben kann oder wenn nach der Art der Aufgabe, zu deren Erfüllung die Daten erforderlich sind, von einer solchen Datenerhebung abgesehen werden muss. Nach § 24 Abs. 3 Satz 1 PAuswG trägt die ersuchende Behörde die Verantwortung dafür, dass die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen.

Die Voraussetzung des § 24 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 PAuswG ist vorliegend erfüllt, da die Bußgeldbehörde gemäß § 161 Abs. 1 Satz 1 StPO iVm. §§ 46 Abs. 1 und 2 OWiG berechtigt ist, von allen Behörden zum Zweck der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten Auskünfte zu verlangen (OLG Stuttgart, Beschl. 1 Ss 230/2002 v. 26.08.2002 – NStZ 2003, 93; OLG Rostock, Beschl. 2 Ss OWi 302/04 v. 28.11.2004 – juris; OLG Bamberg, Beschl. 2 Ss OWi 147/05 v. 02.08.2005 – DAR 2006, 336). Darüber hinaus ist in § 25 Abs. 2 Satz 1 PAuswG ausdrücklich normiert, dass die Übermittlung von Lichtbildern an die Ordnungsbehörden im Rahmen der Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten im automatisierten Verfahren erfolgen kann.

Des Weiteren ist auch die Voraussetzung des § 24 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 PAuswG erfüllt, da die Daten bei dem Betroffenen nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand hätten erhoben werden können. Es hätte zwar zur Klärung der Fahrereigenschaft die Möglichkeit bestanden, den Betroffenen durch Behördenbedienstete oder durch die Polizei in seiner Wohnung oder an seinem Arbeitsplatz aufzusuchen und ihn zum Vergleich mit dem Messfoto in Augenschein zu nehmen oder insoweit sogar eine Nachbarschaftsbefragung durchzuführen; jedoch wären solche Ermittlungshandlungen sowohl für die Behörden als auch für den Betroffenen unverhältnismäßig; selbst aus Sicht des Betroffenen dürften sie wesentlich stärker in seine Persönlichkeitssphäre eingreifen als die Erhebung seines Lichtbildes beim Pass- oder Personalausweisregister (OLG Stuttgart, aaO.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschl. 1 Ss 54 B/02 v. 19.04.2002 – VRS 105, 221; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschl. 2 OB OWi 727/97 v. 20.02.1998 – NJW 1998, 3656; OLG Hamm, Beschl. 3 Ss OWi 416/09 v. 30.06.2009 – ZfSch 2010, 111).

Nach dem Wortlaut des § 24 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 PAuswG ist weitere Voraussetzung, dass die ersuchende Behörde, hier die Bußgeldstelle, ohne Kenntnis der Daten, vorliegend des Personalausweisfotos, nicht in der Lage wäre, eine ihr obliegende Aufgabe zu erfüllen. Da die Bußgeldbehörde aber die Fahrereigenschaft fast ausnahmslos auch durch Ermittlungen am Wohn- oder Arbeitsort des Betroffenen, gegebenenfalls auch durch Befragung von Nachbarn und Arbeitskollegen, erforderlichenfalls nach mehrmaligen Aufsuchen klären kann, würde dies bedeuten, dass die Übermittlung von Lichtbildern durch die Personalausweis- oder Passbehörde an die Bußgeldbehörden zur Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten fast ausnahmslos unzulässig wäre. Dies würde aber zu einem nicht auflösbaren Wertungswiderspruch im Hinblick auf § 22 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 PAuswG führen und ist im Übrigen mit der spezielleren Vorschrift des § 25 Abs. 2 Satz 1 PAuswG nicht vereinbar. Gemäß § 25 Abs. 2 Satz 1 PAuswG dürfen die Ordnungsbehörden Lichtbilder zum Zwecke der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten (sogar) im automatisierten Verfahren abrufen. Der Gesetzgeber hat, in dem er sogar das automatisierte Verfahren zugelassen hat, mit dieser spezielleren Norm zum Ausdruck bringen wollen, dass die Übermittlung von Lichtbildern durch die Passbehörden an die Ordnungsbehörden im Rahmen der Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten zulässig sein soll. Dies lässt sich den Gesetzesmaterialien zu § 25 PAuswG in der Fassung vom 18. Juni 2009 entnehmen, in denen die Bundesregierung darauf hinweist, dass ein Abruf des Lichtbildes im automatisierten Verfahren nur bei Verkehrsordnungswidrigkeiten und nicht bei Ordnungswidrigkeiten insgesamt zulässig sei (BT-Drucksache 16/10489 v. 07.10.2008), folglich dies privilegiert werden soll. Die Einschränkung in § 24 Abs. 2 Nr. 3 PAuswG, wonach eine Übermittlung nur zu erfolgen habe, wenn die ersuchende Behörde die Daten bei dem Betroffenen nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand erheben kann, wäre im Hinblick auf die Übersendung von Lichtbildern nicht mehr verständlich, wenn man aus § 24 Abs. 2 Nr. 2 PAuswG bereits ein generelles Verbot dafür entnehmen würde.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass selbst ein Verstoß gegen die Vorschriften des PAuswG weder zu einem Verfahrenshindernis noch zu einem Beweisverwertungsverbot führen würde. Verfahrenshindernisse kommen bei Verfahrensmängeln nur dann in Betracht, wenn sie nach dem aus dem Zusammenhang ersichtlichen Willen des Gesetzgebers so schwer wiegen, dass von ihrem Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängig gemacht werden muss (vgl. OLG Rostock, aaO.). Ein derartig schwerwiegender Verfahrensmangel kann bei möglichen Verfahrensfehlern im Zusammenhang mit dem Übersenden eines Ausweisfotos von der Meldebehörde zum Bildabgleich nicht gesehen werden, insbesondere im Hinblick auf § 25 PAuswG (vgl. OLG Rostock, aaO., OLG Bamberg, aaO.). Soweit die von der Meldebehörde der Bußgeldbehörde übermittelten Lichtbilder überhaupt in die Hauptverhandlung eingeführt werden – da eine Fahreridentifizierung in der Hauptverhandlung in der Regel nach Inaugenscheinnahme des Betroffenen durch Abgleich mit dem Messfoto erfolgt -, würde dies auch zu keinem Beweisverwertungsverbot führen, da ein Verfahrensfehler bei der Übermittlung des Personalausweisbildes nicht den Kernbereich der Privatsphäre des Betroffenen berührt und daher hinter dem Interesse an einer Tataufklärung zurückstehen muss, zumal die Identifizierung des Betroffenen jederzeit auch auf andere Weise erfolgen kann (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, aaO.; Bayerisches Oberstes Landesgericht, aaO.; OLG Frankfurt, Beschl. 2 Ws 331/97 v. 18.06.1997 – NJW 1997, 2963). Bei Vorliegen eines Verfahrensfehlers käme vorliegend auch keine Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG in Betracht. Soweit der Betroffene darauf hinweist, dass schon bei einem Verstoß gegen Richtlinien die Einstellung anerkannt sei, so kann dies nur bei weniger gravierenden Verstößen oder geringer Schuld geboten sein (vgl. OLG Oldenburg, Beschl. Ss 10/96 v. 29.01.1996 – VRs 93, 478). Eine Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG müsste hier aber bereits daran scheitern, dass ein gravierender Verkehrsverstoß mit Regelfahrverbot vorliegt und eine geringe Schuld bei drei einschlägigen Voreintragungen nicht angenommen werden kann.“

OWi I: Eine „Powerbank“ ist kein elektronisches Gerät, oder: Aber, was ist, wenn sie einen Touchscreen hat?

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Heute dann drei OWi-Entscheidungen.

Und zunächst kommt der OLG Koblenz, Beschl. v. 21.12.2020 – 2 OWi 6 SsRs 374/20, den mir der Kollege Walker aus Betzdorf geschickt hat. Er nimmt zur Frage Stellung, ob und wann eine sog. „Powerbank“ als elektronisches Gerät im Sinn des § 23 Abs. 1a StVO anzusehen ist:

„Dabei ist jedoch den Ausführungen des Betroffenen darin Recht zu geben, dass das Urteil des Amtsgerichts Betzdorf vom 7. September 2020 tatsächlich den Anwendungsbereich des § 23 Abs. la Satz 1 StVO überspannen dürfte, wenn es davon ausgeht, dass eine sogenannte „Powerbank- ein elektronisches Gerät, das der Information dient, darstellt. Eine über den Ladezustand hinausgehende Information wird nämlich zumindest nach den Feststellungen des Urteils – auf dem Gerät nicht gespeichert und ist damit auch nicht abrufbar. Bei einer „Powerbank“ handelt es sich vielmehr lediglich um einen Gegenstand, der der Energieversorgung von Geräten der Kommunikations-, Informations- und Unterhaltungselektronik als solchen dient oder zu dienen bestimmt ist und nicht um ein solches Gerät selbst (OLG Hamm, 4 RBs 92/19 v. 28.05.2020, BeckRS 2019, 13084). Grundsätzlich teilt damit der Senat die Auffassung des Betroffenen, dass die Nutzung einer „Powerbank an sich – auch dann nicht, wenn sie in den Händen gehalten wird – unter den Tatbestand der unerlaubten Nutzung elektronischer Geräte bei der Fahrzeugführung fällt.

Hierauf kommt es aber im vorliegenden Fall nicht an, denn nach den Feststellungen des Urteils handelte es sich bei der hier benutzten „Powerbank“ zugleich um einen Berührungsbildschirm im Sinne des § 23 Abs. 1 a Satz 2 StVO, worauf auch das Amtsgericht selbst in seiner rechtlichen Würdigung zusätzlich abstellt. so dass die angefochtene Entscheidung im Ergebnis nicht zu beanstanden ist. Der in der IT-Fachsprache heute kaum mehr verwendete Begriff Berührungsbildschirm“ meint Touchscreens. Aus der Systematik der Geräteliste des § 23 Abs. 1 a Satz 2 StVO fällt er markant heraus, enthält diese doch ansonsten Gerätegruppen, die jeweils bestimmte Nutzungsarten ermöglichen (zum Beispiel Kommunizieren oder Navigieren). Ein Berührungsbildschirm ist hingegen lediglich eine spezielle Art von Interface, das als kombiniertes Ein- und Ausgabegerät grundsätzlich in unterschiedlichen funktionalen Kontexten eingesetzt werden kann (Will. Nutzung elektronischer Geräte bei der Fahrzeugführung. NJW 2019, 1633). Indem der Betroffene nach den Feststellungen des Urteils die „Power-bank-. die mit einem Touchscreen versehen war, mit der rechten Hand neben dem Lenkrad hielt. auf den Bildschirm blickte und erkennbar mit dem Daumen auf dem Touchscreen wischte, um den Ladezustand abzufragen, hat er einen Berührungsbildschirm im Sinne des § 23 Abs. 1 a Satz 2 StVO genutzt.

Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Norm. Der Verordnungsgeber wollte mit dem „technikoffenen Ansatz- der technischen Entwicklung der Geräte der (Unterhaltungs-)Elektronik und der damit einhergehenden immer vielfältiger werdenden Nutzungsmöglichkeiten Rechnung tragen, jedoch kein vollständiges Verbot der Nutzung von elektronischen Geräten während der Fahrt normieren. Dabei hat er in § 23 Abs. 1 a Satz 2 StVO Gerätearten aufgezählt bei denen er ein besonders großes Risiko der Ablenkung für den Fahrer eines Kraftfahrzeuges gesehen hat. wie es beispielsweise bei dem hier einschlägigen Berührungsbildschirm der Fall ist. Demgegenüber hat der Verordnungsgeber aber berücksichtigt, dass es eine Vielzahl von die Verkehrssicherheit gefährdenden fahrfremden Tätigkeiten mit Ablenkungswirkung gibt (z.B. Rauchen. Essen, Trinken, Radio-. CD-Hören und Unterhaltung mit anderen Fahrzeuginsassen). die aber vor dem Hintergrund des Übermaßverbots weiter erlaubt bleiben, soweit sie derart ausgeübt werden, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt wird. Insoweit soll es daher dabei bleiben. dass für diese Verhaltensweisen weiter die Grundregel des § 1 StVO zur Anwendung kommt und auch unter Verkehrssicherheitsaspekten als ausreichend angesehen wird (OLG Hamm aaO. vgl. BR-Drs. 556/17, S. 1, 4 f., 12).“

ZVR II: Ergänzungspfleger für Aussage gegen Elternteil?, oder: Aussagebereitschaft

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In der zweiten Entscheidung zur Ergänzungspflegschaft, dem OLG Koblenz, Beschl. v. 25.05.2020 – 7 WF 257/20 – hatte das AG ohne vorherige Anhörung der Eltern das Jugendamr für ein nicht näher bezeichnetes Ermittlungsverfahren gegen den beschuldigten Vater als Ergänzungspfleger hinsichtlich der Aufgabenkreise „Vernehmung, Entgegennahme von Zeugenladungen, Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts“ seiner Kinder bestellt. Anlass dieses Ermittlungsverfahrens war die (angebliche) Verletzung der Mutter in der Silvesternacht 2019/2020. Das Jugendamt ging davon aus, dass der Vater dabei im Zuge eines Streits die Mutter absichtlich vom Balkon im 1. Stock gestoßen habe.

Gegen diese Bestellung haben sich – unabhängig voneinander –  beide Elternteile gewendet und beim OLG Erfolg. Das OLG verlangt die „Aussagebereitschaft“:

„2. Rechtsgrundlage für die Einrichtung der Ergänzungspflegschaft sind hier § 1909 Abs. 1 S. 1 BGB i.V.m. §§ 161a, 52 Abs. 2 S. 2 StPO.

Den minderjährigen Kindern steht in dem gegen ihren Vater geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Soweit die Kinder wegen mangelnder Verstandesreife die entsprechende Entscheidung noch nicht selbst treffen können, sind bei gemeinsamer elterlicher Sorge beide Elternteile von der gesetzlichen Vertretung ihrer Kinder bei der Ausübung der Entscheidung über das vorgenannte Zeugnisverweigerungsrecht ausgeschlossen. Bei den derzeit 10 bzw. 12 Jahre alten betroffenen Kindern ist im Zweifel noch von einer mangelnden Verstandesreife auszugehen, denn der Bundesgerichtshof sieht diese in der Regel nur bei Jugendlichen ab 14 Jahren als gegeben an (BGHSt 20, 234 einerseits, BGHSt 19, 85 andererseits; OLG Koblenz FamRZ 2014, 1719).

Zwar geht die strafrechtliche Kommentarliteratur davon aus, dass die Antragstellung entweder durch die zuständige Staatsanwaltschaft als Ermittlungsbehörde oder durch das Gericht erfolgen müsse, vor dem der kindliche Zeuge vernommen werden solle (BeckOK-Huber, Stand: 01.01. 2020, § 52 StPO Rn. 25; KK-Bader, 08. Aufl. 2019, § 52 StPO Rn. 29). Das FamFG hingegen regelt die Frage, ob der Staatsanwaltschaft ein gesetzliches Antragsrecht für die Einrichtung der Ergänzungspflegschaft in den Fällen des § 52 Abs. 2 StPO zusteht, nicht ausdrücklich. Allerdings hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden, dass der Staatsanwaltschaft im Falle der Ablehnung der Einrichtung einer derartigen Ergänzungspflegschaft ein Beschwerderecht nach § 59 FamFG nicht zustehe, da das Gesetz ihr insoweit kein förmliches Antragsrecht einräume, sondern das Gericht hier auch von Amts wegen tätig werden dürfe (BGH MDR 2014, 1407 Rn. 17). Dies ist konsequent, weil im Verfahren auf Bestellung eines Ergänzungspflegers nach § 1909 BGB die Offizialmaxime gilt, d.h. das Verfahren ist von Amts wegen einzuleiten, kann aber nach § 24 FamFG angeregt werden (BeckOK-Schöpflin, Stand: 01.03.2020; § 1909 BGB Rn. 22; MüKoBGB-Schneider, 8. Aufl. 2020, § 1909 BGB Rn. 65). Daher war es dem Familiengericht hier nicht verwehrt, aufgrund der Anregung des Jugendamtes vom 14.02.2020 die Notwendigkeit der Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft im Hinblick auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den Vater von Amts wegen zu prüfen. Ein ausdrücklicher Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Ermittlungsrichters war nicht erforderlich.

Unschädlich ist auch, dass das Familiengericht die Eltern hierzu zunächst nicht angehört hat, denn die unterlassene Anhörung kann im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden (OLG Hamburg FamRZ 2013, 1683; OLG Bremen NJW-RR 2017, 455 Rn. 23). Durch die Auseinandersetzung mit dem Beschwerdevorbringen der Eltern wird daher deren rechtliches Gehör gewahrt.

Jedoch liegen die übrigen materiellen Voraussetzungen für die Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft hier nicht vor.

Das gegen den Vater unter dem Aktenzeichen pp. bei Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach geführte Ermittlungsverfahren wurde nämlich bereits durch Bescheid vom 10.02.20120 nach § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt, so dass sich die Frage einer zeugenschaftlichen Vernehmung der Kinder in diesem Verfahren nicht mehr stellt und für die beantragte Ergänzungspflegschaft das Rechtschutzbedürfnis fehlt. Ausschlaggebend für die Verfahrenseinstellung war, dass sich weder aufgrund der im Wohnumfeld gesicherten Spuren noch aufgrund der Aussagen der bei dem Vorfall verletzten Kindesmutter aufklären ließ, wie es zu ihrem Sturz vom Balkon gekommen ist. Die Mutter hat von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht und auch gegenüber Rettungskräften, Krankenhauspersonal und Ärzten keine Spontanäußerungen getätigt, die auf eine sichere Täterschaft des Vaters schließen lassen. Die beim Eintreffen der Rettungskräfte in der Wohnung anwesenden Angehörigen – ein Onkel und ein Neffe des Vaters – haben ebenfalls von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Die in dem Mehrfamilienhaus lebenden Nachbarn haben von einer dem Vorfall mutmaßlich vorausgegangenen Auseinandersetzung der Ehegatten nichts mitbekommen. Die betroffenen Kinder haben im Rahmen ihrer familiengerichtlichen Anhörung am 27.01.2020 ebenfalls keine Angaben zu einer möglichen Auseinandersetzung der Eltern am 31.12.2019 machen können (oder wollen). Ebensowenig gab es im Rahmen ihrer vorübergehenden, vom 10.01.2020 bis zum 27.01.2020 währenden Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung sowie gegenüber ihrem Verfahrensbeistand spontane Äußerungen der Kinder, die Rückschlüsse darauf zulassen, was sich in der Nacht vom 31.12.2019 in der Familienwohnung zugetragen hat.

Zudem steht der Einrichtung der Ergänzungspflegschaft die fehlende Aussagebereitschaft der Kinder entgegen. Nach h. M. hat die Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft zu unterbleiben, wenn feststeht, dass die Kinder gegen den beschuldigten Elternteil nicht aussagen werden, es also offenkundig an ihrer Aussagebereitschaft fehlt (Zum Meinungsstand: OLG Hamburg NJW 2020, 624 Rn. 21-22 m. w. Nachw.; OLG Bremen NJW-RR 2017, 455 Rn. 18-21). Hier haben die Kinder anläßlich ihrer Anhörung im Parallelverfahren 94 F 3/20 einerseits angegeben, zum Zeitpunkt des Sturzes der Mutter geschlafen und daher nichts mitbekommen zu haben. Gleichzeitig haben sowohl pp. auch pp. betont, dass Geheimnisse aus der Familie nicht nach draußen weitergegeben werden dürften und dass sie daher auch dem Gericht keine Geheimnisse verraten würden. Aufgrund dieser „Familienehre“ kann nicht mit einer entsprechenden Aussagebereitschaft der Kinder zu den angenommen strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen des Vaters gerechnet werden.“

Interessant auch die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten der Eltern:

WAuch eine Erstattung außergerichtlicher Kosten (hier: Anwaltskosten beider Eltern) ist nicht gerechtfertigt. Zwar konnte dem Vater nicht mit einer für eine strafrechtliche Verurteilung ausreichenden Sicherheit nachgewiesen werden, dass er die Mutter im Zuge einer tätlichen

Auseinandersetzung vom Balkon gestoßen hat. Aufgrund der Beschaffenheit des Balkongeländers ist ein versehentlicher Sturz jedoch extrem unwahrscheinlich. Wegen des widersprüchlichen und ausweichenden Aussageverhaltens aller Beteiligten und der von Anfang an mangelnden Kooperationsbereitschaft der Eltern – die Mutter schützte mangelnde Sprachkenntnisse vor; der Vater stellte sich beim Eintreffen der Rettungskräfte schlafend; beide Elternteile machten einander widersprechende Angaben zur Anwesenheit des Onkels und des Neffens des Vaters – war die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen daher gerechtfertigt. Ebenso konnte das Jugendamt bei Beantragung der Ergänzungspflegschaft am 14.01.2020 noch davon ausgehen, dass strafrechtliche Ermittlungen gegen den Vater geführt werden und dass die betroffenen Kinder dort als Zeugen vernommen werden und ggf. bereit sind, Angaben zu machen. Dass der angefochtene Beschluss am 11.03.2020 noch erlassen wurde, hängt letztlich auch damit zusammen, dass der Vater es nicht für nötig befunden hat, das Familiengericht im Rahmen des damals noch anhängigen Hauptsacheverfahrens pp. über die seinem Verfahrensbevollmächtigten bereits am 11.02.2020 übermittelte Einstellungsnachricht zu unterrichten. Die Mutter dürfte, nachdem sie sich offenkundig nicht von dem Vater trennen will, ebenfalls über die Einstellung des Strafverfahrens informiert gewesen sein und hätte ebenfalls Anlass gehabt, diese ihr günstige Tatsache umgehend dem Familiengericht mitzuteilen, um weitere Maßnahmen nach § 1666 BGB abzuwenden.“

OWi II: Das OLG Koblenz nach dem VerfGH Rheinland-Pfalz-Urteil, oder: Bloß nicht zum BGH

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Wir erinnern uns 🙂 . Der VerfGH Rheinland-Pfalz hatte in dem VerfGH Rheinland-Pfalz, Urt. v. 15.01.2020 – VGH B 19/19 – u.a. „moniert“, dass das OLG Koblenz „sein“ Verfahren, über das der VerfGH zu entscheiden hatte, nicht wegen Abweichungen von der Rechtsprechung anderer OLG dem BGH zur Entscheidung vorgelegt hatte. Wer nun gehofft/geglaubt hat, dass das vom OLG Koblenz nach Aufhebung und Zurückverweisung des Verfahrens vom VerfGH an das OLG „nachgeholt“ werden würde, der wird enttäuscht (sein).

Denn das OLG Koblenz hat im OLG Koblenz, Beschl. v. 20.05.2020 – 2 OWi 6 SsRs 118/19 -, über den auch schon der Kollege Gratz berichtet hat, – vorsichtig ausgedrückt – einen anderen Weg gewählt. Es hat nun die (wieder) bei ihm anhängige Rechtsbeschwerde zugelassen und an das AG zurückverwiesen. Begründung:

„Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, das den Beschluss des Senats vom 6. Juni 2019 gem. § 49 Abs. 3 VerfGHG aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverweisen hat, war der Senat zu erneuter Entscheidung über den Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde berufen.

Der zulässige, insbesondere fristgerecht eingereichte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, gegen das Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 4. Februar 2020 hat in der Sache nunmehr im Lichte der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz Erfolg.

Wie die Urteilsausführungen des Verfassungsgerichtshofs erkennen lassen, ist die nicht gewährte Einsicht in die nicht bei den Akten befindliche Aufbauanleitung des Messgeräts durch das Amtsgericht Wittlich mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar und mit der bisherigen Rechtsprechung der anderen Obergerichte nicht vereinbar (KG 3 Ws (B) 596/12 vom 07.01.2013, OLG Naumburg 2 Ss (Bz) 100/12 vom 05.11.2012, OLG Karlsruhe 2 Rb 8Ss 839/17 vom 12.01.2018). Der Senat schließt sich nach erneuter Bewertung der Sach- und Rechtslage, insbesondere unter Berücksichtigung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz, der Rechtsauffassung der vorbenannten Entscheidungen ausdrücklich an.

Folgerichtig war das Urteil des Amtsgerichts Wittlich mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben und zur erneuten Entscheidung unter Beachtung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens an das Amtsgericht Wittlich zurückzuverweisen. Spätestens auf einen entsprechenden Antrag hin wäre das Gericht daher gehalten, die Aufbauanleitung für den Einbau des Messgeräts Vitronic Poliscan FM1 in einen Enforcement Trailer bei der zentralen Bußgeldstelle anzufordern und der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.

Mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt (2 Ss Owi 173/13 vom 12.04.2013) liegt, wie die Generalstaatsanwaltschaft im Votum vom 16. März 2020 ausgeführt hat, keine dieser einheitlichen Rechtsprechung der vorgenannten Oberlandesgerichte widersprechende Entscheidung vor, da in dem genannten Beschluss die Frage nach dem Einsichtsrecht nach nicht bei der Akte befindlicher Dokumente dahingestellt gelassen wurde. Insofern war eine Übertragung auf den Senat zur Vorlage der Sache an den Bundesgerichtshof nicht angezeigt.“

Nun ja, so kommt man mehr oder weniger elegant an der Vorlage beim BGH vorbei. Es ist und bleibet spannend zu sehen, was den OLG alles einfällt, um bloß nicht vorzulegen.

Corona I: Absehen vor weiterer Vollstreckung, oder: „Im Knast bist du vor Corona sicher“

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Der Kollege Vetter hat in der vergangenen Woche über den OLG Hamm, Beschl. v.  07.05.2020 – III-3 Ws 157/20 – berichtet (vgl. hier), zu dem bislang nur die PM des OLG Hamm vorliegt. Es geht in dem Beschluss um Haft und die Gefahr der Ansteckung in Corona-Zeiten während/in der Haft. Dazu das OLG Hamm kurz gefasst: „Kein erhöhtes Corona-Risiko in nordrhein-westfälischen Gefängnissen“.

Das gilt aber nicht nur für Nordrhein-Westfalen, sondern z.B. wohl auch in Rheinland-Pfalz. Dazu hat mir die Kollegin Juharos aus Trier den OLG Koblenz, Beschl. v. 29.04.2020 – 2 VAs 3/20 – geschickt. Das OLG hat über das Absehen von der weiteren Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Hinblick auf die Ausweisung eines Ausländers – also § 456a Abs. 1 StPO – entschieden. Ich lasse mal die Frage, ob man aus dem Beschluss entnehmen muss, dass bei Bandendelikten von Ausländern ein Absehen von der weiteren Vollstreckung (fast) immer ausscheidet, außen vor.

Nicht konform kann man m.E. mit dem Beschluss jedenfalls nichts gehen, wenn es dort heißt.

„Anlass für eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen des Verurteilten im Schreiben seiner Verteidigerin vom 27. März 2020. Hinweise dafür, dass der Verurteilte im Vollzug einer erhöhten Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus (Covid-19) als in Freiheit ausgesetzt wäre, sind nicht erkennbar. Im Gegenteil erscheint das Risiko einer Erkrankung im Hinblick darauf, dass soziale Kontakte der Gefangenen im Strafvollzug eher minimiert sind und seitens der Justizvollzugsanstalten in Rheinland-Pfalz Vorkehrungen bis hin zur Quarantäne getroffen wurden, sogar eher geringer zu sein, als für die sich auf freiem Fuße befindenden Menschen.“

Das hätte man m.E. auch anders formulieren können. Im Übrigen könnte man mit dem Argument jede Strafaussetzung zur Bewährung nach Teilverbüßung ablehnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das OLG das sagen wollte.