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OWi II: Qualifizierter Rotlichtverstoß/Haltelinie, oder: Google Maps oder Google Earth sind „allgemeinkundig“

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Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Düsseldorf. Im OLG Düsseldorf, Beschl. v. 05.01.2021 – IV-2 RBs 191/20 – hat das OLG über die Verurteilung wegen eines Roltichtverstoßes entschieden. Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässigen Missachtens des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage verurteilt. Das OLG hat die Verurteilkung gehalten, wobei es interessante Ausführungen zu den Urteilsgründen macht:

„Zu der Beanstandung, das Amtsgericht habe bei der Feststellung der schon länger als eine Sekunde andauernden Rotlichtphase nicht auf das Überfahren der Haltelinie abgestellt, bemerkt der Senat:

Zutreffend ist, dass für die Berechnung einer qualifizierten Rotlichtzeit von mehr als einer Sekunde der Zeitpunkt maßgeblich ist, in dem die Haltelinie überfahren wird (vgl. BayObLG NZV 1994, 200; OLG Köln NZV 1995, 327; OLG Frankfurt NJW 1995, 1229; OLG Celle VRS 91, 312; OLG Oldenburg ZfSch 1996, 433; OLG Hamm DAR 2008, 35). Dem wird die getroffene Feststellung, dass die Lichtzeichenanlage „zum Zeitpunkt des Passierens der Lichtzeichenanlage“ für den Betroffenen schon länger als eine Sekunde Rotlicht zeigte, nicht gerecht.

Indes darf diese Formulierung nicht isoliert betrachtet werden. Das Amtsgericht hat nämlich ferner festgestellt, dass die beiden Polizeibeamten, die das Verkehrsgeschehen an der Ampelkreuzung im Rahmen einer gezielten Verkehrsüberwachung beobachteten, seit dem Umspringen der Lichtzeichenanlage auf Rotlicht bereits ca. drei Sekunden gezählt hatten (Zeuge H: „einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig“ bzw. Zeuge B: „eins Mississippi, zwei Mississippi, drei Mississippi“), bevor der sich durch Aufheulen des Motors ankündigende Pkw des Betroffenen in deren Blickfeld erschien und die Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage passierte.

Der Abstand der Haltelinien von Lichtsignalanlagen soll in der Regel 3,50 m betragen, mindestens aber 2,50 m (vgl. Richtlinien für die Markierung von Straßen, Teil 1 Abmessungen und geometrische Anordnung von Markierungszeichen, Nr. 4.6.3, VkBl. 1993, 728). In Nr. IV.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu den §§ 39 bis 43 StVO (VwV-StVO) ist bestimmt, dass Markierungen nach den Richtlinien für die Markierung von Straßen (RMS) auszuführen sind. Schon nach diesen für die Straßenverkehrsbehörde verbindlichen Vorschriften liegt mangels straßenbaulicher Besonderheiten (etwa einer zwischen Haltelinie und Lichtzeichenanlage einmündenden Seitenstraße) nahe, dass der Abstand zwischen Haltelinie und Lichtzeichenanlage vorliegend jedenfalls nicht wesentlich von der maßgeblichen Richtlinie abweicht und im Bereich weniger Meter einzuordnen ist.

Die konkrete örtliche Gegebenheit lässt sich durch Rückgriff auf im Internet allgemein zugängliche Luftbildaufnahmen (Google Maps oder Google Earth) leicht feststellen und ist daher als allgemeinkundig anzusehen. Allgemeinkundige Tatsachen stehen der Kenntnisnahme durch das Rechtsbeschwerdegericht offen, ohne dass es ihrer Darlegung im tatrichterlichen Urteil bedarf (vgl. BGHSt 49, 34, 41 = NJW 2004, 1054, 1056; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 337 Rdn. 25). Allgemeinkundig sind alle Tatsachen und Erfahrungssätze, von denen verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne Weiteres Kenntnis haben oder über die sie sich aus allgemein zugänglichen Quellen unschwer unterrichten können (vgl. Eschelbach in: BeckOK, StPO, 38. Edition, § 261 Rdn. 27 m.w.N.). Zu den Quellen der Allgemeinkundigkeit gehören auch Homepage-Abfragen und sonstige Erkenntnisse aus dem Internet (vgl. KG Kommunikation & Recht 2009, 807, 808; OLG Düsseldorf [3. Senat für Bußgeldsachen] BeckRS 2011, 6244). Dementsprechend können nicht nur im Internet abrufbare Straßenkarten und Stadtpläne, sondern auch die bei Google Maps oder Google Earth abrufbaren Luftbildaufnahmen als Quelle für allgemeinkundige Erkenntnisse zu örtlichen Gegebenheiten herangezogen werden (vgl. FG Hamburg BeckRS 2015, 95121).

Die Luftbildaufnahme der von dem Betroffenen in Oberhausen in Fahrtrichtung Innenstadt überquerten Ampelkreuzung B-Straße / D-Straße kann bei Google Maps unter Benutzung der Zoomfunktion in derart hoher Auflösung abgerufen werden, dass die Fahrbahnmarkierungen, insbesondere die für den Betroffenen maßgebliche Haltelinie, und der dortige Standort der Lichtzeichenanlage deutlich erkennbar sind. Der Abstand zwischen Haltelinie und Lichtzeichenanlage ist kürzer als die aus der Vogelperspektive abgebildeten Pkws und beträgt in Relation hierzu jedenfalls nicht mehr als 4,00 m.

Bei diesem geringen Abstand ergibt sich aus den getroffenen Feststellungen unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Polizeibeamten mit ihrer jeweiligen Methode bereits drei Sekunden seit Beginn der Rotlichtphase gezählt hatten, bevor der durch Aufheulen des Motors zunächst phonetisch wahrnehmbare Pkw des Betroffenen für sie sichtbar wurde und die Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage passierte, zwangsläufig, dass die Rotlichtphase schon beim Überfahren der Haltelinie länger als eine Sekunde andauerte.“

Wenn die Ampel von Grün auf Gelb schaltet, muss man anhalten

© sablin - Fotolia.com

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Das OLG Hamm hatte sich im OLG Hamm, Urt. v. 30.05.2016 – 6 U 13/16 – mit einem Verkehrsunfall zu beassen, zu dem es auf einer ampelgeregelten Kreuzung gekommen war. Der Kläger wollte mit seinem Motorroller die Kreuzung in geradeaus Richtung zu überqueren. Er fuhr in den Kreuzungsbereich ein, als die für ihn geltende Ampel von Rot/Gelb auf Grün umsprang. Aus der Gegenrichtung näherte sich der Beklagte mit einem Sattelzug auf der Linksabbiegespur. Der Beklagte beabsichtigte, auf der Kreuzung nach links einzubiegen. Er fuhr fuhr in den Kreuzungsbereich ein, nachdem die für ihn geltende Ampel von Grün auf Gelb umgesprungen war. Der Kläger leitete eine Vollbremsung ein, geriet mit seinem Motorroller in eine Schräglage und kollidierte mit dem Unterfahrschutz des Sattelaufliegers. Er zog sich zum Teil schwere Verletzungen – einschließlich des Verlustes der Milz – zu. Das Landgericht ist von einer Haftungsquote von 70 % zu Gunsten des Klägers ausgegangen und hat mit 30 % zu bewertendes klägerisches Mitverschulden angenommen. Das OLG sieht das genauso. Dazu der Leitsatz der Entscheidung:

Ein Wechsel der Lichtzeichen einer Lichtzeichenanlage von Grün- auf Gelblicht ordnet an anzuhalten, wenn dies mit normaler Betriebsbremsung möglich ist. Gegen diese Regelung verstößt schuldhaft, wer nach einem Wechsel der Lichtzeichen von grün auf gelb mit einem Sattelzug in den Kreuzungsbereich einfährt, obwohl ihm mit normaler Betriebsbremsung ein Anhalten zwar erst jenseits der Haltelinie, aber noch vor der Lichtzeichenanlage möglich ist.

Und zur Haftungsquote:

„3) Es liegen auch keine Fehler des Landgerichts bei der Bildung der Haftungsquoten vor. Da der Unfall für keine Partei unabwendbar war, kommt es gem. § 17 I, II StVG für die Frage der Haftung auf die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge unter Berücksichtigung der allgemeinen Betriebsgefahr der betreffenden Fahrzeuge an. Dabei sind nur unstreitige oder erwiesene Tatsachen zu berücksichtigen, soweit sie sich ursächlich auf den Unfall ausgewirkt haben (vgl. Hentschel-König, a. a. O., StVG § 17 Rn. 4 ff. m. w. N.). Im Rahmen der von ihm zu treffenden Abwägung ist das Landgericht zutreffend von einer überwiegenden Haftung der Beklagten ausgegangen, wobei die festgestellte Quote von 70% nicht zu beanstanden ist.

a) Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht das schuldhafte Verhalten des Beklagten zu 1) als kausal für die Entstehung des Verkehrsunfalls angesehen hat. Der Rechtsansicht der Beklagten, der Kläger habe durch sein „leichtsinniges“ Verhalten die Kausalkette „unterbrochen“, kann nicht im Ansatz gefolgt werden. Das Fehlen eines Zurechnungszusammenhangs – worauf die Beklagten offensichtlich abstellen wollen – kommt nur in Betracht, wenn sich der Kläger durch das verkehrswidrige Einfahren des Beklagten zu 1) in den Kreuzungsbereich nicht zum Bremsen hätte herausgefordert fühlen dürfen und der Unfall dadurch vermieden worden wäre (vgl. Hentschel-König, a. a. O., StVG § 7 Rn. 11 m. w. N.) oder wenn sich der Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1) nicht ausgewirkt hat, weil der Schaden auch ohne diesen allein durch das Verhalten des Klägers eingetreten wäre (vgl. Hentschel-König, a. a. O., Einl., Rn. 110 f. m. w. N.). Dafür bestehen keine Anhaltspunkte.

b) Im Verhältnis zum unfallursächlichen Verschulden des Beklagten zu 1) stellt sich das vom Landgericht festgestellte Verschulden des Klägers als weniger gewichtig dar.

Dem Kläger ist nach den unangefochtenen Feststellungen des Landgerichts zwar vorzuwerfen, dass er nach seinem sog. fliegenden Start beim Umspringen der für ihn geltenden Lichtzeichen von rot/gelb auf grün darauf vertraut hat, die Kreuzung ungehindert überqueren zu können, ohne auf den sich unberechtigt im Kreuzungsbereich bewegenden und für ihn erkennbaren Sattelzug der Beklagten zu achten und sich deswegen nicht so verhalten zu haben, wie es von einem Verkehrsteilnehmer, der eine Gefährdung Anderer möglichst auszuschließen hat, erwartet werden kann. Dabei kann ihm jedoch nur einfache Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, da er – wie der Sachverständige in den mündlichen Ergänzungen zu seinem Gutachten im Senatstermin nachvollziehbar ausgeführt hat – jedenfalls in dem Zeitpunkt, in welchem für ihn sicher erkennbar war, dass der Sattelzug ihm den Vorrang streitig machen und in seine Fahrspur einfahren würde, mit einer Vollbremsung angemessen reagiert hat.

Demgegenüber hat der Beklagte zu 1) durch sein verkehrswidriges Einfahren in den Kreuzungsbereich die eigentliche Ursache für das Zustandekommen des Verkehrsunfalls gesetzt.

c) Soweit die Beklagten die Rechtsansicht vertreten, dass jedenfalls die allgemeine – verschuldensunabhängige – Betriebsgefahr des Rollers diejenige des vom Beklagten zu 1) gefahrenen Sattelzuges übertreffe, kann dem ebenfalls nicht gefolgt werden.

Zwar ist die allgemeine Betriebsgefahr von motorisierten Zweirädern grundsätzlich infolge ihrer Beschleunigungsfähigkeit und Instabilität erhöht (vgl. Hentschel-König, a. a. O., StVG § 7 Rn. 7 m. w. N.). Vorliegend bestand jedoch die Besonderheit, dass die Geschwindigkeit des vom Kläger gelenkten Motorrollers auf lediglich 25 km/h gedrosselt war, mit der Folge, dass sich dessen Beschleunigungsfähigkeit – wenn überhaupt – nur geringfügig auf das Unfallgeschehen auswirken konnte.

Demgegenüber war das allgemeine Gefährdungspotential des vom Beklagten zu 1) gelenkten Sattelzuges aufgrund seiner Bauart, insbesondere seiner Abmessungen und seines Gewichts als überdurchschnittlich hoch zu bewerten. Dafür spricht auch der Umstand, dass der Beklagte zu 1) nach Beginn des Abbiegevorgangs seine gesamte Aufmerksamkeit auf den von ihm gelenkten Sattelzug richten musste, um nicht beim Abbiegen – wie der Sachverständige anschaulich dargelegt hat – die Straßenanlagen zu zerstören. Dieser Umstand hat sich auch ursächlich auf das Unfallgeschehen ausgewirkt, denn dadurch war der Beklagte zu 1) nach Beginn seines Abbiegemanövers faktisch daran gehindert, den Querverkehr weiterhin zu beobachten und auf das Fahrmanöver des Klägers angemessen zu reagieren.“