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OWi I: Einsicht in die Lebensakte, Geräteakte und in sonstige Unterlagen, oder: BVerfG 2 BvR 1616/18 gilt

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Heute mal wieder ein OWi-Tag. Dazu habe ich länger keine Entscheidungen vorgestellt. Ist derzeit aber auch recht ruhig „an der Front“ :-).

Zunächst stellt ich den OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.04.2021 – 1 OWi 2 SsRs 173/20 -, über den ja auch schon der Kollege Gratz im VerkehrsrechtsBlog berichtet hat. Er nimmt noch einmal zu den Auswirkungen der BVerfG-Entscheidung vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – Stellung. Das OLG Zweibrücken erstreckt diese Rechtsprechung des BVerfG auch auf die sog. Lebensakten usw.:

„2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Das Amtsgericht hätte auf den Hinweis der Verteidigung, zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung immer noch keine Einsicht in vorhandene Wartungs- und Instandsetzungsnachweise zum verwendeten Messgerät (mit Lebensakte/Garantiekarte, falls vorhanden) erhalten zu haben, dem gleichzeitig gestellten Aussetzungsantrag stattgeben müssen. Der Senat schließt sich insoweit der einheitlichen obergerichtlieben Rechtsprechung an, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Absatz 1 Satz 1 MRK dem Betroffenen das Recht zuspricht, dass auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung zu stellen sind (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020- 2 BvR 1616/18, Rn 51; OLG Koblenz, Beschluss vom 20. Mai 2020 – 2 OWi 6 SsRs118/19, juris Rn 9 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 12. Januar 2020-2 Rb 8 Ss 837/17, juris Rn 13; OLG Naumburg, Beschluss vom 5. November2012- 2 Ss (Bz) 100/12, DAR 2013, 37; KG, Beschluss vom 7. Januar 2013- 3 Ws (b) 596-12/162 Ss 178/12, DAR 2013, 211). Hierzu gehören in Verkehrsordnungswidrigkeitensachen auch die vorhandenen Wartungs- und Instandsetzungsnachweise im Eichzeitraum (sog. “Lebensakte”, “Reparaturbuch”, “Gerätebuch” oder “Gerätebegleitkarte”, vgl. Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09. Dezember 2015 – 2 Ws 221/15, juris Rn. 10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn. 31; LG Trier, Beschluss vom 14. September 2017 – 1 Qs 46/17, juris Rn. 38). Denn bei einem standardisierten Messverfahren – die Messmethode des verwendeten Messgeräts ES 3.0 ist als solches anerkannt (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 16. Oktober 2009- 1 SsRs 71/09, juris Rn. 2) – sind an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte geringere Anforderungen zu stellen. Das Tatgericht ist nur dann gehalten, dass Messergebnis zu überprüfen, und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind (vgl. BVerfG a.a.O. Rn 42 f. m.w.N.). Dem Betroffenen ist durch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und entsprechende Beweisanträge, Beweisermittlungsanträge oder Beweisanregungen stellen, in prozessual ausreichender Weise Gelegenheit gegeben, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983, 2 BvR 864/81, juris Rn 68; BGH, 4 StR 627/92. a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 13. Juni 2018, 3 Ss OWi 626/18, juris Rn 12). Um jedoch, wie gefordert, konkrete Anhaltspunkte vortragen zu können, muss der Betroffene die Möglichkeit haben, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlungen entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (vgl. BVerfG, 2 BvR 1616/19, Rn. 51). Der Beiziehungs- und Aussetzungsantrag des Betroffenen war insoweit so zu verstehen, dass es dem Betroffenen ausschließlich um die Zugänglichmachung der nicht bei der Akten befindlichen Informationen ging, um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messergebnisses zu haben. Die prozessualen Möglichkeiten des Betroffenen wurden somit vorliegend eingeschränkt, da erst durch Zugänglichmachung der begehrten Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen der Betroffene auch, in der Lage gewesen wäre, Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messgeräts zu erkennen und zu benennen. § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz normiert eine Verpflichtung, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät herzustellen und aufzubewahren. Unabhängig von der Frage, welche Bezeichnung diese Unterlagen haben (Lebensakte, Reparaturbuch, Gerätebuch oder Gerätebegleitkarte o.ä.) ist zu erwarten, dass entsprechende Vorgänge dokumentiert sind und jedenfalls in dem in§ 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz angegebenen Mindestzeitraum aufbewahrt werden. Daher wäre das Amtsgericht angehalten gewesen, sich um die Herausgabe entsprechender Unterlagen, zumindest sich aber darum zu bemühen, eine Aussage darüber zu erhalten, ob Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät vorliegen. Der tatsächlichen Nichtübersendung der angeforderten Unterlagen durch die Verwaltungsbehörde ohne weitere Begründung kann eine solche Erklärung nicht entnommen werden. Dem Ansinnen des Betroffenen war deutlich zu entnehmen, dass die Verteidigung die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen begehrte, um die ordnungsgemäße Messung überprüfen zu können. Diese Unterlagen hat die Verteidigung trotz mehrfachen Bemühens und Herbeiführens einer gerichtlichen Entscheidung zu ihren Gunsten weder seitens der Verwaltungsbehörde noch seitens des Amtsgerichts überlassen bekommen. Spätestens auf den entsprechenden Antrag der Verteidigung hin wäre das Tatgericht gehalten gewesen, die Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen für das verwendete Messgerät bei der Bußgeldstelle anzufordern und der Verteidigung zur Verfügung zu stellen.“