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Halbstrafe ohne vorherige Vollzugslockerungen, oder: Kein Nachteil aus Prognosedefizit…..

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Und in der dritten Entscheidung, dem OLG Dresden, Beschl. v. 27.01.2020 – 4 St 1/16, den mir der Kollege Franek aus Dresden gesandt hat, nimmt das OLG Stellung zur Aussetzung der Vollstreckung des Restes einer Gesamtfreiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB auch ohne vorherige Erprobung des Verurteilten in Lockerungen.

Verurteilt worden ist der Verurteilte u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und zur Sachbeschädigung, in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, gefährlicher Körperverletzung versuchter gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Beihilfe zum versuchten Mord in vier tateinheitlichen Fällen, zum Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, zur gefährlichen Körperverletzung und zur Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Jahren verurteilt. Das Urteil ist seit dem 17.05. 2019 rechtskräftig.

Der Verurteilte befand sich seit seiner Festnahme am 19.04.2016 zunächst in Untersuchungshaft und nach Eintritt der Rechtskraft in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Dresden. Zwei Drittel der Strafe waren am 19.12.2019 verbüßt. Das Strafende ist für den 18.10.2021 vorgemerkt.

Die JVA hat eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten mit Blick auf seine positive Haftentwicklung, sein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten, den Erstverbüßerstatus und seinen geklärten sozialen Empfangsraum befürwortet. Der GBA hat beantragt, die Reststrafenaussetzung abzulehnen. Das OLG hat ausgesetzt:

„Es kann in einer Gesamtwürdigung der zutage getretenen Umstände unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden, die Vollstreckung des Restes der Gesamtfreiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB auch ohne vorherige Erprobung des Verurteilten in Lockerungen zur Bewährung auszusetzen.

Der vor der Anlassverurteilung bisher lediglich wegen eines Verstoßes gegen das Sächsische Versammlungsgesetz mit einer niedrigen Geldstrafe vorbelastete Verurteilte verbüßt erstmals eine Freiheitsstrafe.

Das bisherige Vollzugsverhalten des Verurteilten ist beanstandungsfrei. Die Justizvollzugsanstalt beschreibt den Verurteilten als fleißig und ordentlich. Er pflege einen guten Umgang mit Mtgefangenen und zeige sich gerade gegenüber älteren Gefangenen als sehr sozial und hilfsbereit. Sowohl seine Aufgaben als Haus- und Hofreiniger als auch seine Arbeit seit Oktober 2019 in einem Unternehmerbetrieb nehme der Verurteilte pünktlich und ohne disziplinarische Auffälligkeiten wahr.

Der Verurteilte hat auch die ihm im Rahmen der Vollzugsgestaltung angebotenen Maßnahmen wahrgenommen. Ausweislich der ergänzenden Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 16. Januar 2020 habe der Verurteilte in der Zeit von März bis Oktober 2019 am Trainingsprogramm „Problemlösefertigkeiten“ teilgenommen, in der er Verantwortung für sein zur Verurteilung führendes Handeln übernommen und glaubhaft zum Ausdruck gebracht habe, dass ihm klar geworden sei, damals Grenzen weit überschritten zu haben. Der Verurteilte habe sich dabei deutlich von jeglicher Gewaltanwendung distanziert.

Der Verurteilte habe auch von September 2019 bis Oktober 2019 an einem sozialen Gruppentraining (SOTRA) des externen Anbieters „outlaw gGmbH“ teilgenommen, bei dem er Gewalt zunehmend nicht mehr als Konfliktlösungsmöglichkeit gesehen und eine von demokratischen Grundzügen geprägte Position eingenommen habe.

Weder in Gesprächen mit dem sozialen Dienst noch bei Haftraumkontrollen wurden Äußerungen oder wahrgenommen, die auf radikalisierendes oder rechtsextremes Gedankengut schließen lassen.

Der Verurteilte führt regelmäßig Gespräche mit dem Psychologischen Dienst. Aus der Haft heraus hat er sich um eine erneute Erwerbstätigkeit als Pfleger beim Deutschen Roten Kreuz beworben. Nach einer Entscheidung über eine Strafrestaussetzung werde er zu einem Gespräch geladen. Dieser angestrebten Tätigkeit kommt nach Bewertung der Sachverständigen Dr. ein hohes an selbststeuerstabilisierender Funktion zu.

Die Sachverständige sieht ein geschätztes Rückfallrisiko von unter 15 %. Der prognostisch bedeutsame Risikobereich beziehe sich einerseits auf die Persönlichkeitsstruktur des Verurteilten, auf die vor der Delinquenz bestehende Gruppenzugehörigkeit und andererseits auf die von dem Verurteilten für eine Zeit nach seiner Haftentlassung eher gering bestehende soziale Einbindung in Freundschaften und Bekanntschaften, die nicht der Gesinnungsgruppierung angehören. Die Sachverständige hat in ihrem schriftlichen Gutachten noch vor einer Haftentlassung und einer Rückkehr des Verurteilten in die eheliche Wohnung und auch in sein ehemaliges soziales Umfeld Vollzugslockerungen als absolut erforderlich angesehen. In der Anhörung hat sie ihre Bewertung jedoch dahin korrigiert, dass Lockerungen nur eine Empfehlung seien, um es dem Verurteilten leichter zu machen.

Zu der Gewährung von Lockerungen hat sich die Justizvollzugsanstalt bisher jedoch zurückhaltend geäußert. Während sie auf der einen Seite eine vorzeitige Entlassung befürwortet, hat sie in ihrer Anlassdiagnostik eine Ungeeignetheit für die Gewährung von Lockerungen gesehen, gleichwohl aber stufenweise Lockerungen empfohlen. Ein Vollzugsplan, der sich zu Lockerungen äußert, liegt bisher nicht vor, ist durch die Justizvollzugsanstalt vor einer Entscheidung nach § 57 StGB im vorliegenden Fall nicht vorgesehen und bedürfte insoweit auch noch der Zustimmung der Aufsichtsbehörde.

Das mit dem späten Eintritt der Rechtskraft und den noch nicht gewährten Lockerungen entstandene Prognosedefizit darf im vorliegenden Fall jedoch nicht zum Nachteil des Verurteilten verwertet werden.

Es besteht auch kein Anlass, aufgrund dieses Prognosedefizites von der Regelung in § 454a Abs. 1 StPO Gebrauch zu machen. Die Vorschrift ermöglicht es dem Vollstreckungsgericht, dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen über eine effektive Begrenzung der nachteiligen Folgen des Prognosedefizits praktische Wirksamkeit zu verleihen, ohne damit unverantwortbare Risiken auf die Allgemeinheit zu verlagern, indem es den zukünftigen Entlassungszeitpunkt so festlegt, dass der Vollzugsbehörde eine angemessene Erprobung des Verurteilten in Lockerungen möglich bleibt.

Zwar kommt dem von Verfassungs wegen ohnehin hoch zu veranschlagenden Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor dem Hintergrund des mangels Erprobung bestehenden Prognosedefizits gesteigerte Bedeutung zu. Die Verwertbarkeit des Umstandes fehlender Erprobung bei der Entscheidung über die Aussetzung generell auszuschließen, würde ein Risiko auf die Allgemeinheit verlagern, das im Einzelfall erheblich sein kann. Dem hat das Bundesverfassungsgericht Rechnung getragen und seine Aussage, dass Vollzugslockerungen von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung sind, im Kontext der lebenslangen Freiheitsstrafe um die Feststellung ergänzt, dass eine Erprobung in Lockerungen der (Entscheidung über die) Aussetzung des Strafrests in der Regel vorausgeht. Bei langen Haftzeiten zeigt sich typischerweise in besonderem die Notwendigkeit, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Lockerungen die Resozialisierungsfähigkeit des Gefangenen zu testen und ihn schrittweise auf die Freiheit vorzubereiten. Den in Freiheit nicht erprobten Gefangenen nach langen Jahren des Vollzugs unvorbereitet in die Freiheit zu entlassen, begründet für sich genommen einen erheblichen Risikofaktor für einen Rückfall (BVerfG, Beschluss vom 30. April 2009 – 2 BvR 2009/08 -, juris).

Im vorliegenden Fall kommt jedoch in einer Gesamtschau dem Umstand, dass der Verurteilte bisher nicht in Lockerungen erprobt werden konnte, nicht ein solches Gewicht zu, dass eine vorzeitige Entlassung in Frage gestellt ist. Die bisher verbüßte Haftzeit ist nicht so erheblich, dass einer vorzeitigen Entlassung typischerweise Lockerungen vorhergehen müssten. Der Verurteilte verbüßt erstmals eine Freiheitsstrafe. Damit spricht zunächst eine Vermutung dafür, dass der Vollzug seine Wirkung erreicht hat und dies der Begehung neuer Straftaten entgegenwirkt (vgl. Fischer, StGB 67. Aufl. § 57 Rdnr. 14 m.w.N.). Diese Vermutung wird auch nicht durch negative Umstände widerlegt. Der Verurteilte hat alle zur Erreichung des Vollzugsziels angebotenen Maßnahmen wirksam ergriffen. Ein sozialer Empfangsraum ist vorhanden. Die Zukunftsplanungen des Verurteilten erscheinen nicht unrealistisch. Noch vorhandene Restzweifel an einer künftigen Straffreiheit des Verurteilten können danach überwunden werden. Sie werden nicht dadurch unüberwindbar, dass Lockerungen bisher nicht gewährt worden sind.“

Erstverbüßerprivileg – keine Regel ohne Ausnahme

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In § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist das sog. Erstverbüßerprivileg normiert. Es sieht die Aussetzung einer zwei Jahre nicht übersteigenden Freiheitsstrafe vor, wenn der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt. Hintergrund für die Regel ist die Überlegung, dass der sog. Erstverbüßer schon von der Verbüßung von der Hälfte der festgesetzten Strafhaft so beeindruckt ist, dass ihn das von der Begehung weiterer Straftaten abhält.

Das ist die Regel. Aber auch hier gilt: Keine Regel ohne Ausnahme, wie der KG, Beschl. v. 04.12.2013 – 2 Ws 577/13 – zeigt. Das KG bestätigt mit ihm ältere Rechtsprechung und sagt:

„Der Senat bemerkt lediglich ergänzend, dass vorliegend die zugunsten eines Verurteilten geltende Vermutung, dass die erstmalige Verbüßung von Strafhaft ihn beeindruckt hat und von der Begehung weiterer Straftaten abhält (vgl. Senat, Beschluss vom 26. August 2010 – 2 Ws 472/10 – mit weit. Nachweisen), nicht für den Beschwerdeführer streitet. Denn die Erstverbüßerregel erfährt dann eine Einschränkung, wenn ein Verurteilter bereits vor der Anlasstat Untersuchungshaft erlebt hat, von der eine der Strafhaft ähnliche Wirkung ausgeht, und gleichwohl erneut straffällig geworden ist (vgl. Senat a.a.O. mit weit. Nachweisen). So liegt es hier. Denn der Beschwerdeführer befand sich im vorliegenden Verfahren vom 2. bis zum 30. Oktober 2012 in Untersuchungshaft und hatte bereits zuvor in der Zeit vom 4. September bis zum 1. Oktober 2012 eine Ersatzfreiheitsstrafe teilweise verbüßt, bevor er am 9. Januar 2013 die einschlägige Anlasstat beging. Dieses Verhalten zeigt, dass ihn die Warnfunktion des Freiheitsentzuges nicht erreicht hat. Im Übrigen erlaubt die erst kurze Verbüßungsdauer der für die neue Tat verhängten Strafe seit dem 25. Juli 2013 nicht den Schluss, der Verurteilte habe die seiner andauernden Delinquenz zugrunde liegenden Charaktermängel und Persönlichkeitsdefizite behoben (vgl. Senat, Beschluss vom 22. März 2010 – 2 Ws 179/10 – mit weit. Nachweisen).“