Im zweiten „Pflichti-Posting“ dann etwas aus dem Verfahren. Es geht um die Bestellung des Wahlanwalts, dem der Angeklagte das Vertrauen entzogen hat, als Pflichtverteidiger und um das einzuhaltende Verfahren. Folgender Sachverhalt:
Mit ihrer Anklageschrift wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten den sexuellen Missbrauch von Kindern u.a. in sieben Fällen vor. Der Angeklagte hatte bereits im Ermittlungsverfahren Rechtsanwalt A. zum Verteidiger gewählt.
Nach Zulassung der Anklageschrift zur Hauptverhandlung und Eröffnung des Hauptverfahrens bestimmte die Vorsitzende unter dem 25.08.2022 drei Termine zur Hauptverhandlung auf den 16., 22. und 25.11.2022. Die Termine waren zuvor dem Verteidiger des Angeklagten mitgeteilt worden, dieser hat keine Verhinderung angezeigt.
Die Hauptverhandlung wurde sodann am 16.11.2022, 29.11.2022, am 13.12.2022, am 04.01. und am 17.01.2023 durchgeführt. Fortsetzungstermin war auf den 31.01.2023 bestimmt.
Nach dem 5. Verhandlungstag teilte der Verteidiger dem Gericht unter dem 27.01.2023, einem Freitag, mit, dass der Angeklagte das Mandat mit sofortiger Wirkung gekündigt habe und das Mandatsverhältnis damit beendet sei. Weitere Ausführungen enthielt der Schriftsatz nicht.
Noch am selben Tag bestellte die Vorsitzende in Ansehung des bereits am folgenden Dienstag anstehenden nächsten Verhandlungstermin, an dem der Angeklagte sonst unverteidigt gewesen wäre, nach Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Neuruppin Rechtsanwalt A. zum Pflichtverteidiger, da dieser der zuvor vom Angeklagten gewählte Verteidiger gewesen sei und Gründe, die einer Beiordnung entgegenstehen könnten, namentlich eine endgültige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Verteidiger und dem Angeklagten, oder Gründe, die einer angemessenen Verteidigung des Angeklagten durch Rechtsanwalt A. entgegenstehen könnten, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich seien.
Am darauffolgenden Verhandlungstag legte der Angeklagte gegen die Pflichtverteidigerbestellung sofortige Beschwerde ein, Rechtsanwalt A. beantragte die Aufhebung seiner Bestellung sowie seine Entpflichtung. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten hatte mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 Ws 19/23 (S) – Erfolg:
„2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg, da der angefochtene Beschluss unter Verstoß gegen eine zwingende Verfahrensvorschrift zustande gekommen ist.
Der von der Verfassung verbürgte Anspruch auf ein rechtsstaatlich faires Verfahren umfasst das Recht des Beschuldigten, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen (vgl. BVerfGE 39, 238, 243; 68, 237, 255). In den Fällen der Pflichtverteidigung erfährt dieses Recht gemäß § 142 Abs. 1 Satz 3 StPO jedoch insoweit eine Einschränkung, als der Beschuldigte keinen unbedingten Anspruch auf Bestellung des von ihm gewünschten Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger hat. Im Übrigen bleibt jedoch der Anspruch des Beschuldigten auf Verteidigung durch einen Anwalt seines Vertrauens unberührt (vgl. BGH NStZ 1992, 247).
In diesem Anspruch ist der Angeklagte allerdings noch nicht dadurch verletzt worden, dass das Gericht den bisherigen Wahlverteidiger Rechtsanwalt A. zum Pflichtverteidiger bestellt hat.
Diese Entscheidung der Vorsitzenden lässt Ermessensfehler nicht erkennen. Der Umstand allein, dass der Angeklagte unter Hinweis auf das gestörte Vertrauensverhältnis Rechtsanwalt A. das Mandat entzogen hatte, macht dessen Beiordnung noch nicht verfahrensfehlerhaft. Denn ebenso wie die Erklärung des Anwalts, das Vertrauensverhältnis sei entfallen, für sich allein keine Verpflichtung des Vorsitzenden begründet, von seiner Bestellung zum Pflichtverteidiger abzusehen (vgl. BGHR StPO § 142 Abs. 1 Auswahl 2), hindert auch eine entsprechende Behauptung des Angeklagten nicht von vornherein die Bestellung des bisherigen Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger. Andernfalls hätte es der Angeklagte in der Hand, jederzeit unter Berufung auf ein fehlendes Vertrauensverhältnis zu seinem Verteidiger einen Verteidigerwechsel herbeizuführen und damit das Verfahren zu verzögern (vgl. OLG Düsseldorf JZ 1985, 100; BGHSt 39, 310 ff.).
Das Landgericht hat dem Angeklagten vorliegend indes nicht nach § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Gelegenheit gegeben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Die Anhörung des Angeklagten ist – anders als nach der früheren Regelung in § 142 Abs. 1 a. F. StPO – zwingend vorgeschrieben und deren Nichtbeachtung kann die Revision begründen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. Februar 2021 -5 RVs 3/21-); die Verpflichtung zur Anhörung besteht auch dann, wenn ein Pflichtverteidiger unverzüglich zu bestellen ist (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 142 Rdn. 17 ff.).
Für die erforderliche Bestellung eines Pflichtverteidigers während laufender Hauptverhandlung kann nichts anderes gelten, da das Gesetz nicht zwischen verschiedenen Verfahrensstadien unterscheidet und die zwingend vorgeschriebene Anhörung muss auch dann erfolgen, wenn der vormalige Wahlverteidiger nach gekündigtem Mandat zur Verfahrenssicherung zum Pflichtverteidiger bestellt werden soll, ohne dass dies vom Angeklagten beantragt worden ist.
Der Gesetzgeber hat offensichtlich in Kauf genommen, dass aufgrund des zwingenden Erfordernisses der Anhörung des Angeklagten geplante Hauptverhandlungstermine nicht stattfinden können, was zur Aussetzung der Hauptverhandlung oder zur Überschreitung der Unterbrechungsfristen des § 229 StPO führen kann, also auch Hauptverhandlungen, die bereits mehrere Verhandlungstage andauern und in denen eine umfangreiche Beweisaufnahme stattgefunden hat, ungeachtet etwaigen Zeugenschutzes abgebrochen werden müssen. Diesem Dilemma wird sich die Gerichtspraxis kaum entziehen können, da nicht für jedes Verfahren, in dem eine Verteidigung gemäß § 140 StPO notwendig ist, neben dem Wahlverteidiger ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger ist nämlich lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten (vgl. BGH, Beschluss vom 6. September 2022 – StB 36/22 –).
Die Missachtung des Anhörungs- und Bestimmungsrechts führt im vorliegenden Fall zur Aufhebung der Bestellung (vgl. Krawczyk, a.a.O., § 142 Rn. 26, § 143a Rn. 10; OLG Hamm, a.a.O.; OLG Saarbrücken a.a.O.; KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2022 – 5 Ws 67/22 –). Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Entscheidung des OLG München vom 17. Dezember 2009 – 2 Ws 1101/09 – zu einer möglichen Heilung der unterbliebenen Anhörung des Angeklagten auch nach der Gesetzesänderung Gültigkeit beansprucht. Eine ggf. mögliche Heilung der fehlerhaft ohne vorherige Anhörung erfolgten Beiordnung ist vorliegend jedenfalls nicht ersichtlich (vgl. OLG München NJW 2010, 1766).“