Ich hatte neulich über den VG Saarlouis, Beschl. v. 09.01.2020 – 5 L 1710/19 – berichtet (vgl. hier: Die Rohmessdaten bei der Fahrtenbuchauflage, oder: Wir folgen dem VerfGH Saarland nicht…..).
Das Posting endet mit: „Wahrscheinlich werden wir dazu dann aber etwas vom OVG Saarland hören. Die Richtung kann ich mir denken….“. Jetzt haben wir etwas dazu gehört. Denn inzwischen hat sich das OVG Saarland mit dem OVG Saarland, Beschl. v. 30.03.2020 – 1 B 15/29 – „gemeldet“. Und: Ich habe mich geirrt. Denn das OVG sagt:
„Nach § 10 Abs. 1 VerfGHG SL binden die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs die Verfassungsorgane des Saarlandes sowie alle saarländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden. Das gilt auch dann, wenn diese ggf. in der Rechtsprechung anderer Gerichte Kritik erfahren haben.“
und führt dazu aus:
„Das Vorbringen des Antragstellers in dem fristgerecht eingereichten Beschwerdebegründungsschriftsatz gibt Veranlassung, die erstinstanzliche Entscheidung antragsgemäß abzuändern.
Dem Antragsteller ist darin zuzustimmen, dass die an die obergerichtliche Rechtsprechung anderer Bundesländer angelehnte Argumentation des Verwaltungsgerichts, die Fahrtenbuchauflage sei offensichtlich rechtmäßig, angesichts der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes nicht tragfähig ist. Denn diese Argumentation lässt sich wegen der durch § 10 Abs. 1 VerfGHG SL vorgegebenen Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht damit begründen, dass das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung unter Anwendung eines standardisierten Messverfahrens mittels eines geeichten Messgeräts durch einen entsprechend geschulten Polizeibeamten gewonnen, und die Richtigkeit dieses Ergebnisses seitens des Antragstellers weder im Ordnungswidrigkeitenverfahren noch im streitgegenständlichen Verwaltungsverfahren bzw. im Rahmen des nunmehrigen gerichtlichen Verfahrens durch konkrete Einwände in Frage gestellt worden sei.
Der Verfassungsgerichtshof des Landes Saarland hat in seinem Urteil vom 5. Juli 2019 nach einer umfänglichen Beweisaufnahme betont, dass zu einem rechtsstaatlichen Verfahren aus Gründen der Transparenz und Kontrollierbarkeit jeder staatlichen Machtausübung die grundsätzliche Möglichkeit der Nachprüfbarkeit einer auf technischen Abläufen und Algorithmen beruhenden Beschuldigung gehöre. Das in der Garantie eines fairen gerichtlichen Verfahrens angelegte Grundrecht auf wirksame Verteidigung beziehe sich auch darauf, die tatsächliche Grundlage des erhobenen Vorwurfs auf ihr Vorliegen und ihre Validität prüfen zu dürfen. Sei nämlich ein Gericht im Rahmen von Massenverfahren befugt, sich auf standardisierte Beweiserhebungen zu stützen, ohne sie anlasslos hinterfragen zu müssen, so müsse zu einer wirksamen Verteidigung gehören, etwaige Anlässe, sie in Zweifel zu ziehen, recherchieren zu dürfen. Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens hätten keine normativ bindende Kraft, sondern stellten ähnlich antizipierten Sachverständigengutachten eine belastbare wissenschaftliche Grundlage einer Verurteilung dar, ohne diese zu erzwingen. Dass ein Bürger die tatsächlichen Grundlagen seiner Verurteilung zur Kenntnis nehmen, sie in Zweifel ziehen und nachprüfen dürfe, gelte nicht nur in Fällen strafrechtlicher Sanktionen, sondern stets. Staatliches Handeln dürfe, so gering belastend es im Einzelfall sein möge und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen bestehe, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen. Daher gehöre die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen führten, und ihre staatsferne Prüfbarkeit – wie das Bundesverfassungsgericht zu dem Einsatz elektronischer Wahlgeräte entschieden habe (BVerfGE 123, 39 ff.) – zu den Grundvoraussetzungen eines freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens. Die Speicherung der Rohmessdaten sei ohne größeren Aufwand technisch möglich. Zwingende Gründe, Rohmessdaten nicht zu speichern, gebe es nicht und nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung des Verfassungsgerichtshofs fest, dass ihre Speicherung es erlaube, das Ergebnis eines Messvorgangs nachzuvollziehen. Unter diesen Gegebenheiten könne sich ein Betroffener – selbst ohne nähere Begründung – gegen das Messergebnis wenden und ein Fehlen von Rohmessdaten rügen (VerfGH des Saarlandes, Urteil vom 5.7.2019 – Lv 7/17 -, juris). Nach § 10 Abs. 1 VerfGHG SL binden die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs die Verfassungsorgane des Saarlandes sowie alle saarländischen Gerichte und Verwaltungsbehörden. Demgemäß haben nicht nur die für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständigen Gerichte und die Bußgeldbehörden, sondern auch die saarländischen Verwaltungsgerichte und der Antragsgegner als zuständige Straßenverkehrsbehörde das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes zu beachten und im Rahmen der Rechtsanwendung umzusetzen.
Vor diesem Hintergrund kommt es nicht darauf an, ob die Obergerichte anderer Bundesländer mit – wie das Verwaltungsgericht angenommen hat – beachtlicher Begründung davon ausgehen, dass der Amtsermittlungsgrundsatz die Behörde in Verfahren betreffend den Erlass einer Fahrtenbuchauflage – also im Tätigkeitsbereich der vorbeugenden Gefahrenabwehr – nicht verpflichte, ohne konkreten Anlass gewissermaßen „ins Blaue hinein“ das Ergebnis der Geschwindigkeitsmessung zu hinterfragen, dies vielmehr erst dann geboten sei, wenn von dem Fahrzeughalter Unstimmigkeiten der Messung aufgezeigt würden oder sie sich der Behörde aufdrängen müssten (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.12.2018 – 8 B 1018/18 -, juris).
Die angefochtene Verfügung des Antragsgegners kann schließlich nicht des-halb als offensichtlich rechtmäßig erachtet werden, weil die Messung nicht mit einem der Rechtsprechung des saarländischen Verfassungsgerichtshofs zugrunde liegenden Gerät des Typs Traffistar S 350, sondern mit dem Messgerät Poliscan FM 1 durchgeführt worden ist. Nicht ausreichend ist in diesem Zusammenhang, dass sich im Tenor des vom Verwaltungsgericht zitierten Beschlusses des Oberlandesgerichts Zweibrücken die Formulierung findet, bei dem Messgerät Poliscan Speed FM 1 sei eine Überprüfung des Messergebnisses aufgrund gespeicherter Rohmessdaten für den Betroffenen grundsätzlich möglich. Ob diese seitens des Oberlandesgerichts Zweibrücken nicht begründete Annahme tatsächlicher Art zutrifft oder nicht, ist seitens des Antragstellers durch Vorlage einer sachverständigen Stellungnahme vom 24.7.2018 substantiiert in Frage gestellt und es finden sich auch in dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 15.1.2020, dem ebenfalls eine Geschwindigkeitsmessung mit einem Gerät des Typs PoliScan FM1 vorausgegangen war, keine Feststellungen dazu, dass dieser Gerätetyp Rohmessdaten speichert, vielmehr scheint dies im vorangegangenen ordnungshördlichen bzw. gerichtlichen Verfahren streitig gewesen und ungeklärt geblieben zu sein. Die Frage der Speicherung bedarf daher der Klärung in einem Hauptsacheverfahren (VerfGH Rheinland-Pfalz, a.a.O., Rdnrn. 2 und 8).
Ist die Sach- und Rechtslage demnach nach dem Erkenntnisstand im verfahrensgegenständlichen einstweiligen Rechtsschutzverfahren offen, so hängt der Erfolg des einstweiligen Rechtsschutzantrags von einer Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten ab. Diese Abwägung muss gerade auch vor dem Hintergrund der das Verwaltungsgericht und den Senat bindenden Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs6 zugunsten des Antragstellers ausgehen.
Dass die Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs in der Rechtsprechung anderer Bundesländer nach ersten Reaktionen auf eine gewisse Skepsis bzw. auf umfängliche Kritik (zusammenfassend: Brandenburgisches OLG Senat für Bußgeldsachen, Beschluss vom 15.1.2020 – (1 Z) 53 Ss-OWi 798/19 (4/20) -, juris Rdnrn. 2 f. und 5 m.w.N ) gestoßen ist, ändert hieran nichts. Es bedarf in tatsächlicher Hinsicht der Klärung in einem Hauptsacheverfahren, ob Messgeräte des Herstellers Vitronic Typ PoliScan FM1 ausgehend von der Rechtsprechung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs den dortigen Bedenken in gleicher Weise unterliegen wie Messgeräte des Modells Traffistar S 350 der Firma Jenoptik. Sollte dies der Fall sein, wird die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bei der Entscheidung saarländischer Gerichte und Behörden über die sich hieran anschließenden Rechtsfragen zu berücksichtigen sein. Zwecks einer bundesgerichtlichen Klärung seitens der Fachgerichte (VerfGH des Saarlandes, Urteil vom 5.7.2019, a.a.O., Rdnr. 62) wäre unabhängig vom Ausgang des noch nicht anhängigen, aber zu erwartenden erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens zu erwägen, die für die Rechtmäßigkeit einer Fahrtenbuchauflage erheblichen Rechtsfragen in Anwendung des § 134 VwGO durch Zulassung der Sprungrevision einer zeitnahen Klärung zuzuführen.“
Und das OVG Saarland ist ja nicht das erste Obergerichte, das eine Vorlage anmahnt. Das hatte ja auch schon der VerfGH Rheinland-Pfalz getan. Vielleicht kommt ja jetzt mal ein Gericht in die Puschen. 🙂