In der zweiten Entscheidung des Tages, dem LSG Jena, Beschl. v. 24.07.2019 – L 1 SF 389/18 B – geht es auch um „Verzögerung“, und zwar mit einer verzögert/spät eingelegten Erinnerung der Staatskasse gegen die Kostenfestsetztung. Das LSG sagt: Spät, aber nicht verwirkt:
„Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann von einem Verlust des Erinnerungsrechts der Staatskasse nach den Grundsätzen der Verwirkung nicht ausgegangen werden.
Mit Vergütungsfestsetzungsbeschluss vom 22. Januar 2015 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die dem Beschwerdeführer zu zahlende Vergütung auf 464,10 Euro fest und gab seinem Vergütungsfestsetzungsantrag vom 18. Dezember 2014 damit in voller Höhe statt. Da die Beklagte in dem Ausgangsverfahren nach der Kostengrundentscheidung ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen hatte, forderte das Sozialgericht mit Kostennachricht vom 2. März 2015 nach § 59 RVG bei der Beklagten die Zahlung eines Betrages i. H. v. 154,70 Euro an. Hiergegen legte die Beklagte mit am 12. März 2015 beim Sozialgericht eingegangenem Schriftsatz Erinnerung ein mit der Begründung, dass eine fiktive Terminsgebühr nicht erstattungsfähig sei. Nach Nichtabhilfe durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle erfolgte im Rahmen des Erinnerungsverfahrens S 30 SF 149/15 E die Zustellung dieser Erinnerung an die Bezirksrevisorin als Vertreterin der Staatskasse mit Eingangsverfügung vom 29. Mai 2015, ausgeführt am 3. Juni 2015. Mit Schriftsatz vom 22. Februar 2016 hat die Staatskasse sodann in diesem Verfahren Erinnerung nach § 56 RVG eingelegt und beantragt, die zu gewährende Vergütung im Rechtsstreit S 30 AS 2146/12 neu festzusetzen. Beanstandet wurde insbesondere das Nichtentstehen einer fiktiven Terminsgebühr.
Dieser zeitliche und tatsächliche Ablauf rechtfertigt es nicht, von einer Verwirkung des Erinnerungsrechts der Staatskasse auszugehen. Die Erinnerung der Staatskasse vom 26. Februar 2016 ist nach der gesetzgeberischen Wertung des § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG, der für die Erinnerung gerade nicht auf die Fristbestimmung des § 33 Abs. 3 RVG verweist, unbefristet (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2018 – L 1 SF 497/16 B, zitiert nach Juris). Eine analoge Anwendung des § 20 Abs. 2 GKG, wonach die Nachforderung von Kosten bis zum Ablauf des nächsten Kalenderjahres nach Beendigung des Verfahrens möglich ist, wenn innerhalb der Frist des § 20 Abs. 1 GKG ein Rechtsbehelf in der Hauptsache oder wegen der Kosten eingelegt wurde, scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. März 2017 – I-10 W 35 – 37/17, nach Juris unter Hinweis auf BGH in NJW-RR 2009, S. 770). Nach den Gesetzesmotiven zur Änderung des § 56 RVG im Jahr 2005 soll durch die Gesetzesänderung klargestellt werden, dass die Erinnerung gegen die Festsetzung der Vergütung gerade nicht befristet ist (vgl. BT-Drucks. 15/4952, Seite 51). Die Staatskasse hat ihr Erinnerungsrecht auch nicht verwirkt.
Verwirkt werden können alle subjektiven Rechte und Rechtspositionen, die gegenüber einem anderen geltend gemacht werden können, auch Rechtsbehelfe. Die Verwirkung gilt in allen Rechtsgebieten, auch im Kostenrecht (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2018 – L 1 SF 497/16 B –, Juris). Allerdings findet sie nur in besonderen engen Ausnahmekonstellationen Anwendung. Eine Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juli 2018 – L 1 SF 497/16 B –, Juris) voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes die verspätete Geltendmachung des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden „besonderen Umstände“ liegen vor, wenn der Verpflichtete in Folge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage) und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand), und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2016 – B 1 KR 40/15 R m.w.N., Rn. 10, nach Juris).
Auf eine Verwirkung kann sich der Beschwerdeführer in der vorzunehmenden Gesamtschau von Zeit- und Umstandsmoment nicht berufen. Das Zeitmoment ist bereits deshalb nicht gegeben, weil die Staatskasse als Beschwerdegegner nach der Kostenfestsetzung durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle am 22. Januar 2015 am 26. Februar 2016 Erinnerung eingelegt hat. Damit war noch nicht einmal die im Sozialrecht allgemein geltende Verjährungsfrist von 4 Jahren (vgl. § 45 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch < SGB I>) abgelaufen.
Der Beschwerdeführer konnte sich auch nicht aufgrund des Verhaltens des Beschwerdegegners darauf einrichten, dass dieser sein Recht nicht geltend machen werde. Anhaltspunkte hierfür hat dieser nicht gesetzt. Zweifelhaft ist bereits, ob der Beschwerdeführer überhaupt darauf vertrauen durfte, dass die von ihm geforderte Vergütung seitens des Beschwerdegegners nicht beanstandet werde. Der Beschwerdeführer verkennt insoweit, dass die Bezirksrevisorin als Vertreterin der Staatskasse am Kostenfestsetzungsverfahren nicht beteiligt ist. Sie hat vielmehr erst durch das von der Beklagten des Verfahrens S 30 AS 2146/12 angestrengte Erinnerungsverfahren S 30 SF 149/15 E gegen die Kostennachricht nach § 59 RVG durch die Zustellung dieser Erinnerung Kenntnis von dem Vorgang erhalten. Akteneinsicht in den gesamten Vorgang wurde ihr mit Verfügung vom 28. Juli 2015 gewährt. Der nächste Schriftsatz in der Angelegenheit datiert sodann vom 22. Februar 2016 und beinhaltet die Antragstellung im Verfahren S 30 SF 149/15 E verbunden mit der Einlegung einer Erinnerung nach § 56 RVG in diesem Verfahren. Daher sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund des Verhaltens des Beschwerdegegners darauf einrichten konnte, dass dieser sein Erinnerungsrecht nicht geltend machen werde. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer an dem Erinnerungsverfahren S 30 SF 149/15 E nicht beteiligt ist. Denn in diesem Rechtsstreit ging es ausschließlich um die Kostenüberleitung nach § 59 RVG auf die Beklagte des Ausgangsverfahrens S 30 AS 2146/12. Die Staatskasse hat dem Beschwerdeführer gegenüber zu keinem Zeitpunkt erkennen lassen, dass sie die Vergütungsfestsetzung vom 22. Januar 2015 für korrekt hält.“