Die zweite von der Tendenz her m.E. – zumindest teilweise – positive Entscheidung ist der OLG Nürnberg, Beschl. v. 30.05.2017 – 2 Ws 98/17. Er behandelt ein alt bekanntes und für die Frage wichtiges Problem, nämlich die Erstattung(sfähigkeit) von Ausdrucken aus digital zur Verfügung gestellten Akten. Hier hatte der Pflichtverteidiger zweimal ausgedruckt, und hat dafür jeweils die Dokumentenpauschale Nr. 7000 Ziff. 1 VV RVG geltend gemacht, und zwar einmal in Höhe von 4.288,15 € für 28.471 Kopien betreffend Ausdrucke aus der Ermittlungsakte für ihn selbs soiwe dann noch in Höhe von 4.273,15 € für 28.371 Kopien betreffend Ausdrucke aus der Ermittlungsakte für seinen Mandanten. Dass die Summe die Vertreter der Staatskasse auf den Plan rufen, ist klar. Festgesetzt worden ist dann gar nichts. Begründung u.a.: Die Akte ist in digitalisierter Form zur Verfügung gestellt worden. Ggf. müsse sich der Verteidiger einen Laptop anschaffen, um die digitalisierten Akten in der Hauptverhandlung lesen zu können. Ein Ausdruck sei deshalb nicht erforderlich gewesen.
Das OLG verweist wegen der Dokumentenpauschale betreffend Ausdrucke für den Pflichtverteidiger selbst zurück, die Erstattung der Ausdrucke für den Mandanten wird abgelehnt. Im Beschluss nimmt der OLG u.a. zu der Frage Stellung, ob bei Überlassung von auf digitalen Datenträgern gespeicherten Akten ein Ausdruck generell nicht mit der Dokumentenpauschale vergütet werden kann. Das wird ja z.T. in der Rechtsprechung vertreten. Das OLG Nürnberg sieht es anders:
„a) Der Gebührentatbestand Nr. 7000 Ziff. 1 lit. a VV RVG sieht – wie dargelegt – die Vergütung von Ausdrucken ausdrücklich vor. Maßstab für die Vergütungsfähigkeit kann somit auch hier lediglich die Frage sein, ob ein Ausdruck zur sachgerechten Bearbeitung der Rechtssache geboten war. Dies hängt zwar nicht von der subjektiven Auffassung des jeweiligen Rechtsanwalts, aber von der ihm zur Verfügung stehenden und auch zumutbaren technischen Ausstattung ab. Geboten ist ein Ausdruck somit bereits dann, wenn dem Anwalt – wie im vorliegenden Fall vorgebracht – kein Laptop zur Verfügung steht und somit kein Zugriff auf den Akteninhalt während der Hauptverhandlung möglich ist.
Im Zusammenhang hiermit ist zu berücksichtigen, dass derzeit noch keine gesetzliche Verpflichtung eines Rechtsanwalts zur Verwendung einer elektronischen Akte in Strafsachen samt Anschaffung einer entsprechenden technischen Ausstattung besteht. Insofern kann der Verteidiger auch (noch) nicht auf seine Fortbildungspflicht gemäß § 43a Abs. 6 BRAO verwiesen werden.
Auch die Strafgerichte sind nicht verpflichtet, mit einer elektronischen Akte zu arbeiten. Insoweit gebietet es die „Waffengleichheit“, dass sich der Verteidiger – wie auch bisher – Auszüge aus den Akten fertigen darf (vgl. Müller-Rabe in Gerold/Schmid RVG, 22 Aufl. „7000 VV“ Rn. 62), wobei es keinen Unterschied machen kann, ob diese aus der Papierakte kopiert oder aus der elektronischen Akte ausgedruckt werden. Bis zur gesetzlich verbindlichen Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen verbleibt es somit bei der grundsätzlichen Erstattungsfähigkeit der Dokumentenpauschale gemäß § 46 RVG i.V.m. Nr. 7000 Ziff. 1 lit. a VV RVG (so auch im Ergebnis Müller-Rabe a.a.O. „7000 VV“ Rn. 62; Kroiß in: Mayer/Kroiß, RVG, 6. Aufl. VV 7000 – 7002 Rn. 5; LG Duisburg, StraFo 2014, 307 bei umfangreichen Akten). Demgemäß ging auch das OLG Celle (NJW 2012, 1671) früher davon aus, dass das Anfertigen von Ausdrucken von dem Verteidiger im Rahmen der Akteneinsicht überlassener, auf CDs gespeicherter Textdateien (Kurzübersetzungen überwachter Telefonate) jedenfalls bei einem weit überdurchschnittlichen Umfang (81.900 Telefongespräche auf 43.307 Seiten) zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache geboten sei.“
Einige OLG hatten das ja anders gesehen – sind im lesenswerten Beschluss zitiert. Dazu meint das OLG Nürnberg:
„Der Senat folgt diesen Entscheidungen nicht, weil sie auf Faktisches, jedoch nicht auf rechtlich Verpflichtendes abstellen. Es ist jedenfalls für den Bereich der Strafjustiz nicht zutreffend, dass „demnächst“ oder „in Kürze“ damit gerechnet werden könne, dass „die elektronische Akte im Justizbereich eingeführt“ werden wird (so aber OLG Braunschweig und OLG München). Derzeit existieren nur im Bereich des Zivilrechts Pilotprojekte. Im Bereich des Zivilrechts sollen die Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr spätestens zum 01.01.2022 bundesweit auch für Rechtsanwälte verpflichtend in Kraft treten (vgl. BTDrucks. 17/12634 Seite 2). Für das Strafverfahren soll nach dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 17.08.2016 (BTDrucks. 18/9416) für die elektronische Aktenführung im Strafverfahren eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Dabei soll die elektronische Aktenführung bis zum 31.12.2025 „lediglich eine Option“ darstellen, und erst ab dem 1.1.2026 – mithin in knapp neun Jahren – verbindlich werden (BTDrucks. a.a.O. Seite 1).“
Wie gesagt: M.E. lesenswert, allein schon, weil das OLG die Rechtsprechung der Obergerichte in der von ihm (teilweise) entschiedenen Frage nach der Erstattungsfähigkeit des Ausdrucks von digital zur Verfügung gestellten Akten sehr schön zusammen stellt. Zu begrüßen ist sicher auch, dass das OLG dem Automatismus: Digital zur Verfügung gestellte Akte = generell keine Erstattung von Ausdrucken, eine Absage erteilt. Das darf aber nicht zu Euphorie verführen. Denn das ist nur der erste (allgemeine) Schritt, da auch das OLG Nürnberg nicht ohne weiteres den gesamten Ausdruck der „digitalen Akte“ erlaubt, sondern nur das, was zur „sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache erforderlich war“. Dabei geht das OLG, weil dem Verteidiger die Akten-CDs dauerhaft zur Verfügung standen, offenbar davon, dass (nur) ein ggf. sukzessiver Ausdruck „sachgemäß“ war/ist. An der Stelle wird der Streit nun also fortgesetzt.
Und: Die Erstattung der Auslagen für den Aktenauszug, der dem Mandanten zur Verfügung gestellt wordne ist, hat das OLG abgelehnt. Begründung – verkürzt: Der Mandant ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Was soll er da mit rund 28.000 Kopien aus der Akte?
> Der Mandant ist der deutschen Sprache nicht mächtig.
> Was soll er da mit rund 28.000 Kopien aus der Akte?
Das ist ja mal völlig daneben.
Der Kommentar erschließt sich mir nicht.
Warum soll der Beklagte keine Kopie erhalten, nur weil er kein Deutsch kann?
Das schneidet Ihm wesentliche Rechte ab. Deshalb ist die Begründung völlig
daneben.
Einfach mal den Beschluss dazu lesen, dann erschließt sich, dass die Begrüsndung nicht „völiig daneben“ ist.
Habe gelesen. Ob er überhaupt kopieren muss oder evtl. relevante Teile ist eine andere Frage.
Die Überlassung wegen der Sprachkenntnisse zu versagen bleibt mMn daneben.
Dem nächsten wird die Akte dann versagt weil er keine juristische Ausbildung hat?
das ist „daneben“ 🙂 .
@ Miraculix: Eine Kopie von Aktenbestandteilen für den Mandanten kann nur dann notwendig und sachgerecht sein, wenn dieser damit auch etwas anfangen kann. Wenn der Mandant kaum Deutsch kann und von dem Anwalt während nur eines einzigen Besprechungstermins in der Haft mehrere tausend Seiten TKÜ-Protokolle in deutscher Sprache auf den Tisch geknallt bekommt, dann ist völlig klar, dass diese Maßnahme sinnlos war. Das heißt nicht, dass der fremdsprachige Mandant generell keinen Anspruch auf Kopien aus der Akte hätte, der Anwalt muss dann aber eben auch plausibel machen, dass und wie der Mandant den Inhalt überhaupt sinnvoll zur Kenntnis nehmen konnte (Beispiel: Mandant hat sich alles von wesentlich besser deutsch sprechendem Sohn übersetzen lassen). Notfalls schonmal frühzeitig bei Gericht beantragen, dem Mandanten wesentliche Bestandteile der Akte übersetzen zu lassen (Da kommt dann beim Kostenbeamten natürlich noch mehr Freude auf, es hat dann aber wenigstens einen Sinn).
Da bin ich bei Ihnen. Ich habe ja auch nur die viel zu pauschale Begründung in Frage gestellt.
Umfang und Notwendigkeit sind natürlich unabhängig davon zu prüfen. Ein Anwalt muss keine gut gehende Druckerei unterhalten, aber einem Beschuldigten muss jedes legale Mittel zur Verteidigung auch zur Verfügung stehen. Ob und wie er das dann nutzt ist seine Sache.
Was der Kostenbeamte davon hält ist mir erst mal ziemlich egal.
@RA Ullrich: Das ist dann der Weg über § 46 Abs. 2 RVG. Dann ist ggf. der Streitpunkt frühzeitig erledigt.
Dass der Verteidiger hier deutschsprachige TKÜ-Protokolle „im Umfang von 60 – 70 Leitz-Ordnern“ für einen der deutschen Sprache nicht mächtigen Mandanten ausdrucken ließ, zeigt wunderschön, in welchem Maße der Aktenausdruck zur Generierung zusätzlicher Einkünfte missbraucht wird. Da ist gesetzgeberische Abhilfe dringend geboten.
Auf die „gesetzgeberische Abhilfe“ bin ich gespannt.
Der Spuk wird in dem Moment vorbei sein, in dem eine spezielle Kostenpauschale für den Ausdruck bereits digitalisierter Akten eingeführt wird, die den realen Kosten entspricht (= etwa 0,02 €/S. bei hohen Stückzahlen). Das sollte den Gesetzgeber eigentlich nicht überfordern.
Solche Pauschalen führen immer wieder zu erheblichen Ungerechtigkeiten.
Erstattung der tatsächlichen ggvs. nachzuweisenden Kosten (nur bei höheren Beträgen) wäre eher angemessen.
@ Steuerzahler: Die Diktion ist bemerkenswert: „Spuk“.
Und Ihre „spezielle Kostenpauschale“ ändert gar nichts an dem grundsätzlichen Problem. Denn auch dann wird immer noch der Nachweis der Erforderlichekit geführt werden müssen. Und Rechtspfleger/die Staatskasse kämpft auch um 0,02 €, wobei ich den Kostenansatz für nicht zutreffend halte.
Dann besteht aber nicht der Verdacht, dass das Ausdrucken (auch) der Gewinnmaximierung dient. Das steckt doch als Verdacht hinter vielen OLG-Entscheidungen. Das wäre vom Tisch, wenn es tatächlich wirtschaftlich nur eine Kostenerstattung wäre und man als RA an den Ausdrucken nicht verdient.
Ihre immerwährende Sorge um den „anwaltlichen“ Verdienst ist rührend.
Wieso Sorge? Ich habe nur geschrieben, dass der Kollege mit seinem Argument Recht hat, dass eine Absenkung der Dokumentenpauschale den bösen Schein ausräumen würde, dass der Anwalt extra viel ausgedruckt hat, weil er daran verdient. Was ist an meiner Anmerkung kritikwürdig?