Nach der vom BGH in inzwischen ständiger Rechtsprechung vertretenen Vollstreckungslösung sind der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerungen bei der Strafzumessung zu kompensieren. Da ist es ganz gut, wenn man als Verteidiger weiß, was der BGH denn nun als zu lang/als verzögert ansieht. Ein paar Anhaltspunkte dazu gibt der BGH, Beschl. v. 24.05.2012 – 5 StR 145/12:
„2. Darüber hinaus macht die Revision zu Recht Verstöße gegen den Grundsatz zügiger Verfahrensförderung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK geltend. Zwischen Anklageerhebung und Erlass des Eröffnungsbeschlusses ist eine erhebliche, der Justiz anzulastende Verfahrensverzögerung (von mindestens neun Monaten) eingetreten, die bereits im angefochtenen Urteil zu der Anordnung hätte führen müssen, dass ein bezifferter Teil der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt gilt. Zu einer weiteren erheblichen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung (von mindestens elf Monaten) ist es zwischen dem Erlass des erstinstanzlichen Urteils und seiner Zustellung gekommen, die erst nach mehr als einem Jahr im Dezember 2011 erfolgte. Das neue Tatgericht wird die wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK gebotene Kompensation der eingetretenen rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im Wege des Vollstreckungsmodells (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124) nachzuholen und festzulegen haben, welcher bezifferte Teil der neu zu bemessenden Gesamtstrafe zur Kompensation der Verzögerung als vollstreckt gilt. Angesichts des von der Revision dargelegten Ausmaßes der Verzögerungen erscheint dabei ein Abschlag von nur einem Monat Freiheitsstrafe, wie vom Generalbundesanwalt beantragt, als deutlich zu gering.“
Man müsste mal eine Zusammenstellung der BGH-Rechtsprechung zu der Problematik machen. Ist aber nicht so einfach, da vieles vom Einzelfall abhängt. Denn was heißt z.B. „deutlich zu gering“.
Der BGH gibt der Strafkammer übrigens noch ein Weiteres mit auf den Weg weg:
Der Senat sieht Anlass zu dem Hinweis, dass Verzögerungen des tat-gerichtlichen Verfahrens in dem von der Revision aufgezeigten Umfang im Hinblick auf die damit nicht nur für den Angeklagten, sondern gerade im Bereich der Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auch für die Geschädigten einhergehenden Belastungen sowie regelmäßig damit verbundenen Verschlechterung der Beweislage unvertretbar erscheinen.
Eine Strafkammer am LG Baden-Baden sah vor ca. zwei Jahren einen Abzug von sechs Monaten als angemessen an. Die Anklageschrift wegen §§ 177 Abs. 4, 223 StGB lag ca. 1,5 Jahre bei der Strafkammer bis zur Eröffnung. Das Urteil von 5 Jahren und 6 Monaten, abzgl. 6 Monate nach Vollstreckungslösung, hat beim 1. Senat gehalten.
@DS Als Nichtjurist halte ich diesen Abzug für angemessen, wenn betreffender Täter ununterbrochen in U-Haft war. Wenn nicht, ist das Opfer aufrichtig zu bedauern!
Als Leidtragender einer „unendlichen Geschichte“ von Verfahrensverzögerung habe ich in mindestens 1 Dutzend BGH-Entscheidungen einen Zusammenhang zwischen Verzögerungszeit und Abschlag im Verhältnis 1:1 feststellen können. Natürlich sollten die beschriebenen Kriterien wie z.B. Straferwartung, Beschleunigungsgebot, Verhalten des Beschuldigten und der Verteidigung, sowie individuelle Belastungen durch U-Haft u.a. bei der Kompensation der (b.mir 3-jährigen) Verzögerung berücksichtigt werden.