StGB I: Rechtsbeugung im Unterbringungsverfahren, oder: Nicht alles, was falsch ist, beugt das Recht

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Und heute dann – seit längerem – mal wieder StGB, und zwar einmal Rechtsbeugung und zweimal Beleidigung.

Ich eröffne mit der Entscheidung, die sich mit einem Rechtsbeugungsvorwurf befasst. Es handelt sich um den BGH, Beschl. v. 18.04.2024 – 6 StR 386/23. Entschieden hat der BGH über ein Urteil des LG Stade. Das hatte die Angeklagte wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.

Nach den Feststellungen des LG hatte die RiAG, die sowohl für Zivil- als auch für Betreuungs- und Unterbringungssachen zuständig war, in der Zeit von Mai 2016 bis Dezember 2017 in 15 Fällen einstweilige und dauerhaft geschlossene Unterbringungen angeordnet. Dabei hatte sie die Betroffenen nicht vor der Unterbringung oder ? bei einstweiligen Unterbringungen ? unverzüglich nach der Entscheidung persönlich angehört. Grund: Sie wollte – so heißt es im BGH-Beschluss – „ihre beruflichen Aufgaben, insbesondere die von ihr erstrebte umfassende und genaue Bearbeitung von Zivilsachen, mit ihren privaten Belastungen in Einklang bringen.“

Das LG ist jeweils von Rechtsbeugung (§ 339 StGB) ausgegnagen. Die Angeklagte habe in jeder Entscheidung einen elementaren Verstoß gegen die Rechtsordnung begangen und sich subjektiv bewusst sowie aus sachfremden Erwägungen in schwerwiegender Weise von zentralen Verfahrensnormen entfernt.

Die Revision der Angeklagten hatte Erfolg. Der BGh hat das Urteil des LG mit en Feststellungen aufgehoben. Er beanstandet u.a., dass das LG insbesondere keine Feststellungen dazu getroffen habe, ob die Angeklagte in Fällen einstweiliger Unterbringungen ausnahmsweise wegen Gefahr im Verzug von einer Anhörung absehen durfte (§ 332 FamFG). Ferner fehle es in den Urteilsgründen an der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung aller subjektiven und objektiven Umstände des Einzelfalls. Dazu führt der BGH aus:

„3. Schließlich fehlt es an einer wertenden Betrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles.

a) Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung beugt das Recht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst § 339 StGB vielmehr nur den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, bei dem sich der Amtsträger bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei vom Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 9. Mai 1994 – 5 StR 354/93 , BGHSt 40, 169, 178 ; vom 6. Oktober 1994 – 4 StR 23/94 , BGHSt 40, 272, 283 ; vom 21. Januar 2021 – 4 StR 83/20 Rn. 22). Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände zu entscheiden. Bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht kann neben dessen Ausmaß und Schwere insbesondere auch Bedeutung erlangen, welche Folgen dieser für die Partei hatte, inwieweit die Entscheidung materiell rechtskonform blieb und von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ (vgl. BGH, Urteile vom 5. Dezember 1996 – 1 StR 376/96 , BGHSt 42, 343 ; vom 18. August 2021 – 5 StR 39/21 Rn. 32; Beschlüsse vom 14. September 2017 – 4 StR 274/16 , BGHSt 62, 312, 315 ; vom 29.November 2022 – 4 StR 149/22 , JR 2024, 249, 251).

b) Daran fehlt es.

aa) Im Ausgangspunkt ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass in einem Verstoß gegen die Anhörungspflicht vor einer Unterbringungsmaßnahme regelmäßig ein schwerer Rechtsverstoß zu erblicken ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09 , NStZ 2010, 92). Die persönliche Anhörung der Betroffenen nach § 319 Abs. 1 Satz 1 , § 331 Satz 1 Nr. 4 FamFG gehört zu den besonders bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfG, NJW 1990, 2309, 2310 [BVerfG 17.01.1990 – 2 BvR 1592/88] zum baden-württembergischen Unterbringungsgesetz; BGH, Beschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13 , NJW-RR 2014, 642, 644). Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen ( Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ), auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 58, 208, 222; 70, 297, 308). Der Richter muss danach die beabsichtigte Maßnahme eigenverantwortlich prüfen; er muss dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen beachtet werden (vgl. BVerfGE 103, 142, 151 [BVerfG 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00] ).

bb) Weder das besondere Gewicht der Rechtsverletzung noch die festgestellte systematische Rechtsverletzung enthoben die Strafkammer hier von der Pflicht zur wertenden Betrachtung der weiteren Tatumstände. Soweit sie anderes aus einer Unterbringungsmaßnahmen betreffenden Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs gefolgert hat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 – 1 StR 201/09 Rn. 4), geht sie fehl.

Das Landgericht hat in objektiver Hinsicht nicht in den Blick genommen, ob die Entscheidungen der Angeklagten materiell rechtskonform blieben (vgl. BGH, Urteile vom 5. Dezember 1996 – 1 StR 376/96 , BGHSt 42, 343, 353 ; vom 13. Mai 2015 – 3 StR 498/14 Rn. 12; vom 18. August 2021 – 5 StR 39/21 Rn. 40; Beschluss vom 29. November 2022 – 4 StR 149/22 , JR 2024, 249, 251). Angesichts der in den Urteilsgründen teilweise mitgeteilten erheblichen psychotischen Erkrankungen der Betroffenen, der jeweiligen „ärztlichen Stellungnahmen“ und der bestellten Verfahrenspfleger liegt, auch eingedenk des hier jeweils gewahrten Grundsatzes der Aktenwahrheit (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2022 – 4 StR 149/22 , JR 2024, 249, 252 mwN), eine Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nicht fern. Im Übrigen hat die Strafkammer die Folgen der Rechtsverletzung, etwa ob und über welchen Zeitraum jeweils eine Freiheitsentziehung erfolgte, nicht eingestellt. Dies gilt gleichermaßen für den Umstand, dass die Angeklagte in Einzelfällen die Anhörung kurz nach ihrer Entscheidung nachgeholt oder die Betroffenen kurz zuvor angehört hat.“

Nun ja, m.E. einerseits schon recht „großzügig“, andererseits gebietet der Beschluss aber auch denjenigen Einhalt, die bei jeder falschen Entscheidung gleich „Rechtsbeugung“ rufen.

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