StGB II: Hat der Angeklagte „heimtückisch“ gehandelt?, oder: Überraschen in einer hilflosen Lage

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Und dann als zweite Entscheidung des Tages das BGH, Urt. v. 01.02.2024 – 4 StR 287/23 – zum Mordmerkmal „Heimtücke“.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die sich u.a. gegen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke wendet. Die Revision hatte keinen Erfolg.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Feststellungen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Zusammengefasst geht es um die Geschehnisse in Zusammenhang mit einem Cannabisankauf. Der Angeklagte war wegen des Ankaufs von dem Geschädigten angesprochen worden. Diese hatte ihn gebeten, ihm ein Gramm Cannabis zu verkaufen. Der Angeklagte sagte die spätere Lieferung des Rauschgifts durch einen Dritten zu. Der Geschädigte, der das Cannabis sofort konsumieren wollte und die Reaktion des Angeklagten als überheblich empfand, geriet in Wut. Es entwickelte sich ein auch handgreiflicher Streit, der damit endete, dass der Geschädigte In dem Bewusstsein, aus dem inzwischen von Passanten beobachteten „Kräftemessen“ mit dem Angeklagten als Sieger hervorgegangen zu sein, erklärte, der Angeklagte sei schon immer ein räudiger Hund gewesen und werde dies auch bleiben; dabei trat er abschließend demonstrativ die geöffnete Fahrertür mit dem Fuß zu, wandte sich um und entfernte sich.

Der Angeklagte folgte dem Geschädigten mit seinem Pkw. Dieses sah das. Er  hielt es für möglich, dass der Angeklagte ihm mit dem Fahrzeug folgen könnte, um ihn zur Rede zu stellen oder ihm Angst einzujagen. Da er sich nicht einschüchtern lassen und keine Blöße zeigen wollte, setzte seinen Weg fort; mit einer körperlichen Auseinandersetzung oder gar dem Einsatz des Kraftfahrzeugs als Waffe rechnete er aber nicht.

Der Angeklagte gab dann Vollgas und beschleunigte sein Fahrzeug massiv mit dem Ziel, den Geschädigten auf dem Gehweg mit einer möglichst hohen Geschwindigkeit zu erfassen. Dabei rechnete er damit, den Geschädigten durch die Wucht des Aufpralls tödlich zu verletzen; er fand sich jedoch angesichts der vorangegangenen Kränkung mit einem tödlichen Ausgang ab. In diesem Zusammenhang nahm er auch wahr, dass der Geschädigte den Gehweg in seiner Fahrtrichtung beschritt, ihm den Rücken zuwandte und keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Diese Situation nutzte der Angeklagte bewusst aus, um den Geschädigten von hinten zu überfahren. Er lenkte sein Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h gezielt nach rechts auf den Gehweg. Tatplangemäß erfasste der Angeklagte den Geschädigten dort mit der vorderen rechten Motorhaube im Bereich der rechten Körperpartie rückseitig. Der Geschädigte wurde durch den Aufprall erheblich verletzt. Der Angeklagte nahm an, ihn getötet zu haben, lenkte sein Fahrzeug auf die Straße zurück und floh.

Das Schwurgericht hat die Tat ‒ auch ‒ als versuchten Mord im Sinne der § 211 Abs. 2, §§ 22, 23 StGB gewertet. Es ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz und unter Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit des Geschädigten handelte. Der BGh hat das „gehalten“.

„Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg. Das Urteil weist weder zum Schuld- noch zum Straf- oder Maßregelausspruch einen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Der Erörterung bedarf nur das Folgende:

1. Die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen die Annahme des Mordmerkmals der Heimtücke im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB.

a) Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung ist dabei, ob das Opfer die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite überblickt (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365; Beschluss vom 10. Januar 1989 ‒ 1 StR 732/88, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 7). Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Opfer aber gleichwohl in der Tatsituation nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet (vgl. BGH, Urteil vom 20. Januar 2005 ‒ 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691; Urteil vom 12. Februar 2003 ‒ 1 StR 403/02, BGHSt 48, 207, 210; siehe auch BGH, Urteil vom 30. August 2012 ‒ 4 StR 84/12, NStZ 2013, 337, 338 mwN). Entscheidend ist auch hier, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn zumindest zu erschweren (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 30. März 2023 ‒ 4 StR 234/22, NStZ-RR 2023, 245, 246; Urteil vom 4. Februar 2021 − 4 StR 403/20, NStZ 2023, 232, 234; Urteil vom 20. Oktober 1993 – 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 368 f.; Urteil vom 26. November 1986 – 3 StR 372/86, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 2 mwN). Das Opfer kann auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 2023 – 1 StR 104/23; Urteil vom 16. August 2005 – 4 StR 168/05, NStZ 2006, 167, 169; Urteil vom 4. Juni 1991 – 5 StR 122/91, BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 15 mwN). Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist schließlich, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 15. Februar 2022 ‒ 4 StR 491/21, NStZ 2022, 364, 365; Urteil vom 23. Juli 2020 ‒ 3 StR 77/20 Rn. 9).

b) Gemessen hieran ist heimtückisches Handeln des Angeklagten festgestellt und tragfähig belegt.

aa) Zwar ging dem Tatgeschehen eine verbal und körperlich geführte Auseinandersetzung voraus; im Rahmen dieser Auseinandersetzung verhielt sich der Angeklagte aber zurückhaltend, passiv und ängstlich. Der Geschädigte erwartete nach der aus seiner Sicht beendeten Auseinandersetzung keinen erheblichen Angriff gegen seine körperliche Integrität, sondern rechnete allenfalls damit, dass der ihm körperlich unterlegene Angeklagte ihn angesichts seines vorangegangenen Verhaltens zur Rede stellen oder ihm „Angst einjagen“ könne. Den Urteilsfeststellungen ist daher mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, dass das Tatopfer nicht mit einem Angriff auf sein Leben oder mit einem erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnete. Dass es sich unmittelbar vor der Kollision umwandte und den Angriff daher in letzter Minute wahrnahm, stellt ‒ worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat ‒ seine Arglosigkeit nicht in Frage, weil die verbleibende Zeitspanne zu kurz war, um der nunmehr erkannten Gefahr zu begegnen.

bb) Die Feststellungen sind auch tragfähig belegt. Das Landgericht hat in diesem Zusammenhang rechtsfehlerfrei darauf abgestellt, dass der Geschädigte dem Angeklagten den Rücken zuwandte und seinen Weg unbeirrt fortsetzte, ohne die Möglichkeit zur Flucht zu ergreifen. Einen rechtlich erheblichen Erörterungsmangel (zum revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstab vgl. nur BGH, Urteil vom 30. März 2023 ‒ 4 StR 234/22, NStZ-RR 2023, 245, 246) zeigt die Revision nicht auf. Die tatgerichtlichen Schlussfolgerungen sind möglich; zwingend müssen sie nicht sein.

cc) Auch die Annahme eines Ausnutzungsbewusstseins beruht auf einer tragfähigen Beweisgrundlage. Dabei hat das Landgericht neben der anschaulichen Höchstgefährlichkeit der Angriffsweise auch die Umstände, die indiziell gegen ein Ausnutzungsbewusstsein sprechen können (vorangegangene Auseinandersetzung, spontaner Tatentschluss, Erregung und Wut des Angeklagten), ausdrücklich in den Blick genommen. Seine Überzeugung beruht auf einer Gesamtschau aller Beweisanzeichen und ist daher rechtsfehlerfrei.

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