Als zweite LG-Entscheidung zur StPO stelle ich den LG Ravensburg, Beschl. v. 14.02.2023 – 2 Qs 9/23 jug. – vor. Es geht in der Entscheidung um die Zulässigkeit der Anordnung der – ggf. zwangsweisen – Abnahme von Fingerabdrücken des Beschuldigten für Zwecke der Entsperrung eines Mobiltelefons. Ist das zulässig und aufgrund welcher Grundlage? Das LG sagt: Zulässig, die Maßnahme wird durch § 81b Abs. 1 StPO gedeckt:
„Die zulässige Beschwerde des Beschuldigten hat in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung entspricht der Sach- und Rechtslage. Die Kammer teilt grundsätzlich die Auffassung des Amtsgerichts (1.). Die Kammer weicht lediglich insoweit von der Begründung des Amtsgerichts ab, als dass die Ermittlungsmaßnahme auch auf § 81a StPO gestützt wurde (2.).
1. Die Voraussetzung des § 81b Abs. 1 1 Var. StPO liegen vor (a)), die angeordneten Maßnahmen sind von der einschlägigen Ermächtigungsgrundlage gedeckt (b)) und insbesondere verhältnismäßig (c)).
a) Gegen den Beschuldigten wird ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit sowie des versuchten unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln geführt.
b) Die Anordnung zur Abnahme von Fingerabdrücken des Beschuldigten auch gegen seinen Willen und erforderlichenfalls im Wege der zwangsweisen Durchsetzung (aa)), sowie die Anordnung zur Nutzung der hieraus resultierenden biometrischen Daten für Zwecke der Entsperrung des Mobiltelefons (bb)) finden ihre Grundlage in § 81b Abs. 1 StPO.
aa) 81b Abs. 1 1. Var. StPO ermächtigt schon dem Wortlaut nach zur Abnahme von Fingerabdrücken beim Beschuldigten. Die Maßnahme hat der Beschuldigte als Passivmaßnahme zu dulden (vgl. Rottmeier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (195)). Im Fall des Widerstands berechtigt § 81b Abs. 1 sogar die Anwendung unmittelbaren Zwangs, etwa durch Auflegen der Finger des Beschuldigten auf den Fingerabdrucksensor (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 81b Rn. 15). Deshalb verletzt die Maßnahme weder die in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierte Selbstbelastungsfreiheit, noch den Kernbereich des fairen Verfahrens aus Art. 6 EMRK (vgl. Auch Bäumerich, NJW 2017, S. 2718 (2721)).
Der Einwand in der Beschwerdebegründung, der Beschuldigte habe sich freiwillig Fingerabdrücke abnehmen lassen, lässt sich aus den, der Kammer vorliegenden Ermittlungsakten so nicht entnehmen. Die einzige freiwillige Mitwirkungshandlung war die Abgabe einer Urinprobe am Tag der Wohnungsdurchsuchung.
bb) Auch die Nutzung der festgestellten Fingerabdrücke für Zwecke des Entsperrens des Mobiltelefons des Beschuldigten. ist als „ähnliche Maßnahme“ von § 81b Abs. 1 StPO umfasst.
Bei dieser Maßnahme handelt es sich sicherlich nicht um den klassischen Fall, welcher dem Erlass des § 81b Abs. 1 StPO zugrunde lag. Dem historischen Gesetzgeber lag vielmehr die Vorstellung zugrunde, die festgestellten Fingerabdrücke mit den Tatortspuren oder den Abdrücken einer. Kartei zu vergleichen, um damit einen Tatnachweis führen zu können (Bäumerich, NJW 2017, S. 2718 (2721), m.w.N.). Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber dies nicht in der Deutlichkeit in den Gesetzeswortlaut aufgenommen hat. Vielmehr formulierte er den Gesetzes-wortlaut offen, in dem er als Auffangterminus „ähnliche Maßnahmen“ verwendet. Dennoch genügt die Norm dem erforderlichen Bestimmtheitsgrundsatz, da jede Maßnahme an den beiden genannten Modalitäten und der amtlichen Überschrift „erkennungsdienstlichen Maßnahmen“ gemessen werden muss. Durch die offene Formulierung wird erreicht, dass sich der statische Gesetzeswortlaut an den jeweiligen Stand der Technik anpasst (vgl. Rottmeier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (194)). Mit der „technikoffenen“ Formulierung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass auch solche Maßnahmen gedeckt sind, die dem gesetzlichen Leitbild der Abnahme und Verwendung von äußeren körperlichen Beschaffenheitsmerkmalen zu Identifizierungs- oder Tat nachweiszwecken entsprechen (vgl. Rottrneier/Eckel, NStZ 2020, S. 193 (195)). Im weiteren Sinn kommt der Nutzung der festgestellten Fingerabdrücke zum Entsperren eines Mobiltelefons auch eine• Identifizierungsfunktion zu (vgl. ebenda). Die Identifizierungsfunktion wird hier im Unterschied zum klassischen Fall des § 81b StPO allerdings nicht unmittelbar zum Führen eines Tatnachweises verwendet, sondern als Zwischenziel zur Erlangung der für den Nachweis erforderlichen ge-speicherten Daten. Inwieweit die Maßnahme notwendig für das Strafverfahren ist, ist eine Frage der noch zu thematisierenden Verhältnismäßigkeit. Die Verwendung von biometrischen Körpermerkmalen zur Entschlüsselung von Daten durch einen Abgleich mit den im Endgerät hinterlegten Schlüsselmerkmalen ist deshalb auch vom Wortlaut umfasst (vgl. ebenda; LG Baden-Baden Beschluss vom 26. November 2019 – 2 Qs 147/19; Goers in: BeckOK StPO, 46. Edition, 01.01.2023, § 81b Rn. 4.1).
Der Einwand in der Beschwerdebegründung, aus der Neufassung des § 81b sei zu schließen, dass die Norm den hiesigen Fall gerade nicht regeln soll, findet in den Gesetzgebungsmaterialien keinen Anklang. Die Änderung des § 81b StPO basiert auf der EU-Verordnung 2019/816 vom 17. April 2019, welche eine Verbesserung des europäischen Strafregisterinformationssystems bezweckt (vgl. BT-Drucksache Nr. 149/21 vom 12. Februar 2021). Der unveränderte Absatz 1 wurde um die Absätze 2 bis 5 ergänzt. Die neuen Absätze 2 bis 5 sind für den vorliegenden Fall aber unbedeutend. Aus den Gesetzesmaterialien geht ferner nicht hervor, inwieweit sich der Gesetzgeber gerade Gedanken über den Geltungsbereich des § 81b StPO für die Entsperrung von Mobiltelefonen mittels biometrischer Merkmale gemacht haben soll.
Die Kammer hebt schließlich hervor, dass § 81b Abs. 1 StPO lediglich die Verwendung der festgestellten Fingerabdrücke zur Entsperrung des Mobiltelefons deckt. Davon unterschieden werden muss unweigerlich der Zugriff auf die im Mobiltelefon gespeicherten Daten selbst, welcher nicht mehr von § 81b StPO umfasst ist.
c) Die Abnahme und Verwendung von Fingerabdrücken für das Entsperren des Mobiltelefons ist für Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens notwendig und mithin verhältnismäßig. Insbesondere bleibt das Grundrecht des Beschuldigten auf informationelle Selbstbestimmung hinter dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafrechtspflege zurück.
Das Tatbestandsmerkmal der Notwendigkeit ist zugleich eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Juli 2022 – 2 BvR 54/22; Beschluss vom 8. März 2011 – 1 BvR 47/05). Der Tatverdacht muss sich hinsichtlich derjenigen Straftat ergeben, deren Aufklärung die Maßnahme dienen soll, und sie muss hierzu geeignet und erforderlich sein, indem die damit zu gewinnenden Erkenntnisse für die zu führenden Ermittlungen förderlich sind. (vgl. Trück in: MüKo StPO, 2. Auflage 2023, § 81b Rn. 7; BGH vom 11. Oktober 2018 — 5 BGs 48/18, StV 2020, 145 (146); LG Wuppertal vom 12. Januar 2021 — 24 Qs 10/20, BeckRS 2021, 861).
Das Entsperren des Mobiltelefons soll in einem nachfolgenden Schritt die Erlangung der auf dem Mobiltelefon gespeicherten Daten ermöglichen. Der Zugriff auf die gespeicherten Daten kann in der Regel mit ähnlicher Begründung auf andere StPO-Normen wie etwa § 110 StPO gestützt werden. Das Entsperren des Speichermediums ist mithin ein notwendiges Zwischenziel. Letztlich sind die dadurch erlangten Daten geeignet, den Tatnachweis für den Verdacht des vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu führen. Die Maßnahme ist auch erforderlich, weil eine Entsperrung des Mobiltelefons per Code mangels freiwilliger Herausgabe durch den Beschuldigten und Nicht-Auffindens etwaiger Zugangspasswörter bei der Durchsuchung nicht möglich ist. Ein Zugriff auf die gespeicherten Daten kann unter gewissen Umständen je nach Modell zwar auch auf andere Weise erreicht werden. Ein solches Vorgehen ist jedoch aufgrund des Zeit- und Kostenaufwands nicht gleichermaßen effektiv im Vergleich zur hiesigen Maßnahme.
Die Verwendung der festgestellten Fingerabdrücke ist auch angemessen, da das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund der hier eher geringen Eingriffsintensität hinter dem Interesse der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung zurückbleibt. Bei der Abwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Speicherung der Fingerabdrücke von nur kurzer Dauer ist und der Zweck der Maßnahme mit dem Entsperren des Mobiltelefons erreicht ist. Auch in die Abwägung zu stellen ist der ermöglichte eingriffsintensivere Zugriff auf die gespeicherten Daten, welcher neben dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung auch das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme tangiert. Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass es sich um eine offene Ermittlungsmaßnahme handelt. Dem Beschuldigten wird weiter eine Tat vorgeworfen, die die Grenze eines Bagatelldelikts deutlich übersteigt. Schließlich liegt eine nicht geringe Menge an Betäubungsmitteln vor. Zudem steht der Verdacht des Handelns mit den Marihuana-Zigaretten im Raum, sodass neben dem unrechtmäßigen Erwerb und Besitz ein möglicher Handel als weiteres Unrecht hinzutritt. Beachtlich ins Gewicht fällt ferner der Umstand, dass das Mobiltelefon selbst mit großer Wahrscheinlichkeit ein Tat- und Beweismittel darstellt. Es ist zu erwarten, dass die darauf gespeicherten Daten Auskunft über Bestellvorgänge sowie Kontakte zu Händlern und Abnehmern im Zusammenhang mit den beim Zoll entdeckten Marihuana-Zigaretten geben.
2. Hingegen scheidet § 81a StPO als Rechtsgrundlage aus, weil die Entsperrung eines Datenträgers durch Verwendung biometrischer Merkmale nicht als körperliche Untersuchung verstanden werden kann. Selbst bei Herstellung einer Verbindung zwischen Finger und Mobiltelefon durch direktes Auflegen des Fingers des Beschuldigten auf das Mobiltelefon, fällt nicht in den Bereich des § 81a StPO (vgl. Trück in: MüKo StPO, 2. Auflage 2023, § 81a Rn. 9). Für die Abnahme der Fingerabdrücke mittels Fingerabdrucksensor greift wegen des ausdrücklichen Wortlauts bereits § 81b StPO als Befugnisnorm ein, so dass eine parallele Anwendung oder ein Rückgriff auf § 81a StPO nicht erforderlich ist.“
Dazu kurz – mehr dazu demnächst vom Kollegen Deutscher im StRR:
Mir ist nicht ganz klar, warum das LG, da in der StPO ausdrücklich die Aufnahme von Fingerabdrücken nennt, auf die „ähnlichen Maßnahmen“ abstellt. Zudem führt § 81b StPO als übergreifenden Zweck die „Durchführung des Strafverfahrens“ an und lässt dazu als Mittel die Aufnahme von Fingerabdrücken eben zu. Zudem unterscheidet das LG auch ausdrücklich zwischen der Abnahme von Fingerabdrücken und dem (späteren) Zugriff auf die Daten des Mobiltelefons. Über die Ausführungen zur Verwendung kann man streiten, und zwar sowohl, ob sie hier überhaupt (schon) erforderlich waren als auch inhaltlich.
iPhone:
– Fünf mal hintereinander die obere Taste / Seitentaste drücken. Danach muss der Code eingegeben werden, bevor Fingerabdruck und FaceID wieder funktionieren.
– Den Code können die Behörden übergehen, indem sie alle Möglichkeiten automatisiert durchprobieren. Vielleicht möchte man sein Gerät also so einstellen, dass es nach 10 fehlerhaften Versuchen alle Daten löscht. (Wichtige Daten sollten eh nicht ausschließlich auf dem Handy liegen, sondern zudem in einem Backup, denn das Handy kann kaputt gehen!)
– Die im Notfallpass hinterlegten Kontakte können ohne Entsperren des Gerätes angerufen werden. Mancher mag dort seinen Anwalt hinterlegen, damit einem die Beamten das entsperrte Gerät nicht aus der Hand reißen, während man seinen Rechtsbeistand kontaktiert.
Gilt das jetzt für ganz Deutschland?
Nein, das ist ja kein (neues) Gesetz, an das alle Gerichte gebunden wären. Es kann aber schon sein, dass sich andere Gerichte auf den Beschluss beziehen werden.