StGB I: Heimlich ungeschützter Geschlechtsverkehr, oder: BGH zur Strafbarkeit des „Stealthing“

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Heute stelle ich dann drei StGB-Entscheidungen vor.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 13.12.2022 – 3 StR 372/22 – zur Frage der Strafbarkeit, wenn der Geschlechtsverkehr gegen den erkennbaren Willen des Sexualpartners heimlich ohne Kondom ausgeführt wird. Das ist das sog. „Stealthing“. Über zwei Entscheidungen zu der Problematik hatte ich hier ja auch schon berichetet (vgl. den OLG Schleswig, Urt. v. 19.03.2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21 und den KG, Beschl. v. 27.07.2020 – (4) 161 Ss 48/20 [58/20)]).

Nun hat der BGH Stellung genommen, und zwar:

„Die weitere Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung hat, wie vom Generalbundesanwalt dargelegt, keinen sonstigen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Näherer Ausführungen bedarf allein, dass der Angeklagte sich im Fall II. 3. der Urteilsgründe wegen sexuellen Übergriffs strafbar gemacht hat.

1. Nach den hierzu vom Landgericht getroffenen Feststellungen wollten der Angeklagte und eine Besucherin in seinem Schlafzimmer geschlechtlich verkehren. Nach einvernehmlichem Oralverkehr ging der Angeklagte an eine Kommode, holte sichtbar ein Kondom heraus und öffnete die Verpackung. Ihm kam es darauf an, dass die später Geschädigte davon ausging, er werde es beim Geschlechtsverkehr überziehen. Tatsächlich beließ er es aber ausgepackt und nicht abgerollt im Bett. Da die Besucherin sich kurz umdrehte, sah sie dies nicht und ging davon aus, er werde das Kondom benutzen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr wäre für sie nicht in Frage gekommen. Der Angeklagte führte sodann einige Zeit bewusst ohne Kondom vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr durch. Später bemerkte sie, dass er kein Kondom trug, und verließ schließlich die Wohnung.

2. Die Strafkammer hat das Geschehen zutreffend als sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB gewertet. Stimmt eine Person Geschlechtsverkehr ersichtlich nur unter der Voraussetzung zu, dass dabei ein Kondom genutzt werde, stehen ohne Präservativ vorgenommene sexuelle Handlungen ihrem erkennbaren Willen entgegen.

a) Für die Frage, ob eine sexuelle Handlung dem maßgeblichen Willen zuwiderläuft, kommt es auf die konkret vorgenommene Handlung an (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2018 – 1 StR 546/18, NStZ 2019, 407 Rn. 7; Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 19. März 2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21, NStZ 2021, 619 Rn. 14 ff.; OLG Hamm, Urteil vom 1. März 2022 – III-5 RVs 124/21, NStZ-RR 2022, 276). Ist in Bezug auf diese ersichtlich, dass die betroffene Person sie ablehnt, ist grundsätzlich nicht entscheidend, ob ein Einverständnis mit anderen sexuellen Handlungen besteht. Insoweit stellen Geschlechtsverkehr unter Nutzung eines Kondoms einerseits und ohne ein solches andererseits unterschiedliche sexuelle Handlungen dar.

Der Gebrauch eines Präservativs betrifft die Art und Weise des Sexualvollzugs und führt zu einer anderen qualitativen Bewertung (vgl. Schleswig-Holsteinisches OLG, Urteil vom 19. März 2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21, NStZ 2021, 619 Rn. 17; BayObLG, Beschluss vom 20. August 2021 – 206 StRR 87/21, NStZ-RR 2022, 43, 44; KG, Beschluss vom 27. Juli 2020 – [4] 161 Ss 48/20 [58/20], OLGSt StGB § 177 Nr. 5 S. 5 f.; Camargo, ZStW 2022, 351, 375; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 177 Rn. 18; Schumann/Schefer in Festschrift Kindhäuser, 2019, S. 811, 816; anders dagegen Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 177 Rn. 5). Hierfür spricht insbesondere die generelle Eignung, eine unerwünschte Schwangerschaft oder die Übertragung von Krankheiten zu verhindern. Dass hierdurch die Beurteilung eines sexuellen Kontakts mitgeprägt wird, zeigt sich etwa daran, dass bei Sexualdelikten der Vollzug des Geschlechtsverkehrs ohne Verwendung eines Kondoms bereits nach früherer Rechtslage straferschwerend berücksichtigt werden konnte (s. BGH, Urteil vom 6. Juli 1999 – 1 StR 216/99, NStZ 1999, 505 f.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 – 3 StR 427/18, NStZ 2019, 203 Rn. 9 f.; Urteil vom 14. August 1990 – 1 StR 62/90, BGHSt 37, 153, 155 f.). Die Bedeutung der Prävention gegen sexuell übertragbare Erkrankungen wird überdies dadurch deutlich, dass für den Bereich der Prostitution gemäß § 32 Abs. 1 ProstSchG eine Kondompflicht besteht (s. BT-Drucks. 18/8556 S. 93 f.). Dies ändert nichts daran, dass maßgebliches Rechtsgut des § 177 StGB die sexuelle Selbstbestimmung ist (vgl. BT-Drucks. 18/9097 S. 21; MüKoStGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 177 Rn. 51; anders Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347, 353). Die Heranziehung der genannten Gesichtspunkte erweitert es nicht um Aspekte des Gesundheitsschutzes, sondern unterstreicht lediglich, dass ein qualitativer Unterschied zwischen der von der selbstbestimmungsberechtigten Person konsentierten und der tatsächlich vorgenommenen Sexualpraktik besteht.

b) In der gegebenen Konstellation kann dahinstehen, welche Bedeutung ein etwaiger Irrtum bei der Bildung des – einvernehmlichen oder entgegenstehenden – Willens für die strafrechtliche Bewertung hat. Der Entscheidung der betroffenen Person, keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr zu wollen, liegt grundsätzlich keine Fehlvorstellung zugrunde, wenn der Täter vorspiegelt, diesem Wunsch nachzukommen; denn dadurch ändert sich nichts an der ablehnenden Haltung gegenüber einem Sexualkontakt ohne die Nutzung eines Kondoms (s. etwa KG, Beschluss vom 27. Juli 2020 – [4] 161 Ss 48/20 [58/20], OLGSt StGB § 177 Nr. 5 S. 10 f.; Herzog in Festschrift Fischer, 2018, S. 351, 357; dagegen mit anderem Ansatz Franzke, BRJ 2019, 114, 119 f.; Denzel/Kramer da Fonseca Calixto, KriPoZ 2019, 347, 353). Die Täuschung wirkt sich erst auf anderer Ebene dahin aus, dass die geschädigte Person die von ihr missbilligte sexuelle Handlung geschehen lässt, da sie ihren Bedeutungsgehalt und den Verstoß gegen ihren – ersichtlich fortdauernden – entgegenstehenden Willen nicht erkennt. Dies stellt indes für sich genommen keine Einwilligung in die konkrete sexuelle Handlung, den ungeschützten Geschlechtsverkehr, dar.

c) Ein Rückgriff auf den Tatbestand des § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB, der sexuelle Handlungen unter Ausnutzung eines Überraschungsmoments unter Strafe stellt, scheidet aus, wenn die Tatbestandvoraussetzungen des § 177 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Dieser sanktioniert nach der Konzeption der Neufassung sexuelle Handlungen, mit denen sich der Täter über einen erkennbaren, entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt, wohingegen § 177 Abs. 2 StGB Konstellationen erfassen soll, in denen ein entgegenstehender Wille des Opfers nicht erkennbar ist, weil eine entsprechende Äußerung dem Opfer aus den dort genannten Gründen entweder nicht möglich oder nicht zuzumuten ist. Bezogen auf ein- und denselben Zeitpunkt schließen § 177 Abs. 1 StGB und § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB deshalb einander aus, da § 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB gerade voraussetzt, dass aufgrund der Überraschung kein entgegenstehender Wille, den § 177 Abs. 1 StGB objektiv erkennbar tatbestandsmäßig erfordert, gebildet und rechtzeitig kundgetan werden kann (BGH, Urteil vom 13. Februar 2019 – 2 StR 301/18, BGHSt 64, 55 Rn. 32 f. mwN). Dabei braucht ein entgegenstehender Wille nicht ausdrücklich erklärt zu werden. Eine konkludente Äußerung genügt (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2018 – 1 StR 290/18, NStZ 2019, 717 Rn. 18; BT-Drucks. 18/9097 S. 22 f.).

d) Nach diesen Maßstäben sind den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen die Tatbestandsmerkmale des § 177 Abs. 1 StGB zu entnehmen. Die Geschädigte lehnte in der konkreten Situation ungeschützten Vaginalverkehr ab und ging fest davon aus, dass der Angeklagte das sichtbar hervorgeholte Kondom tatsächlich benutze. Dies war für ihn nach den näher dargelegten Umständen erkennbar, zumal es ihm gerade auf den von ihm herbeigeführten falschen Eindruck ankam.

e) Es bedarf hier keiner Erörterung, dass grundsätzlich die Verwirklichung des Regelbeispiels nach § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB in Betracht kommt (vgl. dazu KG, Beschluss vom 27. Juli 2020 – [4] 161 Ss 48/20 [58/20], OLGSt StGB § 177 Nr. 5 S. 17; BayObLG, Beschluss vom 20. August 2021 – 206 StRR 87/21, juris Rn. 39; Hoffmann, NStZ 2019, 16, 17 f.); denn durch dessen Nichtannahme ist der Angeklagte jedenfalls nicht beschwert.“

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